Oral History

Musiker erzählen von den Abenteuern, die sie erlebt haben als die Berliner Mauer fiel


Zum Jubiläum 30 Jahre Mauerfall: eine Oral History von und mit MusikerInnen, die die Ereignisse des 9. November 1989 live auf beiden Seiten der Berliner Grenze miterlebt haben. Mit Berichten von Faith-No-More-Bassist Billy Gould, Jacques Palminger, Mia-Schlagzeuger Gunnar Spies, Christiane Rösinger und anderen Zeitzeugen, die sich an diese sagenhafteste Nacht der neueren deutschen Geschichte erinnern.

Gunnar Spies: „Die Sekretärin rief: ‚Das wird ihnen noch leidtun!‘“

Als Gunnar Spies mit 18 im Service in einem Hotel in Frankfurt an der Oder arbeitete, sah er in eine ziemlich perspektivlose Zukunft. Musik machte er auch noch nicht. Heute ist er Schlagzeuger der Band Mia. und erinnert sich sehr gut an sein erstes West-Abenteuer und dessen beinahe filmreifen Folgen.

Ich hatte Spätschicht im „Stadt Frankfurt“, die fing um 17 Uhr an. Dann sickerte die Schabowski-Sache zu uns durch, irgendwo in der Küche lief ganz selbstverständlich Westradio. Weil ohnehin nichts los war im Restaurant, bearbeiteten wir unsere Schichtleiterin, ob wir nicht früher gehen könnten und sie sagte: „Okay, Jungs, wenn ihr mir versprecht, dass ihr morgen pünktlich erscheint, könnt ihr gehen.“

Meine Mutter gab mir am Telefon noch die Adresse von Onkel Erwin in Westberlin durch, dann ging es los – mit dem „Schwarz-Taxi“, das kostete etwa einen Hunni nach Berlin. Allerdings war ich schon gemustert worden und hatte statt meines Personalausweises nun einen Wehrdienstausweis. Den nahm ich lieber erst gar nicht mit, bevor sie mich damit nicht rüberlassen, sondern spekulierte darauf, dass es an der Grenze ohnehin chaotisch wird – und tatsächlich wurden wir über die Oberbaumbrücke einfach mit durchgewunken.

Wir hatten absolut keine Angst. Denn uns war vollkommen klar: Die Mauer ist gefallen, das dreht keiner mehr zurück. Das Erste, was ich im Westen sah, war die Hochbahn am Schlesischen Tor. Erst als ich später wieder nach Kreuzberg fuhr, merkte ich, dass ich mich dort auch endlich mal „exotisch“ fühlen konnte. „Multikulti“ gab es ja in der DDR überhaupt nicht, jetzt endlich konnte man Dinge sehen, riechen, schmecken, die in meinem Koordinatensystem bislang überhaupt nicht vorgekommen waren.

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In der ersten Nacht wollten wir aber, wie alle Zonis, direkt an den Kudamm. Dort tingelten wir dann stundenlang herum, kauften uns Bier mit dem Westgeld, das wir von unserem Interhotel dabeihatten. Aber wir wurden auch eingeladen, manche Leute steckten uns sogar Geld zu.

Gegen 7 Uhr schlugen wir bei Onkel Erwin auf und frühstückten gemeinsam. Noch in dieser Nacht hatte sich bei mir die Erkenntnis eingestellt, dass sich viele Probleme und Fragestellungen, mit denen ich damals konfrontiert war, nun in Luft aufgelöst hatten. Denn seit ich 15 war, war das das große Thema in meinem Freundeskreis gewesen: Wie kommen wir hier raus?

Ich war von diesen neuen Aussichten so angefixt, dass ich, zurück in Frankfurt, noch vor der Arbeit zum Wehrkreiskommando gefahren bin. Dort marschierte ich in das Büro des Leutnants oder Majors und knallte meinen Wehrdienstausweis auf den Tisch: „So, den brauch ich nicht mehr! Tschüss!“ Seine Sekretärin rannte mir hinterher und rief: „Das wird Ihnen noch leidtun, Sie sind immer noch DDR-Bürger!“ Ich antwortete: „Das mag ja sein, aber die DDR, wie Sie sie kennen, gibt es seit gestern nicht mehr.“

(mit Hilfe von Torsten Groß, Thomas Winkler und Wolf Kampmann)