Das sind die wichtigsten Songs und größten Hits von 1995
Was beherrschte damals die Charts, welche Trends, neuen Genres und Acts prägten die Zeit?

Diese Tracks zeigen, dass das Pop-Jahr auch jenseits von Oasis eine äußerst spannende Angelegenheit war. Was beherrschte damals die Charts, welche Trends, neuen Genres und Acts prägten die Zeit? Manch einer dieser Songs wirkt sogar bis heute nach.
Everything But The Girl – „Missing“ (Todd Terry Remix)
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 1
Wer das Original von „Missing“ hören will, muss auf YouTube ein bisschen suchen. Angeboten wird einem zuerst einmal der Remix von Todd Terry, der aus einer halberfolgreichen 94er-Single des englischen Duos ein Jahr später einen Welthit machte. Aus dem halb akustischen Elektro-Song wurde House-Pop; wenn Tracey Thorn und Ben Watt das Stück im Fernsehen aufführten, mimten sie zur Todd-Terry-Version. Der Remix schlägt das Original, verdrängt es – und die Acts machen mit, denn sie verdienen gut an diesem Spiel der späteren 90er-Jahre. Was bei „Missing“ funktioniert hat, macht Schule und Chartshits: Armand van Helden führt Tori Amos’ „Professional Widow“ in neue House-Sphären, Fatboy Slim beschleunigt 1998 Cornershops Slackerhymne „Brimful Of Asha“ in Richtung Big Beat, Jason Nevins macht im selben Jahr aus Run D.M.C.s „It’s Like That“ von 1983 pumpenden Techno, und Boris Dlugosch trimmt schließlich Molokos „Sing It Back“ zu dem Dance-Klassiker, der er heute noch ist. Doch die Hörgewohnheiten scheinen sich 20 Jahre später offensichtlich wieder geändert zu haben: Bei Spotify führt die Originalversion von „Missing“ mit weit mehr als doppelt so vielen Streamings als Todd Terrys Bearbeitung die meistgehörten Song von Everything But The Girl an. (Text von André Bosse)
Take That – „Back For Good“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 1
Kein Rückblick auf das Jahr ohne die Bilder von in Tränen aufgelösten Take-That-Fans. Der Abschied von Robbie Williams im Juli 1995: eine Geschichte des Nichtmehrfunktionierens, vom Hinfallen und vom Wiederauf(er)stehen, aber unbedingt auch eine der Selbstbestimmung. Wie eben auch die Tatsache, dass Mitglied Gary Barlow von Anfang an einen Großteil der Songs der Gruppe geschrieben hatte, und wie Take That bald schon mit sich und ihrem Erbe umgehen sollten, davon erzählen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Dass der letzte offizielle Song mit Robbie (und der erfolgreichste der Band überhaupt) ausgerechnet mit den Zeilen „I guess now it’s time for me to give up“ beginnt und sich der Ruf im Refrain nach Wiedervereinigung 15 Jahre später tatsächlich erfüllen sollte: Ein mieser Musical-Writer hätte sich das alles nicht besser ausdenken können. (Text von Oliver Götz)
Alanis Morissette – „You Oughta Know“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: –
Unter dem verkürzten Namen Alanis hat die Kanadierin 1991 und 1992 bereits zwei Bubblegum-Pop-Alben veröffentlicht, die in ihrer Heimat gar nicht übel laufen. Doch Alanis Morissette erkennt, dass es da ein neues Feld gibt zwischen Alternative Rock und Pop, mit großer künstlerischer Freiheit und guten Aussichten auf Erfolg. „You Oughta Know“ ist im Sommer 1995 die erste Veröffentlichung der neuen, vollständigen Alanis Morissette. Der Song hält sich konsequent an die Leitlinien: Rockgitarren, Radiogrooves, sehr präsente Lead-Vocals. „Die Leute wollten, dass ich meine Haare lila färbe, mich piercen lasse und meine Titten zeige“, sagt sie im Interview. Alles dies macht sie nicht, sondern rechnet in „You Oughta Know“ in deutlichen Worten mit ihrem Ex-Lover ab. Viele Kolleginnen sehen in ihrem Richtungswechsel, aber konkret auch in der Botschaft dieses Songs den Durchbruch der gläsernen Decke, gegen die viele Künstlerinnen bis dahin stießen, wenn sie ihre Karriere selbstbestimmt fortführen wollten; Britney Spears, Beyoncé und Taylor Swift (mit Alanis!) werden ihn später covern. (Text von André Bosse)
Vangelis – „Conquest Of Paradise“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 1
Für die Musik des griechischen Prog- und Synthesizer-Pioniers Evangelos Odysseas Papathanassiou hatten sich bis dato nur jene erwärmen können, die sich im Radio-Nachtprogramm im zunehmenden Kitsch seiner oft flachen, auf jeden Fall immer sehr flächigen Stücke verfingen. Und die natürlich, die zu Hause noch ein bisschen in der Atmosphäre von Soundtracks wie denen zu „Blade Runner“ oder „Chariots Of Fire“ baden wollten. Doch eines schicksalhaften Tages untersagten die Nachlassverwalter von Carl Orff dem gesamtdeutschen Kampfsportprofi Henry Maske, weiterhin zur brachialdramatischen „Carmina Burana“ zu seinem Arbeitsplatz zu schreiten. Deshalb schwenkte der um auf das Vangelis-Stück „Conquest Of Paradise“ aus dem wenig bekannten Soundtrack zu Ridley Scotts weniger gelungenen Kolumbus-Filmerzählung „1492 – Die Eroberung des Paradieses“ von 1992. Und nachdem RTL die Weltmeister-Kämpfe des „Gentleman-Boxers“ inzwischen zur Quotenrakete hochspektakelt hatte, wurde der zuerst mönchig-mulchige, dann heiligst strahlende Bolero zur regelmäßigen Erregungs-Hymne in deutschen Wohnzimmern und walzte sich genauso unbeirrbar wie die zweibeinige Führhand-Festung aus Frankfurt/Oder bis an die Spitze der Single- Charts, wo er sich elf Wochen lang aller Angriffe von fiesen Gegnern wie den Rednex erwehrte. Mag die Liebe der Deutschen zum Alten-Gemäuer-Pop und Kitsch aus der Gruft dank des Erfolgs von Enigma bis Enya und Compact Discs vollbetenden Kutten-Gregorianern sich zu diesem Zeitpunkt schon deutlich manifestiert haben, mag man sich dennoch nicht so genau vorstellen, welche Soundtrack-Anwendungen die 1,5 Millionen abgesetzten Singles bei all den Leuten fanden. Nur so viel weiß man: Sie heirateten dazu – in Massen. (Text von Oliver Götz)
Tocotronic – „Freiburg“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: –
Drei schnoddrige, neunmalkluge und zehnmalromantische angehende Studienabbrecher aus der neuen deutschen Rockmusikhauptstadt Hamburg haben von der Grunge-Revolution so dermaßen eine mitbekommen („Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“), dass sie selbst zum Strominstrument greifen, um ihr so breites wie nuanciertes Nichteinverstandensein zu erklären. Dynamik, Handwerk, Proben sind dabei absolut zweitranging – Verstärkung, Haltung, Wie-man-sich-fühlt alles. Und Jahre bevor über das Schlagwort „Gentrifizierung“ auch dahingehend diskutiert wird, dass man selbst als Bettel-Kreativer wohl Mitschuld trägt an dem Schlamassel, kriegt der kleinstädtische Einheits(brei)gedanke, vor dem man geflohen kam, mit dieser Nicht-Hymne eine Breitseite, von der er sich eigentlich nie mehr hätte erholen dürfen. (Text von Oliver Götz)
The Cardigans – „Carnival“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: –
Man fühlte sich ertappt, als Jarvis Cocker von Pulp auf dem letzten Stück des 98er-Albums THIS IS HARDCORE die Abschiedsformel der Dekade singt: „Irony is over, bye, bye.“ The Cardigans bleiben zwar noch ein paar Jahre (und wir hätten sie gerne auch mal wieder!), aber die Art, wie man sich 1995 zu diesem unwiderstehlichen „Carnival“ bewegt, mit diesen noch von der Tanzschule bekannten Schrittkombinationen, die man dann mit schief-stolzem Grinsen im Gesicht in der Indie-Disco aufführt – die verschwindet spätestens 1998. Es gibt 1995 Läden, in denen zelebrieren DJs eine „ironische halbe Stunde“, da laufen dann auch „Wonderwall“ in der Version von The Mike Flowers Pops, Tom Jones und Tony Christie und andere neu entdeckte Klassiker des sogenannten „Easy Listening“. Halb persifliert man die Partykeller-Vergangenheit der Eltern, halb suhlt man sich in der Pseudo-Flauschigkeit dieser Muzak-Petitessen. Dass die Cardigans auf ihrem Durchbruchalbum LIFE zuckersüß „Sabbath Bloody Sabbath“ von Black Sabbath covern, führt für einen Moment auf die falsche Fährte, doch das nachfolgende Album FIRST BAND ON THE MOON stellte 1996 klar: The Cardigans funktionieren auch ohne Ironie. (Text von André Bosse)
The Offspring – „Self Esteem“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 4
Zwei robuste Punkrock-Platten haut die Band aus dem Orange County 1989 und 1992 raus, die jedoch außerhalb der südkalifornischen Skatepunk-Szene niemanden interessieren. Dass das nicht so bleiben muss, zeigen die massiven Erfolge von Bands wie Green Day oder Rancid, die sich als Szenegrößen einen Platz im Mainstream erkämpfen. The Offspring haben allerdings den Nachteil, dass sie nicht einmal innerhalb ihrer Peergroup viele Bewunderer haben. Doch dann kassiert die Band (vorübergehend) ihr „The“ ein und schreibt mit „Self Esteem“ einen Reißbrett-Rocker, der sich bis zum Ende nicht entscheiden will, ob er „Smells Like Teen Spirit“ nun verarscht oder huldigt. Im Windschatten dieses Top-Ten-Hits wird auch das Album SMASH zum Welterfolg. Bis dahin hat keine Indie-Veröffentlichung mehr Einheiten verkauft: mehr als elf Millionen. Die Band, deren Gitarrist Noodles heißt, ist bis heute ein häufig gebuchter Gast auf weniger geschmackssicher zusammengesetzten Festivals. Und Sänger Dexter Holland vertreibt seit einigen Jahren seine eigene Barbecue-Sauce. Sie heißt „Gringo Bandito“. (Text von André Bosse)
Pulp – „Common People“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 77
Ob „NME“-Jury, „Rolling Stone“-Leser oder BBC-6-Hörer: Immer wieder wird Pulps vielleicht stärkster, auf jeden Fall erfolgreichster Song als beste „Britpop“-Hymne überhaupt gekürt. Dabei distanzierte sich die Gruppe aus Sheffield aus gutem Grund schon früh von dem ganzen „Cool Britannia“-Zirkus; und dieses Lied erklärt auch indirekt, warum: Das Klassenbewusstsein von Pulp ist weder mit dem eher stumpfen Working-Class-Stolz der Gallaghers vereinbar, noch sind sie mit der spielerisch-spöttischen Gesellschaftsschau von Blur einverstanden. Und an dem Wiederaufbrühen alter britischen Rockismen schon gleich gar nicht interessiert. Also wirbelt und furort sich „Common People“ zur einer Hymne von tatsächlich different class hoch, schafft das seltene Kunststück, musikalisch alle (auf der Tanzfläche) zu vereinen und uns gleichzeitig ins Bewusstsein zu hämmern, dass zwischen Arm und Reich ein kaum kittbarer Spalt klafft, der einmal von oben nach unten durch die ganze Welt verläuft. (Text von Oliver Götz)
Edwyn Collins – „A Girl Like You“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 3
Edwyn Collins traut sich diesen Hit zunächst selbst nicht zu. Er steht schon kurz davor, sein zweifelsohne sehr eingängiges Stück mit dem besonderen 60s-Twang, der perfekt zur immer noch laufenden „Pulp Fiction“-Manie passt, an Iggy Pop weiterzugeben, damit der es in den USA zur Erfolgssingle machen kann. Doch dann überholen ihn die Ereignisse: Die damals noch ungebrochene Macht des Radio-Airplays zeigt Wirkung und schickt Collins’ eigene Version in mehr als einem Dutzend Länder in die Top Ten der Single-Charts. Edwyn Collins, bis dahin mit und auch ohne seine Band Orange Juice ein Indie-Gott, wird plötzlich zum One-Hit-Wonder erklärt. Dass ein Act, der sich eigentlich gar nicht nach den Single-Charts streckt, plötzlich nach oben gespült wird, ist in den Neunzigern allerdings nichts Ungewöhnliches. Zeitzeugen werden Bandnamen wie The Connells, Crash Test Dummies oder Fools Garden niemals vergessen. (Text von André Bosse)
Goldie – „Inner City Life“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: –
Die Aufregung um den neuen UK-Tanzsound Drum’n’Bass war für Leute, die keinen entsprechenden Kellerclub mit Kühltruhen großen Bassboxen in ihrer Nachbarschaft hatten, nur sehr theoretisch nachvollziehbar. Doch mit 4 Hero, LTJ Bukem, A Guy Called Gerald und vor allem: Goldie wagten sich Genre-Künstler nun auch ans Albumformat und ließen in Entsprechung zum sogenannten „Intelligenten Techno“ ihre Breakbeats längere Spannungsbögen entlangrattern. Goldies „Inner City Life“ war das größte Versprechen dieses Trends. Selbst/Gerade in der 21-minütigen Albumfassung hielt und trug seine Dramaturgie und machte das Stück dank orchestraler Textur und Diane Charlemagnes Soul-Vocals zu einer atmosphärisch beeindruckenden Reise, wie man sie im Bereich Dance Music gar nicht für möglich gehalten hatte. Auch wenn es für eine „Ghetto-Blues-Ballade“ (vgl. Marvin Gayes „Inner City Blues“) inhaltlich ein wenig dünn ausfiel und Drum’n’Bass schließlich doch keine Zukunft als langlebiges Kopfhörer-Format beschert war: „Inner City Life“ bleibt ein Klassiker. (Text von Oliver Götz)
TLC –„Waterfalls“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 5
Der größte Hit von TLC, die vor allem in den USA ein unglaubliches Erfolgsjahr erleben, ist ein Meilenstein auf dem Weg dahin, R’n’B auch in Deutschland und nicht zuletzt beim eher rockfixierten Publikum endlich ernst zu nehmen. Das Problem war bis dato wohlgemerkt nicht die Qualität der Songs, sondern die Ignoranz gegenüber eines Genres, das sich ab Anfang der 90er-Jahre auch inhaltlich enorm weiterentwickelt hat. „Waterfalls“ ist dafür ein perfektes Beispiel. Läuft das Stück im Radio, imponiert seine Eleganz. Doch worüber singen TLC hier?! „Another body laying cold in the gutter“? Der Song handelt von AIDS, Drogen und Untreue, vor allem die HIV-Thematik ist der Band wichtig, da es 1995 zu verstärkten Ausbrüchen kommt. Das Video visualisiert sehr direkt Sex ohne Kondom bei einem One-Night-Stand. Aufklärung und diese ungeheure Smoothness – fließen in „Waterfalls“ ganz selbstverständlich zusammen. (Text von André Bosse)
The Beatles – „Free As A Bird“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 37
Zwei Dinge waren notwendig, ein neues Beatles-Stück 25 Jahre nach deren Auflösung und 15 Jahre nach dem Mord an John Lennon entstehen zu lassen: Yoko Ono musste etwas Unveröffentlichtes aus Lennons Archiv herausrücken und die technischen Voraussetzungen mussten gegeben sein, daraus was Vorspielbares zu machen. Im Februar 1994 war beides der Fall. Paul, George und Ringo bespielten und besangen und produzierten mit Hilfe von Jeff Lynne Johns digital bearbeitetes Demo zu „Free As A Bird“ aus dem Jahr 1977 fertig aus. Das Ergebnis klang auch genau so: wie ein okay-schluffiger Lennon-Song, sanft aufgemotzt durch den typischen Lynne-Sound, hinlänglich bekannt durch die Traveling Wilburys usw. Künstlerisch also eher überflüssig, aber 1995 dennoch ein echtes Radiopremieren-Ereignis. Es lenkte jede Menge Aufmerksamkeit auf das enorm erfolgreiche Doku-Projekt ANTHOLOGY und gab dem Publikum außerdem eine ziemlich konkrete Idee davon, was in Zukunft noch alles möglich gemacht werden wird, um tote Legenden zum Wohle des Marktes noch ein wenig zucken zu lassen. (Text von Oliver Götz)
Coolio – „Gangsta’s Paradise“
Höchste Chartsplatzierung in Deutschland: 1
Tatsache: Der „Gangster“ war vor 25 Jahren noch kein das Rap-Game dominierender Player, sondern eine Figur unter einigen. Gerade aus deutscher Perspektive wirkte HipHop unter dem Eindruck weißer Spaßtexter wie Fanta 4 sowie den so regelmäßigen wie egalen Gastrap-Auftritten in Diskotheken-Hits zudem immer noch wie eine eher episodische Pop-Schrulle. Dieser eine, allerdings enorme Hit (allein fünf Millionen verkaufte Singles in USA/UK/BRD!) von Rapper Coolio aus Compton taugte sicherlich nicht dazu, dieses Bild von einem Tag auf den anderen zu ändern. Aber die deutsche Charts-Einführung des Gangstas durch diesen Song, mit seinem Text über die Ausweglosigkeit des Ganglebens als Soundtrack für einen (sozialkitschigen Klischee-)Film über eine natürlich weiße Lehrerin (Michelle Pfeiffer), die gegen solche Kriminalität an ihrer Schule/um ihre Schüler kämpft, hätte wohl kaum plakativer ausfallen können. (Und die Melodie des Refrains nicht einprägsamer, Mister Wonder!) (Text von Oliver Götz)