Kritik

„Unfck the world“-Doku auf Joyn: Der Weltuntergang als Lösung


Ein Kondomhersteller verkauft die Weltrettung für 29,95 Euro im Berliner Olympiastadion. Auf Joyn läuft eine Doku, die das größte deutsche Crowdfunding „120620 Olympia“ eng begleitet. Mit Petitionen soll die Welt gerettet werden. Herausgekommen ist ein modernes „Titanic“.  

In einem hippen Berliner Büro, Typ Agentur mit Bällebad, verkaufen sie die Demokratie am Flipchart. Der Name will noch nicht so richtig flutschen, „Unfuck the world“ sei stark, aber zu negativ. Vielleicht irgendwas mit Berlin oder Olympia. Man einigt sich vorläufig auf „O“ wie Olympia, das sieht zunächst gut aus, aber höre sich wiederum seltsam an. Wenn die Kondomhersteller diskutieren, Experten wie Otto Scharmer vom MIT einladen, dann scheint es, sie verkauften eine Kaffeemaschine, ein Auto oder ein weiteres nachhaltiges Kondom. Nur heißt die Ware im Falle der Olympia-Macher Demokratie, jetzt schon für nur 29,95 Euro.

2019 gelang Philip Siefer und Waldemar Zeiler das bis dahin erfolgreichste Crowdfunding in Deutschland. Sie wollten im Juni 2020 das Olympiastadion mit 70.000 Menschen füllen und über Petitionen abstimmen. Es ist der Duktus des Silicon Valley, Social Entrepreneurship, das verspätet hierzulande ankommt. Das Unternehmertum scheint sich zu politisieren – und entpolisiert zugleich die Demokratie.

Demokratie der Wohlhabenden

Das fängt beim Preis von 29,95 Euro an, der schon klar macht, um was es hier eigentlich geht. Die Berliner Blase hat das Bedürfnis, sich mal etwas zu beweihräuchern. Geringverdienende reisen wenig, haben oft kein Auto, leben erzwungenermaßen sparsam. Tatsächlich verschmutzen Großstädter und gutverdienende Grünwähler die Umwelt oft am meisten. Ironischerweise richtet sich das Event an letztere und schließt Arme aus, da helfen auch später eingerichtete „Soli-Tickets“ wenig.

Wenige verkörpern das wie Charlotte Roche. Vor einem recht homogenen Publikum aus Mützen, Kappen und Bärten bekundet sie, sich jeden Tag schlecht zu fühlen und jetzt mal endlich etwas ändern zu wollen. Die Mutuals fühlen es, applaudieren, tun Buße kraft ihrer Hände und Lippenbekenntnisse. Danach geht es dann weiter nach Bali und in die Unternehmensberatung.

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„Unfck the world“ ist dem Vorhaben durchaus wohlgesinnt, die Macher sind nah dran, filmen nahezu jede Besprechung zwischen den beiden Gründern, hier sollte wohl eine Art Start-up-„Sommermärchen“ mit weniger Fußballern und mehr Marketingspiel entstehen.

Gründer Philip Siefer möchte statt dem bewährten „empower the people“ die „power“ „empeoplen“. Im Olympiastadion sind 2019 die Scientists 4 Future geladen und brüllen vorher abgesprochene Parolen nach Drehbuch. Selbstredend hat sich auch Luisa Neubauer an Olympia beteiligt, sie machte zuletzt mit einem NATO-Talk zur Klimakrise auf sich aufmerksam. Schließlich sei der ganze Aufriss nicht „about us, it’s about the world!“

Kritik unerwünscht

Die Doku verbringt zwei Folgen mit dieser Art von Marketing, dann wird es interessanter. Als das Crowdfunding startet, gepusht von einem Haufen orchestrierter Influencer mit Herz, stößt Olympia auf Kritik, was den Machern wenig Spaß macht, denn man wolle ja nur die Welt zu einem besseren Ort machen. Wenig später lässt Philip Siefer wissen, dass Nazis bei dem Happening willkommen seien, sodann sie sich konstruktiv beteiligten. Die Reaktionen waren damals entsprechend, teils überzogen.

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Ein Unbekannter beleidigt Siefer auf offener Straße, brüllt ihn an. Dieser zieht sich wochenlang zurück, schläft schlecht, ist sichtbar angefasst und zunächst auch nicht mehr Teil der Doku. Wenig später kehrt er zurück, lässt sich vom Transformationscoach wieder aufbauen, denn er stehe ja schon für den Change, bewege etwas, daran könnten auch „10 Journalisten“ mit ihrer Kritik nichts ändern.

Der Geist des digitalen Kapitalismus

Es gibt keine Probleme mehr, nur Herausforderungen, nur Lösungen. Dieses Schema wiederholt sich in der Doku. Rassismus, soziale Ungleichheit, Klimakrise, all das könne man „lösen“, betonen die Macher immer wieder, ohne über die genannten Schablonen hinauszugehen. Irgendwelche Petitionen im Olympiastadion werden es schon richten.

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„Unfck the world“ beschreibt, was der Soziologe Oliver Nachtwey kürzlich zum Solutionismus erforscht hat. Zu jedem sozialen Problem besteht eine technische Lösung. Ein hehres Ziel soll die Arbeiter*innen einen und verschleiert den Geist des digitalen Kapitalismus, legitimiert ihn gleichermaßen.  Dieser Solutionismus speist auch Social Entrepreneurship wie das der Olympia-Macher. Ein wenig Geld sammeln hier, ein paar Petitionen dort, und schon ist die Welt ein besserer Ort. Schade, dass Corona dieses Mega-Event verhindert hat.

„Unfck the world“, Joyn, sechs Folgen à 30 Minuten, die erste kostenfrei für alle verfügbar.

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