Oral History

Musiker erzählen von den Abenteuern, die sie erlebt haben als die Berliner Mauer fiel


Zum Jubiläum 30 Jahre Mauerfall: eine Oral History von und mit MusikerInnen, die die Ereignisse des 9. November 1989 live auf beiden Seiten der Berliner Grenze miterlebt haben. Mit Berichten von Faith-No-More-Bassist Billy Gould, Jacques Palminger, Mia-Schlagzeuger Gunnar Spies, Christiane Rösinger und anderen Zeitzeugen, die sich an diese sagenhafteste Nacht der neueren deutschen Geschichte erinnern.

Scott Reynolds: „Wir dachten, Berlin liebt uns richtig“

Die kalifornische Punkpopband All, Nachfolgeprojekt der legendären Descendents, spielte zum ersten Mal überhaupt in Deutschland – und erwischte für ihr Gastspiel im Schöneberger Club „Ecstasy“ (in dem zwei Tage später Nirvana im Vorprogramm der Proto-Grunger Tad auftreten sollten) einen Abend, von dem ihr damaliger Sänger Scott Reynolds noch seinen Enkeln erzählen wird …

Als wir in Berlin ankamen, wollten wir auch sofort die Mauer sehen. Gehört hatten wir ja schon viel davon, doch erst als wir von der Aussichtsplattform in dieses Niemandsland mit seinen Waffentürmen blickten, begriffen wir, was diese „Mauer“ war, was sie tatsächlich bedeutete.

Ohne ein Wort, jeder nachdenklich in sich versunken, fuhren wir zum Club zurück, bauten auf, erledigten den Soundcheck. Und bekamen mit, wie immer mehr Leute sich dort um ein Fernsehgerät versammelten. Es liefen Nachrichten. Ein Security-Mann übersetzte für mich: „Sie sagen, die Mauer fällt.“

Keine Ahnung, wie ich damals tatsächlich darauf reagierte, aber die enorme Tragweite dieser Information verstand ganz sicher keiner aus unserer Band. Aufgewachsen in den USA, einem Land, das immer nur sich selbst sieht, war unser Blick auf den Rest der Welt beschämend beschränkt. Und so nahmen wir tatsächlich auch an, dass es allein unsere Bühnenperformance war, die die Leute später am Abend in ekstatische Stimmung versetzte. Wir dachten: „Wow, Berlin liebt All aber richtig! Was für ein triumphales Debüt!“

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Erst als wir noch in dieser Nacht versuchten, die Stadt zu verlassen, begriffen wir endlich, was vor sich ging. Wir brauchten Stunden in den mit lauter mehr oder weniger identischen Autos und glücklichen und meist auch ziemlich betrunkenen Leuten verstopften Straßen, und ich dachte mir mit Blick aus dem Fenster: „Irgendwann wirst du deinen Enkeln hiervon erzählen!“

Wenn ich mich richtig erinnere, kam bereits die Sonne raus, als wir Berlin endlich hinter uns ließen. Und diese kleinen ostdeutschen Autos schienen uns von da an auf unserer Tour durch Europa überall hin zu folgen. In fast jedem Land, in das wir kamen, sahen wir sie herumfahren.