HOT HOT HEAT


Musik kann allerhand. Zum Tanzen oder Träumen verführen, zum Nachdenken oder Vögeln animieren, beim Bügeln nicht stören oder uns in diese eigentümliche Trance versetzen, in der wir dem absoluten Glück näher kommen als jemals sonst. Es gibt aber noch eine weitere, weitgehend unterschätzte Tugend von Musik, die darin besteht, dass man zu ihren Klängen Säuglinge in den Schlaf wiegen kann. Wer das schon einmal versucht hat, weiß, wie schwierig das ist. Lustige Kinderlieder oder ein hibbeliger Mozart erfüllen diesen Zweck nur sehr begrenzt, selbst Ambient mit seinen kühlen Flächen versagt oft auf ganzer Linie. Ein sicherer Geheimtipp ist das zehnminütige Stück „Tabula Rasa“, ein sich immer weiter auflösendes Seufzen zum Ende hin, vom estnischen Komponisten Arvo Pärt. Oder eben das auch in anderer Hinsicht unglaubliche Album SPACE IS ONLY NOISE von Nicolas Jaar. Auf diesen Effekt einmal angesprochen, zeigte sich Jaar begeistert: „Genau das ist es, was ich will!“ Falls seine Musik diesen Zweck immer erfülle, so werde er „diese Musik machen bis zum Tag, an dem ich sterbe“.

Die meisten Künstler würden es als Beleidigung auffassen, wenn man ihre Kunst als „ideale Einschlafmusik“ bezeichnen würde. Die Antwort des 23-Jährigen darauf war weder gleichmütig noch ironisch gemeint. Und verriet schon viel darüber, worum es ihm geht.

Und worum nicht. Einen anderen Hinweis gab er auf die Frage nach seinem Lieblingswitz, als ihm einfach keiner einfallen wollte – bis auf ein böses Bonmot des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, das der wiederum bei einem spanischen Anarchisten entlehnt hatte: „Die einzige Kirche, die wirklich erleuchtet, ist eine brennende Kirche.“ Das ist natürlich kein Witz. Sondern ein respektloser Satz, an dem nur seine Freude haben kann, wer Autoritäten ohnehin skeptisch gegenübersteht.

Vielleicht ist beides – die Freude am Einschlafen und der Humor – Nicolas Jaar in die Wiege gelegt. Geboren ist er 1990 als Sohn einer französischen Mutter, Evelyne Maynard, in New York, wo er lebt. Seine Kindheit hat er in Chile verbracht, der Heimat seines Vaters. Alfredo Jaar ist in der Kunstszene kein Unbekannter, im Gegenteil. Als Chilene, der unter der Militärjunta des Dikators Augusto Pinochet aufwachsen musste, ist seine Arbeit in besonderem Maße politisch motiviert. Zu seinen frühen Projekten zählt das „Opus 1981“, bei dem er aus Protest gegen die Hilflosigkeit seiner Landsleute so lange Klarinette spielte, bis ihn die Kräfte verließen. Ein Stück radikale Musik also und kein Wunder, dass Einstellung und Haltung eines solchen Vaters auch auf seinen Sohn abfärben sollten.

Zu seinen frühesten Erinnerungen zählen die hingetupften Klavierwerke des Eric Satie, die ihm von seiner Mutter vorgespielt wurden: „Da war immer Piano, immer. Ich bin sicher, dass das Spuren hinterlassen hat.“ Daneben öffnete sich ihm der offenbar gigantische Plattenschrank seines Vaters, wobei es ihm vor allem der äthiopische Pate des Ethnojazz angetan hatte, Mulatu Astatke. Schon mit 14 Jahren versuchte er sich daran, dessen eigentlich unverbesserliche Klassiker wie „Yegelle Tezeta“ durch zarte Remix-Versuche noch zu veredeln. Für erste Gehversuche eines Teenagers klingen diese Anverwandlungen schon reichlich reif, zumal Jaar eben nicht das Original mit strengen Beats aufmotzte, sondern das Schleierhafte noch betonte.

Was auf den ersten Blick umso mehr verwundert, als Jaar neben Astatke und Satie die chilenische House-Legende Ricardo Villalobos zu seinen größten Einflüssen zählt. Nur war es eben nicht das BPM-Gekloppe, sondern die Einbeziehung vermeintlicher Fehlgeräusche wie Kratzen, Rauschen und Verzerrungen, die Jaar übernahm, namentlich von den mehr atmosphärischen Werken Villalobos. Eine enge Verwandtschaft besteht vor allem zu dessen Album THÉ AU HAREM D’ARCHIMÈDE mit seinen schlierigen Klangexperimenten. Zwar öffnet, wer Villalobos hört, sogleich die Techno-Schublade. Jaar hält das allerdings für ein amüsantes Missverständnis: „Ich habe kein Interesse daran, Leute zum Tanzen zu bringen.“ Im Gegenteil interessierte sich Jaar viel mehr für die Zwischenräume. Er sagt heute noch: „Das eigentliche Mysterium ist, was zwischen den Beats passiert, in den Pausen, in der Stille.“ Tatsächlich hatte Jaar selbst, noch als Jugendlicher, auf einem Ausflug in die mexikanische Wüste ein regelrechtes Erweckungserlebnis. Die mysteriöse Erfahrung der Stille, die einer Zen-Erkenntnis gleichkommt: „Die Leere“, erinnert er sich, „ist nicht leer.“

Mit 19 gründete er sein eigenes Label Clown &Sunset, um eine legale Plattform für seine Musik zu haben. Und diese Musik hat etwas, was keine andere technoide Musik zu diesem Zeitpunkt und in dieser Intensität zu bieten hat: Wärme. Das Cover seines Debütalbums SPACE IS ONLY NOISE zeigte ein schlafendes Kleinkind in seinem Wagen. Und die Musik war so warm, dass man damit fast ein Haus heizen könnte. Völlig aus dem Häuschen war unter anderem der britische „Guardian“, der ratlos schrieb: „Nicolas Jaar macht seltsame, intelligente, elektronische Musik. Aber wie nennt man das, und wie tanzen wir dazu?“

In der Tat. Wie tanzt man zu einer Musik, die Angelo Badalamenti mit Feist kreuzt, Aphex Twin mit der Filmmusik von Jonny Greenwood, Bill Callahan mit dem französischen Avantgardisten Igor Wakhevitch und Beyoncé mit Charles Mingus? So geschehen auf dem „Essential Mix“, den Jaar für die BBC einspielte. Nein, dazu tanzt man nicht, schon gar nicht, wenn sogar Klavierstücke -nein, nicht von Satie – von Gonzales darauf Platz finden. Es ist Weltmusik in einem neuen, nicht einmal digitalen, sondern tief menschlichen Sinne. Dort, wo Jaar ist, verpuffen Genres zu sinnlosen Kategorien.

Trotzdem, wie nennt man es? „Blue Wave“, sagt Jaar und lacht verschämt: „Ich dachte mal, ich müsste mit irgendeiner Bezeichnung herumkommen, und das blieb leider hängen.“ Noch immer glaubt Jaar, dass sich in der Musik – gerade im elektronischen Bereich – derzeit so etwas wie eine Renaissance ereignet. „Ich denke an Mount Kimbie oder James Blake, aber auch neue Klänge aus dem Hip-Hop. Es gibt neue Produktionsmittel und neue Wege, zu neuen Ausdrücken zu finden und die Dinge neu zu formulieren.“ Neu formuliert hat Nicolas Jaar zusammen mit seinem Schulfreund und Kollegen, dem Gitarristen Dave Harrington, zuletzt das Über-Album des Jahres, Daft Punks RANDOM ACCESS MEMORIES. Das Gespann nannte sich Daftside und sein Remix-Album RANDOM ACCESS MEMORIES MEMORIES. Und gar so spaßig, wie das Cover suggerierte – es zeigt mal Yoda, mal Darth Vader – war das Ergebnis keineswegs. Der Funk blieb erhalten und wurde stellenweise noch verschärft, aber alle etwas schmierigen Ecken wirkten auf einmal wie weggewischt: „Dave und ich, wir waren gerade dabei, an unserem Debüt unter dem Namen Darkside zu arbeiten, als das Album von Daft Punk erschien und uns ziemlich umgepustet hat. Natürlich hätten wir es so stehen lassen können. Aber es hat uns doch gereizt, damit herumzuspielen.“

Dieser Remix ist zugleich so etwas wie ein Aufb ruch ins „richtige Leben“, wie er sagt, und damit auch ein Schwanengesang auf Nicolas Jaar als technoider Solokünstler – fast zeitgleich mit der Beendigung seines Studiums der Komparatistik. „Diese Zeit ist vorbei“, sagt er ohne Bedauern: „Mit Dave und Darkside beginnt etwas völlig Neues. Eine richtige Band eben, von der es noch viele Platten geben und die eine komplette Welt um sich errichten wird. Wir wollen etwas erreichen, das weiter greift als Dance Music.“ Harrington spielt seit zwei Jahren die E-Gitarre in der „Live-Band“ von Jaar, der sich längst nicht mehr nur als Knöpfchendreher versteht.

Tatsächlich ist PSYCHIC, das erste Ergebnis dieser Zusammenarbeit, eine Welt für sich. Nicolas Jaar meint, er habe ein Elektro-Album machen wollen – und sei gescheitert. Dave Harrington meint, er habe ein Rock-Album machen wollen – und sei ebenfalls gescheitert. Wenn das stimmt, dann klang selten ein Scheitern so aufregend. Immerhin: Geblieben ist die warme, statische, eben gewittrige Bewölkung, ansonsten herrscht ein völlig neuer Ton. Die Zwischenräume und Leerstellen sind enger geworden, die Atmosphäre ist dichter. Jaar erklärt: „Wir wollten zeigen, was uns beeinflusst hat. Das ist zum Beispiel Noise, das kann sogar ein entferntes Echo von Country sein, vor allem aber ist es Psychedelia. Ich würde es gerne progressiv nennen, wenn das Wort nicht so einen üblen Ruf hätte.“

Über spezielle Einflüsse möchte er nicht sprechen, obwohl man sich deutlich an die erhabeneren Momente von den Pink Floyd der frühen Siebzigerjahre erinnert fühlen mag – die harmonischen E-Gitarren, die stehenden Keyboardflächen, und, nebenbei, auch der Name des Projekts: Darkside. Dann sagt Jaar aber doch noch: „Charles Mingus war wichtig, denke ich, die Art, wie er an Musik herangegangen ist. Das ist es auch, was ich mit psychedelisch meine: Wir wollten Wellen aus Klang, die den Zuhörer treffen und den Reiz, den das Repetitive auslösen kann, tribale Rhythmen. Es geht uns darum, die Leute auf einer subsonischen, subpsychologischen Ebene anzusprechen.“ Es ist deshalb auch eine „Kopfh örerplatte“ geworden. Musik, deren Wille zum Experiment zwar schon beim ersten Ton deutlich wird, deren wahre Größe sich aber erst im Kleinsten zeigt: „Ich glaube, am meisten Arbeit haben wir uns mit dem Gesang gemacht. In nur einem Song ist er quasi naturbelassen, sonst haben wir ihn stundenlang manipuliert, bis er so klang, wie er klingen sollte“, nämlich hoch und ätherisch, passgenau sich einfügend ins surreale Klanggefüge.

Am meisten freut sich Jaar über einen Aspekt, der ihn früher am meisten geschreckt hat – die Musik live zum Publikum zu tragen: „Früher war ich alleine mit meinem Computer“, sagt Jaar. „Heute bin ich nicht mehr alleine. Und ich möchte spielen. Wobei es noch immer wichtig ist, wo wir auftreten. Ein Club kann reizvoll sein, etwa das Watergate in Berlin. Aber am besten funktioniert unsere Musik in einer Kirche.“ Vielleicht sogar in einer, die in Flammen steht.

Albumkritik S. 75

NICOLAS JAAR

Bekannt wurde der 23 Jahre alte Nicolas Jaar vor zwei Jahren, als sein Debütalbum SPACE IS ONLY NOISE eine gewisse Langsamkeit in die sonst gern auch mal aufgeregte Elektronika brachte. In den Jahresbestenlisten stand die Platte 2011 ganz oben. Der New Yorker mit chilenischen Wurzeln nennt seine dahinschwappenden Beatskompositionen selbst „Blue Wave“. Neben Daft Punk hat Jaar in der Vergangenheit verschiedene Künstler wie Cat Power, Grizzly Bear und Brian Eno geremixt.

Um eine Spielwiese für seine ersten musikalischen Gehversuche zu haben, gründete Jaar seine eigene Plattenfirma. Unlängst rief er zudem das Abo-Label Other People ins Leben. Kunden zahlen einen Beitrag und bekommen regelmäßig online Musik zugeschickt. Zum Auftakt gab’s die ersten elf Minuten des neuen Darkside-Albums. Anmeldung und Infos: www.other-people.net