Dead Kennedys

Fresh Fruit For Rotting Vegetables (2022 Mix)

Cherry Red Records (VÖ: 30.9.)

Punk: Raus mit all der Wut, ohne Rücksicht auf Verluste. Die renovierte Neuauflage des Klassikers von 1980.

Wer hat’s erfunden? Die amerikanische Musikpresse zeigte sich Ende der Siebzigerjahre gelinde gesagt irritiert, dass der Punk, den Sex Pistols sei Dank, als vornehmlich britisches Phänomen wahrgenommen wurde. Zweifel an dieser Lesart waren durchaus berechtigt, denn gleichermaßen unbedarft wie aggressiv drauflos rockende DIY-Garagen-Bands existierten in den USA bereits seit Mitte der Sechziger, und selbst, wenn man den Rahmen enger fasst, waren Iggy & The Stooges oder die Ramones definitiv früher dran als Malcolm McLarens böse Buben.

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Nur war selbiger in Marketingfragen eben deutlich ausgebuffter, zudem wohnte der „Anarchy In The U.K.“ zweifellos mehr politische Sprengkraft inne als dem eher hedonistischen „Now I Wanna Sniff Some Glue“ der Ramones. Ersetzte man „Glue“ durch „Coke“, war man nämlich ganz schnell wieder beim real existierenden US-Mainstream der Eagles oder Fleetwood Macs angekommen – die Ramones boten Eskapismus also lediglich zu volkstümlicheren Preisen. Sich wie Johnny Rotten als augenrollender Antichrist, Nihilist und Systemverächter auszuleben, hatte da schon ein anderes Kaliber. Und war, anders als es McLaren bisweilen unterstellt wurde, weit mehr als ein kalkulierter Affront. Die Wut war echt.

Jello Biafra beendete alle sozialen Verwerfungen mit sarkastischer Radikalität

Dass sie auch universell war, bewies 1980 ausgerechnet eine Band aus dem eher idyllischen und wohlhabenden San Francisco, jener einstigen Hippie-Hochburg, in der sich „sun“ gefälligst auf „fun“ zu reimen hatte. Nur waren Teile der dort traditionell heimischen Gegenkultur mittlerweile nicht weniger desillusioniert als Johnny Rotten, weit entfernt im verregneten Königreich, und die Gründe glichen sich: Hier wie dort vollzogen sich damals politische Rollbacks. Die bunten, liberalen Siebziger schienen vorbei, das soziale Klima wurde merklich rauer. Zumindest für jene, die eher mit Plastik- denn Silberlöffeln zu dinieren pflegten.

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Die Dead Kennedys, zwei Jahre zuvor gegründet, zündeten auf ihrem Debüt FRESH FRUIT FOR ROTTING VEGETABLES die entsprechenden Bomben, in „Kill The Poor“ beendete Sänger und Texter Jello Biafra alle sozialen Verwerfungen mit sarkastischer Radikalität, auf dass all die armen Schlucker auch wirklich niemandem mehr auf der Tasche liegen. „Let’s Lynch The Landlord“
könnte hierzulande als Aufforderung zu einer Straftat gewertet werden, zumal Jello Biafra nicht ansatzweise den Eindruck erweckt, um Deeskalation bemüht zu sein. Dabei wären das abgestellte Wasser, die außer Betrieb gesetzte Heizung und die Kakerlaken „bis zum Knie“ doch eher ein Fall für den Mieterschutzbund.

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Aber: andere Länder, andere Sitten. „Holiday In Cambodia“ befasst sich mit einstigen US-Bombardements und der erst kurz zuvor beendeten Schreckensherrschaft der Roten Khmer, während „California über alles“-Gouverneur Jerry Brown der Errichtung einer Art Hippie-Diktatur verdächtigt wird. Ein Jahr später folgte allerdings das Remake „We’ve Got A Bigger Problem Now“, adressiert an Ronald Reagan, und Biafra gab zu, sich in Brown dann doch geirrt zu haben. Jugendlicher Überschwang eben, absolut verzeihlich.

Rätsel gibt vor allem der finale Track des Albums auf

Apropos: Das hektische „Drug Me“ kommt mit seinen stetigen Wechseln dem Begriff Prog-Punk verdächtig nahe, während der Stakkato-Gesang auf „Chemical Warfare“ auch mal in einen Walzer mündet und zwischendurch ins Chaos abdriftet. „Ill In The
Head“ schließlich tangiert mit seinen atonalen, in sich verwobenen Läufen das weite Feld dessen, was man Avantgarde nennen kann – und ist musikalisch denkbar weit entfernt vom schlichten Rock’n’Roll der Sex Pistols. Frank Zappa fand das sicher gut.

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Rätsel gibt aber vor allem der finale Track des Albums auf: Vermutlich sollte das Remake von Elvis Presleys „Viva Las Vegas“ nach all den Songs über aufgeknüpfte Miethaie oder chemische Kampfstoffe, mit denen sich die Honoratioren im Golfclub meucheln lassen, FRESH FRUIT FOR ROTTING VEGETABLES einen versöhnlichen, augenzwinkernden Abschluss geben. Vielleicht dachte die Band auch nur an Sid Vicious und seine Version von Sinatras „My Way“ – aber so richtig zünden will dieser Gag bis heute nicht.

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Egal. Das Album ist dennoch ein perfektes Zeitdokument jener Ära, als in der Rockmusik Schluss mit lustig war und die Bösartigkeit der Welt erstmals mit gleicher Münze heimgezahlt wurde. Die Zeit des relativistischen Drum-herum-Redens, der „poetischen Aufarbeitung“, des trotz aller Widrigkeiten positiven Blicks in die Zukunft war vorbei, hier wurde Tacheles geredet, nicht frei von Polemik aber gerade deshalb so unterhaltsam. FRESH FRUIT FOR ROTTING VEGETABLES – 2022 MIX erscheint als klanglich entstaubte LP, CD und als Stream.