Kommentar

Warum Sidos Gerede über psychische Probleme so schwierig ist


Das Gegenteil von gut ist gut gemeint: Sido spricht in neuen Interviews offen über Drogen, Sucht, psychische Probleme und die Trennung von seiner Ex-Frau. Das ist wichtig und an sich richtig. Zeitpunkt, Wortwahl und geschäftlicher Hintergrund hinterlassen aber mindestens ein Geschmäckle. Ein Kommentar.

Seit Tagen kursieren Schlagzeilen über den erfolgreichen deutschen Rapper Sido. Deren Grundlage: Dem „Spiegel“ hat er ein exklusives Interview gegeben, in dem er offen über Drogen, Absturz, Exzess, die Trennung von seiner Frau Charlotte Würdig und psychische Probleme spricht. Alle darauf basierenden Headlines blasen ins gleiche Horn: „Pillen, Kokain, Sex: Sido spricht über seinen Absturz und die Gründe für sein Ehe-Aus“, titelt etwa der „Stern“, „Aufwachsen ohne Vater: Sido fehlte ein männliches Vorbild“ N-TV, „Nach Drogenbeichte von Sido: Charlotte Würdig unterstützt ihren Ex-Mann“ heißt es bei der Abendzeitung München. Der Berliner „Tagesspiegel“ veröffentlichte am Mittwoch ein eigenes Interview mit der Überschrift Warum sich Paul Würdig für Sido schämt:Ich wollte meinen Kindern was Besseres als diese Scheiße bieten’“. Auch die Süddeutsche Zeitung hat am Freitag ein Interview mit Sido veröffentlicht, in dem der Autor eingangs erklärt, dass der Rapper selbst angeregt habe, über die Themen Sucht, Entzug und Therapie zu sprechen.

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Im ersten Moment scheint dies eine unbedingt begrüßenswerte Entwicklung zu sein: Da spricht jemand offen über psychische Probleme und damit eigene mutmaßliche Schwächen, der aus einer Szene kommt und teilweise noch immer in einer Szene gehört wird, in der vorrangig nichts als Stärke, Sprücheklopferei und Schwanzvergleich zählt. Harte Schale, weicher Kern und so. Die Botschaft gerade an jüngere Menschen könnte teilweise sein: „Moment mal: Wenn selbst Sido mit seinem Leben nicht klarkam – ist es dann vielleicht okay, dass es auch mir nicht gut geht? Kann und sollte ich vielleicht mit anderen Menschen darüber sprechen?“ Das wäre gut und wichtig. Sido ist der berühmteste Popstar in der ersten Liga des Deutschraps. Die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass auch Prominenz nicht vor Sucht und Krankheit schützt, Probleme im Gegenteil oft erst hervorbringt und verstärkt. Avicii, Chris Cornell und Chester Bennington zum Beispiel begingen wegen ihres Leidensdrucks und ihrer fehlenden mentalen Gesundheit Suizid, auch der einstige Kinderstar Aaron Carter starb wahrscheinlich daran (seine Todesursache ist noch nicht offiziell geklärt, dass er unter Sucht und psychischen Problemen litt, gilt aber als gesichert). Sie redeten zu spät oder mit den falschen Leuten über ihr Leid. Umso nachvollziehbarer war es, als etwa Isaac Wood seine gefeierte Newcomer-Band Black Country, New Road kurz vor VÖ ihres zweiten Albums verließ, weil ihm alles zu viel  wurde.

Sidos ehrliche Offenlegung mit Geschmäckle

Im zweiten Moment aber hat Sidos Offenlegung nicht nur einen, sondern gleich drei Geschmäckle. Erstens thematisiert Paul Würdig, wie der einstige Maskenträger Sido mit bürgerlichem Namen heißt, seine Mental Issues wohl kaum zufällig zeitgleich mit Beginn der PR zu seinem neuen, neunten Album PAUL, das als „sein wohl ehrlichstes“ vermarktet wird. Versteht uns nicht falsch: Er darf und soll so viele Platten und Bundles wie möglich verkaufen, es sei ihm weiterhin gegönnt. Aber psychische Probleme als Werbeinstrument zu benutzen, suggeriert, dass Sido, sein Management und/oder seine Plattenfirma genau wissen, dass mit dem Thema Mental Health heutzutage gepunktet werden kann. Sie missbrauchen es dadurch ungefähr so, wie die FIFA, als sie während der WM-Eröffnungszeremonie neben Morgan Freeman den katarischen WM-Botschafter Ghanim Al Muftah, der mit einer Fehlbildung des Rumpfes geboren wurde, auftreten ließ. Sie wollten der Welt zeigen, wie inklusiv sie angeblich denken und handeln. Und das, während eben diese Welt weiß, wieviel beziehungsweise wenig Menschenrechte in Katar in Wahrheit wert sind. Andererseits könnte man argumentieren: Wann, wenn nicht jetzt darüber reden, wo wegen eines neuen Albums das mediale und Fan-Interesse an Sido ohnehin wieder erstarkt und er dadurch maximal viele Leute damit erreichen und dafür sensibilisieren kann?

Zweitens darf und muss man sich wie schon vor Monaten bei Kurt Krömer wundern, wie wenig Zeit zwischen Erkennen, Diagnose, Behandlung und „Genesung“ lagen. Wer Krömers Bestseller „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“ gelesen hat, kam nicht um den Eindruck umhin, dass der Komiker einerseits ehrlich über Alkoholismus und Depressionen spricht, andererseits aber so oberflächlich, als ob er lediglich wegen eines komplizierten Schlüsselbeinbruchs ein paar Wochen länger in die Reha musste. Zack, nach ein paar Monaten war offenbar fast alles wieder gut, Kurti hat sich gefangen, die Shows konnten weitergehen. Ich bin von Depressionen nicht betroffen, glaube aber, dass Betroffene ihre Erkrankung trotz Entstigmatisierung durch eine so öffentliche und reichweitenstarke Person wie Krömer nicht ausreichend ernst genommen sahen und sehen und sich fragen: Warum geht es dem so schnell wieder so gut, warum kommt er klar – und ich noch immer nicht?“ Oder noch viel grundsätzlicher: Wieso kriegt der Promi und Privatpatient so schnell einen Therapieplatz und Hilfe, während ich Monate oder Jahre warten musste?

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Bei Sido wirkt es ganz ähnlich: Durch Kiffen, Koks, Pillen, Sexsucht und Trennung soll er 2020 seinen Tiefpunkt erlebt haben, teilweise öffentlich zu beobachten, als er mit Arafat Abou-Chakers Cousin Ali Bumaye vor laufender Kamera über Verschwörungstheorien und Verständnis für Xavier Naidoo sinnierte. Im Frühjahr 2022 soll, auch dank des Einweise-Supports seiner Ex-Frau und seines alten Freundes Kool Savas, seine psychische Behandlung und der Entzug stattgefunden haben. Das Album PAUL, das am 9. Dezember erscheint, muss also fast zeitgleich oder im direkten Anschluss entstanden sein. Eine Depression oder Narzissmus wurde Würdig von seiner Therapeutin nicht attestiert, erklärte er dem „Spiegel“. Trotzdem entsteht auch hier der Eindruck: Zack, Einweisung, Behandlung, zack again, Entlassung, alles wieder gut! Wir wollen Sido nicht zu nahe treten – müssen beim letzten Punkt aber festhalten, dass er anderen Betroffenen zu nahe tritt. So schwer es auch für ihn gewesen sein mag – so leicht kommen längst nicht alle aus einer solchen Situation heraus.

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Durch seine Wortwahl widerspricht Sido seine eigentlichen Aussage

Drittens: Sidos Wortwahl. Die psychiatrische Einrichtung, in die er eingewiesen wurde oder sich selbst einweisen lies, nennt er „Klapse“. Dies ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Er entwertet dadurch diesen Ort im Speziellen und Aufsuchungen eben solcher Hilfestellen im Allgemeinen. Er stigmatisiert die In-Anspruchnahme psychiatrischer Hilfe als letzte Bastion von geistig Kranken und tut damit das Gegenteil von dem, was er angeblich erreichen will: Er hätte auch direkt „Irrenhaus“ sagen können. Damit entspricht Sido leider wieder dem Rapper-Klischee, dass Sprüche mehr als Inhalte zählten. Und er offenbart damit, dass er kaum derart geläutert sein kann, wie er es behauptet. Ein anderes kursierendes Zitat des vierfachen Vaters, dessen erste neue Single „Versager“ hieß und abwesende Väter thematisiert, schlägt in die gleiche Kerbe: „Manche Väter sind einfach scheiße, glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche, die verkacken so viel, weil die dumm sind. Männer sind leider oft sehr dumm.“ Man versteht, was er sagen will, und natürlich hat er im Kern dort einen validen Punkt. Aber: Andere als dumm zu bezeichnen, zeugt nicht unbedingt von eigener Intelligenz – und wird seinem vielleicht ehrenhaften Anliegen nicht weiterhelfen: Wer beleidigt wird, dürfte die Kritik nicht als konstruktiv annehmen können und sich ändern oder zumindest darüber reden und verstehen wollen. Er wird die Beleidigung erwidern. Ein Teufelskreis, der dem einstigen Straßenrapper Sido durchaus bekannt vorkommen müsste.

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That being said: Es bleibt trotz aller Widersprüche gut und richtig, dass Sido Probleme wie Sucht und Mental Health sowie gesellschaftliche Schieflagen in puncto Erziehung, Gleichberechtigung und toxischer Männlichkeit noch weiter in den Mainstream führt. Dass er sich in seinen Texten schon lange nicht mehr nur mit Beef, Diss, Rumgeprolle und Schwanzvergleich zufrieden gibt. Und dass er, der ja fast alles hat(te), erkennt und weitergibt, dass Statussymbole, Karrierismus und der Versuch, da draußen der Geilste zu sein, nicht das Wichtigste im Leben sind. Wir wünschen Paul Würdig und seiner Familie aufrichtig und ganz unironisch alles Gute und Gesunde im Privaten. Seine Platte PAUL dürfte das kaum nötig haben, der wird es in den Charts, Streamingdiensten und Plattenläden wie ihren Vorgängern so schlecht nicht gehen.

Die Mensch-Maschine: Was über Mental Health im Pop-Business gesagt werden muss

Wer mentale Probleme hat, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits das Sprechen dabei, die Gedanken zumindest vorübergehend auszuräumen. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist oder sich um nahestehende Personen sorgt, kann sich – auch anonym – an die Telefonseelsorge wenden: Sie bietet schnelle Hilfe an und vermittelt Ärzte, Beratungsstellen oder Kliniken unter der Nummer 0800/111 01 11.