Hitparaden-Kolumne

Warum Wincent Weiss der neue Goldjunge der linksliberalen Mittelschicht ist


Wincent Weiss ist die neue irritationsmomentfreie Lichtgestalt für die liberale Mittelschicht.

Alle paar Jahre, so das Gesetz, muss es in Deutschland einen neuen Popstar geben, der aussieht, als hätte er bei den Bundesjugendspielen stets die Ehrenurkunde geholt – und nach Schulschluss den Omis dieser Welt die Einkaufstüten nach Hause getragen. Mal heißen sie Johannes, mal Tim oder Philipp, immer klingen sie funky wie ein Freitagabend mit Erdnusslocken, den Eltern und den „Dreisten drei“.

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Der neue Goldjunge hört nun auf den sanften Namen Wincent Weiss, und seine Vita liest sich für Distinktionsbürger recht betrüblich: Berühmt wurde er Mitte der Zehnerjahre durch einen Remix der Herrentags-DJs Gestört aber Geil, zuletzt drehte er ein Musikvideo mit Kai Pflaume. Zuletzt ist der 28-jährige Ex-DSDS-Kandidat mit seinem Album VIELLEICHT IRGENDWANN auf Platz 1 der Charts eingestiegen, und es klingt so wie der Titel: maximal konsensfähig, maximal egal.

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Lieber Erdnussflips mit Wincent als Grapefruit mit Julia

Nun hat den Typus „Deutschpoet“, die keim- und irritationsmomentfreie Lichtgestalt für die freundliche, linksliberale Mittelschicht, ja schon Jan Böhmermann (die andere Lichtgestalt der freundlichen, linksliberalen Mittelschicht) mit „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ vor einem halben Jahrzehnt so gründlich verarscht, dass es so öde wie überflüssig ist, den nächsten sensiblen Popschlagerboy abzuwatschen.

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Also mal anders gefragt: Was kann Weiss, was Johannes, Tim oder Philipp nicht können? Auf den ersten Blick: wenig. Auf den zweiten ist sein Song „Wie es mal war“ gar nicht so verkehrt. In dem verarbeitet Weiss, wie er erzählt, eine depressive Episode. Zwar geht es auch hier über radiotaugliche Zeilen („Der Kopf zu voll, die Brust zu leer“) selten hinaus – aber immerhin, und das ist selten im Deutschpop-La-La-Land, verschont einen Weiss mit allzu leichten Lösungen. Die Poetry-Slam-Konkurrenz Julia Engelmann hatte zum Release ihres Debütalbums vor vier Jahren noch betont, wie wichtig ihr Mental-Health-Themen seien, beließ es dann aber beim Ratschlag, man solle doch eine Grapefruit essen, wenn man traurig ist. Dann doch lieber Erdnussflips mit Wincent. Auch wenn sie verlässlich fade schmecken.

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Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 07/2021.

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