Kolumne

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 11: MISS BRAUCH 2021


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 11, in der sich Julia Friese mit dem Begriff „toxisch“ auseinandersetzt.

Drei Beobachtungen:

1. pop macht missbrauch, missbrauch macht pop

„Blaue Frau“ heißt der Roman von Antje Rávik Strubel, der in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis erhalten hat. Er handelt von Missbrauch. Davon, wie er verwebt ist in das Leben einer Frau. Die beiden maßgeblich von Popmusik getragenen Filme des Jahres – das Sparks-Musical „Annette“ und Emerald Fennells „Promising Young Woman“ – handeln ebenfalls von Missbrauch. Davon, wie er entsteht – auch durch Sehnsuchtsbilder, die der Pop uns vorlebt.

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„Promising Young Woman“ verkehrt die Romcom-Prämisse: „Frau wird erst glücklich, sobald ein Mann in ihr Leben tritt“ in ihr Gegenteil. Alle Männer, die in das Leben der Protagonistin treten, sind gefährlich. Toxisch sagt man heute. Kostüme und Kulissen des Films erinnern an frühe Britney-Videos.

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„Annette“ arbeitet sich an Star-Stereotypen ab. Da ist der männliche Comedian. Er geht im Bademantel auf die Bühne, ist völlig unmöglich – und genau dafür liebt ihn das Publikum. Denn stellvertretend für sie lotet er die eigenen Abgründe aus. Sein weibliches Gegenstück ist die Opernsängerin. Sie ist schön, singt schön und muss jeden Abend auf der Bühne schön sterben. Weil das das maximale Drama bedeutet: eine schöne, weiße Frau stirbt.

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Als im August die schöne, weiße – und bis dato völlig unbekannte – Gabby Petito in den USA ermordet wird, interessiert das die ganze westliche Medienwelt. Frauen sieht das Publikum gern leiden. Männer werden für ihre Schlechtigkeit verehrt. Erst seit #MeToo – so heißt es – werden unsere toxischen Vorlieben „Bad Boy“ und „Tragische Schönheit“ zunehmend hinterfragt.

2. toxisch

Reframing bedeutet, Althergebrachtes in einem neuen Kontext zu sehen. „Promising Young Woman“ etwa reframet seinen eigenen Soundtrack. Lässt die Blasen des Bubblegum-Pop platzen. Wenn Charli XCX singt, dass sie an nichts anderes denken kann als an „Boys“, klingt das im Vergewaltigungs-Kontext des Films nicht mehr nach Leichtsinn, sondern nach Trauma. Ähnlich wie die verzerrte Streicherversion von Britney Spears’ „Toxic“.

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Früher Feelgood-Pop, heute schaudert es einem allein schon beim Titel. „Toxisch“ – das Adjektiv der Stunde. Man spricht vom toxischen Arbeitsumfeld, von toxischen Eltern. Und toxisch ist natürlich auch der Umgang mit Spears selbst. In diesem Jahr sind etliche Dokus darüber erschienen, wie ihre Familie das Vormundschaftsverhältnis missbraucht hat. Doch nun scheinen – so regt Spears auf ihrem Instagram-Account an – auch diese den Missbrauch aufdeckenden Dokus auf eine Art toxisch zu sein. Denn Spears will ihre Geschichte selber erzählen. So wie sie war. Andere sollen aufhören, mit ihrem Leid Geld zu machen.

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3. männer ciao

Dieses Jahr hat der US-„Rolling Stone“ bei der Aktualisierung seiner Liste der „500 Greatest Songs Of All Time“ erstmalig eine Künstlerin auf 1 gesetzt: Aretha Franklin mit „Respect“. Nach dem Song, der zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung wurde, ist auch das Franklin-Biopic, das gerade in den Kinos angelaufen ist, benannt. „Respect“ ist ein von Musik getragener Film, der eine Missbrauchsgeschichte erzählt. Man sieht Franklin, wie sie als Kind vergewaltigt wird. Sieht, wie sie von Männern – Vater, Ehemann, Manager – unterjocht wird, und wie sie dann AMAZING GRACE aufnimmt, das Gospel-Album, mit dem sie sich von der Meinung der Männer um sich herum befreit hat.

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Im Abspann des Films sieht man die echte Franklin „(You Make Me Feel Like A) Natural Woman“ singen, im Kennedy Center. Man sieht, wie Präsident Obama sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischt. „Blond“ heißt der Roman von Joyce Carol Oates, der die Geschichte einer anderen berühmten Künstlerin erzählt, die ebenfalls mal für einen Präsidenten sang. Oates erzählt die Geschichte dieser sehr berühmten Frau als eine 1022 Seiten lange Aneinanderreihung von Missbrauchserfahrungen. Jeder Mann, der in das Leben der Protagonistin tritt, ist toxisch. „Blond“ erschien 2000. Dieses Jahr wurde es neu aufgelegt.

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Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 01/2022.