Leo Sayer


Leo kommt aus Shoreham-by-Sea, einem kleinen Ort an der Südküste Englands in der Nähe von Brighton. Eine Zeit lang lebte er dort auf einem Hausboot, schrieb Unmengen von Gedichten, Prosa- und Songtexten und sang in diversen Blues-Rock-Bands der Umgebung. Die Musikkneipe „Lady Jane“ wurde zum Schauplatz der ersten Auftritte des Mundharmonika spielenden Sängers. Er selbst schildert seine Anfänge in dem autobiografischen Song „The Beils Of St. Mary’s“: „There wasn’tmuch that he could use his time for, so he used fo practice every day, play the mouth-organ blues and holler ‚Someday soon I’m gonna breakaway…'“.

Leo Sayer konnte singen.

Aber wem gelingt in einer südenglischen Kleinstadt der Durchbruch?

Wem allerdings gelingt schon der Durchbruch zu internationalem Ruhm in einer südenglischen Kleinstadt? Und außerdem war (und ist) Leo Sayer kein Komponist — er schrieb nur Texte und konnte singen. Also ging er nach London, und dort kamen die Dinge langsam ins Rollen. Adam Faith — zu Beginn der 60er Jahre selber erfolgreicher Popstar in England — wird Sayers Manager, David Courtney schreibt Melodien zu Leos Texten. Roger Daltrey zeigt sich von den Songs des Teams Sayer/Courtney dermaßen angetan, daß er gleich acht davon für sein erstes Solo-Album aufnimmt und mit „Giving It All Away“ prompt eine mittelschwere Hit-Single beim britischen Publikum landet.

Chrysalis Records nimmt Leo Sayer unter Vertrag, und Adam Faith produziert die LP „Silverbird“ mit zwölf Sayer/Courtney-Kömpositionen, darunter „The Show Must Go On“. Weihnachten 1973 steht dieser Titel auf Platz 2 der englischen Hitparade, vier Monate später

findet man ihn in der Version von Three Dog Night unter den Top Five der USA.

Mit energiegeladenen Live-Auftritten, bei denen er sich wild gestikulierend im Kostüm eines Harlekins präsentiert, macht Leo Sayer auch bald auf den Konzertbühnen Furore. Er brüllt und kreischt, was das Zeug hallt, fällt unvermittelt ins Falsett, dann wieder in sanfte, fast weinerliche Tonlagen, und das alles zu den unterschiedlichsten Begleitungen.

Ein Rezept, Sayer optimal zu verkaufen, schien sich in „The Show Must Go On“ gezeigt zu haben, und so wurde seine zweite LP „Just A Boy“ nach eben dieser Masche gestrickt. Das Album gilt heute bei vielen als sein persönlichstes und bestes und enthält eine ganze Reihe intelligent getexteter und komponierter Popsongs: „Train“, „Giving It All Away“, „One Man Band“ und „Long Tall Glasses“, um nur die bekanntesten zu nennen.

Scharf auf Amerika

Doch Leo mochte sich nicht auf den gewonnenen Lorbeeren ausruhen. Um nicht nur Ideen als Texter, sondern auch eigene musikalische Vorstellungen realisieren zu können, trennte er sich von David Courtney und schrieb mit Frank Farrell, zeitweilig Bassist bei Supertramp, die Songs für das Album „Another Year“. Im Herbst 1975 erreichte er mit der Single „Moonlighting“ die Nummer 2 in England. Allerdings meint er: „Es war ein Album, das so gut wie gar keinen Eindruck in Amerika machte. Damals war ich wirklich scharf drauf, etwas in Amerika zu erreichen; ich wollte dort mehr Erfolg haben, und ich wollte dort Platten aufnehmen. Adam wollte sich ohnehin mehr darauf konzentrieren, mein Manager zu sein, und nicht mehr wie bisher meine Platten produzieren. Wir sprachen also über verschiedene Produzenten, und er schlug Richard Perry vor.“

Leo flog in die Staaten und traf sich mit Perry, der sich einen Namen als Erfolgsproduzent von Ringo Starr, Carly Simon und Art Garfunkel gemacht hatte. Über acht Monate erstreckte sich die Arbeit an der LP „Endless Flight“, denn sie wurde, wie Sayer sagt, in „bits and pieces“ aufgenommen. „Mit Richard zu arbeiten“, sagt er, „ist sehr faszinierend, denn er versteht es, einen Sänger in seiner Art zu singen zu beeinflussen, und ich glaube, er hat mir sehr geholfen. Aber wir haben häufig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie ein Song letzten Endes zu klingen hat, und so enthalten sie eigentlich alle etwas von meinem Aroma und etwas von seinem Aroma.“

Auf „Endless Flight“ überwiegt allerdings deutlich Perrys „Aroma“. Die Instrumentalarrangements, von einer Crew bester amerikanischer Sessionmusiker eingespielt (Steve Gadd, Jeff Porcaro, Chuck Rainey, Larry Carlton, Willie Weeks, Lee Ritenour — die Liste ist meterlang) klingen trotz aller Professionalität anonym und sind fraglos auf den kommerziellen amerikanischen Musikgeschmack zugeschnitten. Obendrein hat Perry den größten Teil der 10 LP-Titel ausgewählt, und nur 5 davon wurden von Sayer getextet. Eindrucksvoller als je zuvor wurde allerdings Leo Sayers enormes Stimmspektrum ausgebreitet, das nicht zuletzt für den Erfolg der Platte ausschlaggebend war. „Endless Flight“ wurde inzwischen über eine Million mal in den USA verkauft, kein Wunder bei 3 Hitsingles.

Eine Goldgrube hatte sich für Sayer aufgetan, der Sound machte jetzt die Musik, die Texte waren nur noch von drittrangiger Bedeutung. Diese Tendenz setzt sich auch auf „Thunder In My Heart“, dem jüngsten von Richard Perry produzierten Leo-Sayer-Album fort.

Immerhin hat Leo acht der zehn Titel geschrieben: „In Amerika habe ich mit mehreren Songschreibern gearbeitet, und ich schreibe nicht nur die Texte, sondern auch die Melodien. Es war meistens 50:50, etwa mit Albert Hammond, Tom Snow oder Michael Omartian — erst haben wir uns zusammengesetzt, um die Musik zu schreiben, und dann haben wir die Texte gemacht.“

Aufgemotzte Melodien

Schön und gut, doch sind bei dieser Zusammenarbeit Texte entstanden, die allenfalls als Vehikel für die Melodien dienen, die dann von Perry produktionstechnisch aufgemotzt werden, und die Leo Gelegenheit geben, seine Stimmbänder in effektivster Weise einzusetzen. „Im Augenblick ist für mich die Tatsache am wichtigsten, daß ich Sänger bin, und meine Stimme ist mein wertvollster Besitz,“ erklärt er dazu. „Die letzten beiden Platten wurden wirklich nicht der Texte wegen geschrieben, sondern mehr, um zu zeigen: dies ist Leo Sayer, der Sänger. Ich sehe die Platten ähnlich wie ein Live-Konzert, wo man ja auch nicht die Texte vorliegen hat. Man akzeptiert, was von der Bühne auf einen zukommt. Ich möchte, daß alles sehr spontan ist, ein kurzes emotionales Statement, und es ist mir egal, ob es eine langandauernde Wirkung besitzt. Das ist sicher sehr kommerziell, und es ist mir auch klar, daß Richard Perry ein sehr kommerzieller Producer ist, aber das ist nicht das Schlechteste.“

Zugegeben, das Schlechteste ist es nicht, aber Leo Sayer kann besser. Man denke an „Just A Boy“: “ Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, auf die ich mich in der letzten Zeit nicht so konzentriert habe, und die ich noch in meinen Songs ausdrücken möchte. Es hat mir auch noch nie gefallen, auf ein Album ein gleichartiges folgen zu lassen. Mein nächstes wird in den Texten anspruchsvoller werden.“

Erstklassige Profis

Das bleibt zu hoffen. Im Augenblick jedenfalls wird Leo Sayers Karriere voll und ganz in Richtung Show-Entertainer gemodelt, und er macht sich in diesem Metier auch nicht übel. Die Zeiten des Harlekins sind zwar vorbei, doch noch immer wirkt Leo in seinen Live-Auftritten lebhaft chaplinesk und bisweilen wie ein überdrehter Kobold. Seine Bühnenband setzt sich heute aus Profis der obersten Güteklasse zusammen — in Hamburg waren im Verlauf der jüngsten Tournee u.a. Mike Moran, (kb), Reggie McBride (b), „Professor“ Ollie C. Brown (perc) und Don Preston (synth) dabei —, und auch an Chormädchen und Bläsern wird nicht gespart.

Das Repertoire ist natürlich vorhersagbar. Leo Sayer singt seine größten Hits, fragt sich nur in welcher Reihenfolge. Die etwa einstündige Show begann relativ ruhig mit den Oldies „Giving It All Away“, „One Man Band“ und „Moonlighting“, bei denen die Band nicht hundertprozentig in ihrem Element zu sein schien, gewann dann aber mächtig an Intensität mit „Hold On To Your Love“. Sayer ist immer noch ein exzellenter Rocksänger, und der Akzent der Show liegt auch deutlich auf rockigen Nummern mit einer Prise Soul.

Gegen Ende verlangsamte sich das Tempo noch einmal bei „The Dancer“ und „When I Need You“ (Leo Sayer ist gleichfalls ein hervorragender Balladensänger) und brauste dann in ein tosendes Finale aus „How Much Love“, „Long Tall Glasses“ und „The Show Must Go On“. Gut gemacht, Leo. Viele der Songs waren live eindrucksvoller als die Studioversionen. Der Mann, der von vielen Leuten zu oft in die Disco-Ecke gedrängt wird, hat fraglos das Zeug zu einem hochkarätigen Pop-Entertainer, und man wird sicher noch eine Menge guter Musik von ihm erwarten können.