Album der Woche

King Krule

The Ooz

XL/Beggars/Indigo (VÖ: 13.10.)

Der Londoner Alleskönner krönt sich mit diesem trippigen, elektronisch wabern­den Doom-Pop-Meisterwerk zum König der modernen „rambling men“.

Ein wenig Vouyeurismus ist dem Musikliebhaber eigen. Wenn schon das eigene Leben nicht dramenreich ist, will man wenigstens andere beim Suhlen im Leid belauschen. Wünscht sich Künstler mit Brüchen. Typen, die Schmerzen verhandeln, die man selbst nicht auszuhalten bereit ist. Kaum ein junger Musiker erfüllt die Sehnsucht nach dieser vermeintlichen Authentizität derzeit mit so zeitgemäßen Mitteln wie Archy Marshall, dieses sehr blasse, sehr junge Wunderkind aus London, dessen Stimme, ein Joe-Strummer-Bariton, sich so ganz anders anhört, als seine Erscheinung glauben macht.

Als Marshall mit seinem Debüt als King Krule, 6 FEET BENEATH THE MOON von 2013, zur Stimme seiner Generation auserkoren wurde, war das eine ungewöhnliche Ernennung. Denn Marshall klang uralt und zugleich wie die Zukunft, fusionierte am Laptop Jazz mit HipHop und Dubstep, konnte rappen und croonen zugleich und schlug die Gitarre hart an wie Billy Bragg. Und die Kids hatten den Schmutz im Pop zurück. Überhaupt, Schmutz: Die Faszination für Schweiß, Schnodder, ­Sperma, für all das Getriefe – the ooze –, das der Körper fabriziert, habe Marshall zum Titel für seine neue Platte THE OOZ inspiriert. Ganz so, als wolle er sagen: Ihr wollt Echtheit? Hier suppt sie aus allen Poren.

Weil Marshall zwar ein „angry young man“, aber auch ein Musiknerd ist, gräbt er sich auf THE OOZ nicht einfach durch die Niederungen des Alltags. Nach dem HipHop-betonten Album A New Place 2 Drown, das er unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlichte, klingt der 23-Jährige auf seiner zweiten Platte als King Krule wie der Tom Waits seiner Generation. Eine zeitgemäße Version des „rambling man“, des Rumtreibers, der um die Schönheit des mit Stolz und Absicht Beschädigten weiß. Für seine Rastlosigkeit findet Marshall einen Sound jenseits des Epigonalen: Neo-Soul in Schräglage, Gitarrenpop mit zwielichtigem Twang, Samples, Jazz-Sequenzen und verdrogte Elektro-Psychedelia – klar, auch Hobos sind heute drauf statt besoffen – verwoben zu einem Soundtrack der Zurückgewiesenen, elektronischer flirrend als das Debüt und so apokalyptisch grundrauschend, dass Blurs „Essex Dogs“ winselnd den Schwanz einziehen.

Marshall streift durch ein London, das den Nachtschwärmern keine Liebe schenken mag. Smog hängt über der Stadt, wenn sich der jazzige Opener „Biscuit Town“ aus der Dunkelheit schleicht. „Me and you against this city of parasites. Parasite, paradise, parasite, paradise“, rappt Marshall im Spoken-Words-Stück „Bermondsey Bosom (Right)“, wohl wissend, dass echte Romantik nur aus Komplizentum erwächst. Man  kann die ungesunde Atmos­phäre der Songs als Chiffre für die Lebens- und Lustfeindlichkeit im durchgentrifizierten London deuten: Im Video zur Zähneklapper-Gothicnummer „Dum Surfer“ stehen Marshall und Band als Untote auf der Bühne; die „Ghost Town“, die The Specials in der Thatcher-Arä besangen, ist zur Stadt der Zombies geworden. Auch das rumpelnde „Half Man Half Shark“ klingt wie ein düsterer Nachhall des britischen Indie-Booms der Nullerjahre.

Ohne die sozialkritische Lesart bleibt THE OOZ eine große Studie urbaner Einsamkeit. Die hazy Beats, das Barpiano in „Czech One“, die somnambule Traurigkeit von „(A Slide In) New Drugs“: All das hat man oft, aber lange nicht so hart neben der Spur und zugleich on point gehört wie auf THE OOZ. Marshalls Bockigkeit von einst ist erwachsen geworden und hat irre Kinder bekommen: die Wut, groß und raumgreifend in Songs wie „The Locomotive“, und die lebensmüde Melancholie des Underdogs, der sich mit seiner Rolle auf der Regenseite des Lebens arrangiert hat, zu hören etwa in „Lonely Blue“. Diese Rolle spielt Marshall, der notorische Schulschwänzer und Außenseiter, der mal von sich sagte, als Teen alles und jeden gehasst zu haben, mit einer so großen Autorität, dass wir keine Wahl haben: Wir folgen ihm, hinein in die rauchblaue Nacht.

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