Was wollt ihr wissen?


Popruhm oder Privatsphäre - der Internetstar 2.0 muss sich entscheiden. Viele Freunde helfen ihm.

Jonathan Coulton hat 7067 Freunde auf MySpace. Das Verrückteste daran ist, „dass ich in diesem Jahr wahrscheinlich jedem von ihnen eine E-Mail geschrieben habe“. Der New Yorker Musiker verbringt bis zu sechs Stunden pro Tag damit, seine Kontakte und sein persönliches Profil zu pflegen. Homepage, Blog-Einträge, Mail-Verkehr, CD-Versand; Coulton arbeitet mehr im Netz als im Studio. Ein gutes Beispiel für den neuen Typus des Mittelstand-Stars, der nicht nur durch MySpace oder YouTube bekannt wurde, sondern nun durch permanentes Strampeln, Singen, Reden darum kämpfen muss, dort bleiben zu dürfen.

Im Netz gibt es keine Fans mehr, nur noch Freunde. Und die wollen alles von dir wissen. Früher waren die Pophelden unendlich weit vom Alltag entfernt. Coulton und Kollegen hingegen sind mit ihren Fans per Du, geben persönliche Details preis und diskutieren im Forum die Qualität des letzten Konzerts. Sie sind die ersten Stars der Generation Web 2.0, die für die bürgerlichen Werte Privatsphäre, Datenschutz und Anonymität kein Verständnis mehr aufbringen kann und an Geschwindigkeit, Nähe und Intensität glaubt. Myspace will Nutzerdaten verwenden, um Werbung weiter zu personalisieren? Geschenkt! Was wollt ihr wissen? Ich bin ich, jetzt ist jetzt.

Im Oktober vermeldete Spiegel-Online erleichtert den ersten „deutschen Webstar“: Mina, ein 14-jähriges Soul-Talent aus der Provinz. Worte wie „Blogger“ und „Netz-Hype“ fehlen heute in keiner PR-Meldung der Plattenkonzerne mehr. Die Karriere in den MySpace-Charts und YouTube-Rankings hat die alte Erzählung von der Rockgarage ersetzt.

2007 war ein Jahr der Wende. Plattenkonzerne schlossen Verträge mit YouTube ab. SonyBMG kooperierte mit MyVideo. Und seit Anfang des Jahres werden im UK erstmals auch Singles, die nur im Netz erhältlich sind, für Charts mitgezählt. Die Musikindustrie ist endlich im Netz angekommen. Die neue Welt und die neuen Regeln bieten große Vorteile: zum Beispiel für Talentscouts. Die behalten jetzt einfach die Most-Viewed-Tabellen im Auge.

2007 war eine Reise zurück in die Zukunft. „Musik wird von nun an durch Bilder verkauft“, hieß es in den 80er-Jahren, als MTV den Sendebetrieb aufnahm. 20 Jahre später hat das Medium Musikvideo schon ein Nahtoderlebnis hinter sich und sieht ein wenig anders aus: Esmee etwa, ein holländisches R’n’B-Talent, trällerte einfach ihre Liebslingshits in die Webcam – große Stimme und große Augen, naiv und nah. Im Februar gab sie dann bekannt, dass sie einen Plattenvertrag unterschrieben habe. Ein Tag später tauchte die nächste Cover-Version auf – nur dass diesmal Justin Timberlake bei seinem eigenen Song Klavier spielte und den Background-Gesang erledigte. Er hatte Esmee als erste Künstlerin für sein neues Label gesignt. Zu diesen Anti-HD-Videos gehört auch der „Crank That“-Tanz und seine vielen YouTube-Klone. Die Privat-Pop-Produkte unterhalten mit pixeligen Bildern, unrunden Bewegungen und unaufgeräumten Kulissen geben den Fans ein Gesicht, eine Idee, eine Lebenswelt, an die man glauben kann. YouTube reanimiert den VideoStar.