Gedanken zum Gegenwärtig*innen

The Algorithm Is Strong Today: Was Paloma Faith mit Bibi und Julian gemeinsam hat


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert? Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 18, in der Julia Friese erklärt, warum der Algorithmus uns alle erwischt.

Drei Beobachtungen:

1. high ohne benzin

Die Spritpreise steigen. Und „Ohne Benzin“ trendet auf TikTok. Highpitched Hyper-Pop von Domiziana, einer 25-jährigen in Italien aufgewachsenen Berlinerin. „Er nimmt keine E’s / er ist high ohne Benzin / Chille in sei’m Auto / wie in einer Limousin’“, singt sie aus jedem vierten Video, das einem auf der „For You“-Page angezeigt wird. Wobei es sich natürlich um keine Page im eigentlichen Sinne handelt, sondern um einen endlosen, den Handybildschirm ausfüllenden Stream von Kurzvideos, den der Algorithmus einem ausspielt, weil er auf Grund vorheriger zu Ende geschauter Kurzvideos annehmen muss, dass sie genau auf einen passen.

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„The algorithm is strong today“ ist ein Kommentar, den man häufiger liest auf TikTok. Du bist weiblich, über 30, wohnst in einer Großstadt und hast braune Haare, sagt einem ein TikTok-Video auf den Kopf zu. Und man stutzt, weiß aber auch: Natürlich ist man eine Sammlung Hashtags. Eine Koordinate auf der gar nicht mal so großen menschlichen Matrix. Instagram hat seine Benutzeroberfläche umgestellt, ist jetzt auch bildschirmfüllend – wie TikTok. Auf dem alten, behäbigen YouTube erfährt man, dass „Ohne Benzin“ – Tatsache – schon im März erschien, damals aber noch viel langsamer war. Im Querformat-Musikvideo auf YouTube fehlt der high pitch. Domiziana liegt auf einem stehenden Motorrad.

2. as I get a little older, I realize life is perspective

KanYe West und Kendrick Lamar haben fast zeitgleich Videos herausgebracht, die sich der Deepfake-Technik bedienen. West lässt im Video zu „Life Of The Party“ seine Kindheits– und Jugendfotos rappen. Kendrick Lamar hat „The Heart Part 5“ ein Zitat von sich selbst alias Oklama – seinem weiseren, spirituellen Ich – vorangestellt: „I am. All of us.“ Danach morpht sein Gesicht in eine Animation von OJ Simpson, Will Smith und wieder KanYe West. Währenddessen gehen auf TikTok Latex-Masken einer italienischen Firma viral, die einen täuschend echt das Gesicht einer anderen Person tragen lassen. Noch sind diese Maßanfertigungen sehr teuer. Noch bauen sich – vor allem junge Frauen – das Gesicht, dass die Instagram- und TikTok-Filter ihnen als Schönheitsstandard verkaufen, mit Fillern und Nervengift nach. Auch offline haben sie dann volle Internet-Lippen. Die sagen: I am. All of us.

3. only performance can hurt like this

In der neuen Staffel „Stranger Things“ läuft Kate Bushs„ Running Up That Hill“ (1985). Die Sängerin Mia Morgan sieht Placebo live, sieht, wie sie ihr „Running Up That Hill“-Cover (2003) performen und freut sich. Sagt: Die spielen das TikTok-Lied! Auch Paloma Faith hat auf TikTok ein Comeback mit „Only Love Can Hurt Like This“ (2014). Der Song ist nun Soundtrack zur Trennung von Bibi und Julian. In den sozialen Medien konsumieren wir Performances, die wir – obwohl wir theoretisch über sie Bescheid wissen – nicht als solche wahrnehmen. Bibi und Julian haben sich getrennt. Ein Paar, unumgänglich für die Generation YouTube. Broadcast Yourself!

@julianca_040 Only love can hurt like this💔#foryou #bibisbeautypalace #sad #verkraften cr: @𝓛𝓲𝓵𝓵𝓮🛐 ♬ Originalton – Fanpage🥇

Bibi und Julian machten das. Die, die einst gemeinsam in einem Kinderzimmer lebten und sich gegenseitig Pranks spielten, haben heute zwei Kinder, etliche Immobilien und 14 Millionen Follower. Ihr Content war eine Art Disney-Variante von Leben. Farbsatt. Lachend. Eltern wie ewige Kinder. Die nach Muffin-Duschschaum riechen, und den auch verkaufen. Die Trennung flog durch Fotos auf. Bibi küsste einen anderen. Sie bestätigten die Trennung auf Instagram. Und das Internet sagte: nein. Wochenlang wurden Videos und Texte produziert, die die Trennung anzweifeln.

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Das ist ein Prank. Nur eine Performance! Unter den einfachsten Voraussetzungen ließ sich beobachten, wie und warum Verschwörungstheorien entstehen: Menschen sind von einem Umstand so überzeugt, dass sie ihn für gesichert halten: Bibi und Julian leben das beste Leben. Wenn etwas eintritt, das diametral zu dieser Überzeugung steht – Bibi und Julian haben sich getrennt – wird vieles getan, um die ursprüngliche Überzeugung zu stützen. Ein endloser Stream an Videos, die einem nur zeigen, was man sehen will, helfen dabei. The algorithm is strong today.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 08/2022.