Popkolumne, Folge 239

Traurig, geilomatik und kackendreist: Paula zu Besuch bei „90er Live“


Paula Irmschler hat bei „90er Live“ Blümchen, Reel 2 Reel und La Bouche live erlebt – und will sofort wieder zurück.

„Hast du noch eine Tattookette?“ Wenn man so eine Nachricht von der Freundin bekommt, weiß man, man ist unterwegs zur 90ER LIVE PARTY SUPER SHOW. Ein Event, das eigentlich nur „90er Live“ heißt, seit Jahren hüben wie drüben im Land stattfindet und allen 90er-Retrobegeisterten die alten Heinis nochmal auf die Bühne stellt. Natürlich hatte ich zufällig noch eine weitere Tattookette um den Arm, also konnte das Vorhaben vonstattengehen. Ab zur Rennbahn Hoppegarten am Rande von Berlin.

Zum Inventar der Partyreihe gehören 2 Unlimited, Ace of Base, Alex Christensen, Aqua, ATC, Blümchen, C+C, Captain Hollywood Project, Caught in the Act, Culture Beat, DJ Sash!, Double You, Dr. Alban, East 17, Eiffel 65, Haddaway, Londonbeat, Lutricia McNeal, Masterboy, Mr. President, No Mercy, Oli.P, Rednex, Reel 2 Real, Snap!, Turbo B., Vengaboys und Whigfield. Für Berlin angekündigt waren ein paar davon, unter anderem die Vengaboys und Oli P., Gründe genug für uns, da einzureiten. Doch ein paar Wochen vorher zeichnete sich in den sozialen Medien bereits ab, dass es wahrscheinlich anders kommen würde.

Beworben wurde auf den „90er Live“-Kanälen fast nur das am gleichen Tag stattfindende Event in Oberhausen. Wir Berlingänger:innen dursteten derweil nach einem Timetable, der drei Tage vor der Sause endlich rausgegeben, für sogenannte Ernüchterung sorgte. Keine Vengaboys, kein Oli P., dafür Caught in the Act und Blümchen, dazwischen wenig. Hä, wie soll das denn sieben Stunden füllen?

Meanwhile sollten in Oberhausen quasi ALLE auftreten? Ist das etwa fair? Music is what I’m living for, ja sichi, aber doch nicht für so wenig!!!

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Das Trauerspiel im Vergleich (beide (!) ersten Bilder zeigen den Spaß in Oberhausen, in der dritten Grafik geht es um Berlin) … Das ist doch blanker Hohn!

Wir Betroffene waren uns sicher: Da haben sie was verbaselt. Wurde die Veranstaltung in Berlin zu oft verschoben (wurde sie nämlich), sodass verpeilt wurde, dass es mit Oberhausen eine Doppelbuchung gab? Würde es der reinste Scam sein? Das deutsche Fyre Festival? Kriegen wir unser Geld wieder? Würden doch noch ein paar oder zehn Überraschungen kommen?

Ja, manche hatten sogar V.I.P.-Tickets … So sah es da aus:

Aber warum gehe ich überhaupt zu sowas? Ich erinnere mich gut, in den Nullern hätte man mich mit sowas jagen können, in den 10ern sogar ganz vom Kontinent. Nach der Jahrtausendwende traten 90s-Acts ständig irgendwo for free auf und es war total cringe, auch wie sich unsere älteren Geschwister und ihre Freund:innen dabei benahmen. Ist es jetzt die Kindheit, die verklärt werden will? Ist oder war es Corona? Der Retrowahn gegenüber allen Jahrzehnten? Ist es die vermeintliche Unbeschwertheit dieser Zeit, das betont Unpolitische? Oder ist es nur der reine Spaß an party balla balla und alarma saufi rein ins Maul? Ja.

Wir waren also da. Und erstmal war es schön, wie luftig das Gelände Hoppegarten anmutete. Viele sind wohl nicht gekommen, es war auch locker nicht ausverkauft. Man latschte durch ein paar Buden – Döner, Bratwurst, Bier, Cocktails, Lutscheis mit Wodka. Alles war sogar noch teurer, obwohl es sonst ja aktuell schon teuer wie Hund ist. Dann erschien uns die Bühne, auf der gerade Caught in the Act am singen and dancen waren. Ultrasüß und voller Bock spielten sie an diesem Nachmittag eigene Hits und die von Kolleg*innen, so auch von den Backstreet Boys, *NSYNC oder den Spice Girls – alles recht erfolgreiche Leute, also dementsprechend nicht im Repertoire der 90er Live Shows.

Wir sahen uns um: Überall normale Leute, normale Figuren, normale Klamotten, normale Gesichter. Wie damals, wirklich authentisch. Das hippe Berlin blieb fast gänzlich weg. Es dominierten die lustigen Sprüche-T-Shirts und rätselhaften Tattoos. Teilweise sehr rätselhaft … Manchmal hätten sie gern rätselhafter sein können. Wir guckten die ganze Zeit, ob neben uns nicht doch zufällig ein Nazi stand, aber meistens konnten wir das mit „Puh, nein, doch nicht“ beantworten, zumindest was das Erscheinungsbild anging. Es waren definitiv einige da und damit war es dann also wirklich wie in meiner Kindheit. Es war vor allem lange nicht so queer wie die 90er heute oft verklärt werden. Knutschende gleichgeschlechtliche Paare mit neonfarbenen Stulpenhänden sah man nur sehr vereinzelt, fast immer begleitet von Blicken. Ein paar Student:innen waren ironisch da, ihnen wurde aber nicht allzu viel geboten.

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Denn im Grunde jagte nach Caught in the Act jetzt nicht unbedingt ein Highlight das nächste. So süß wurde es nimmermehr. Snap! war sehr unangenehm – ein alter Typ plus sexualisierte Frau ohne Namen, die Lipsync machen musste. Dafür waren La Bouche lieb und hatten Spaß, die Sängerin Sophie Cairo performte voll gut, sie huldigten dem 2001 verstorbenen Mitglied Melanie Thornton. Während Reel 2 Reel waren wir im Rewe. Man musste sich ein bisschen vom Gelände rauslügen, damit einem Wiedereintritt gewährt wurde. Eine Frau sagte, sie sei histaminunverträglich und da gäbe es nichts zu Essen für sie vor Ort. Der Security schlug sein Gesicht in seine Hände und ließ sie dann ziehen. Hier kamen die Generationen wirklich zusammen. Als wir wieder da waren, lief da noch drei mal „I Like to Move It Move It!“ von ebenjenen Reel 2 Reel, dann hieß es warten auf Blümchen, die ja von Oberhausen noch rüberfahren oder fliegen musste.

Zwischen all den wenigen Auftritten gab es ewige DJ-Einlagen von Männern, ich vermute Jahrmarkt- oder Bierkönig-erprobt. Sie quatschen viel dazwischen, endeten abrupt, an einer Stelle schrie einer wirklich „Abfahrt!!!“ Bei Lars Eidinger ist es ja auch nicht anders. Auch wie in den 90ern lag der Fokus an diesem Samstag auf dem Medium Radio. Es gab Radiogewinnspiele und Radiowünsche und Radiomoderator:innen, die dachten sie seien Superstars. Hach … Ein weiterer Werbepartner war Kleiner Feigling, weshalb man nach mindestens zwei Stunden durch tausende Fläschlein watete. Ich wünschte, ich wäre wieder da …
Doch dann endlich Auftritt Blümchen! Alle rasteten aus, einer rechts neben mir schrie sogar „Du geile Fotze!“ Wenigstens guckten da alle böse und er schien sich zu schämen … Naja. Blümchen machte mit ihren Mitte 40 auf derbe niedlich, knirschte mit ihrer Stimme, sprach von Liebe und Mond und Sternen und Gefühl und wir fanden das alle komplett normal. Es wäre eine geile Show gewesen, wenn sie nicht so kurz gewesen wäre, aber wer weiß, vielleicht musste sie direkt weiter nach, wer weiß … Gelsenkirchen, Zwickau, Ulm oder was.

Blümchen live
Blümchen live

Am Ende hat es sich so angefühlt, als hätte man für den Besuch eines Stadtfestes bezahlt. Aber womöglich war auch die einzelne Veranstaltung das Problem, wir denken an Oberhausen … Vielleicht war das auch gar nicht das ECHTE 90er-Live-Erlebnis? Bei meinen Recherchen stieß ich darauf, dass es mehrere 90er-Live-Shows gibt, unter unterschiedlichen Namen, in unterschiedlichen Gewändern. „90er Live“, „90er Show“, „90er Olymp“ und so weiter und sofort. Jetzt freue ich mich dementsprechend auf „SUNSHINE LIVE DIE 90ER LIVE ON STAGE“ im November in … oh Gott, in Mannheim. ABFAHRT.

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