Das war 2012


Aber wie war es eigentlich, das Jahr? Anders gefragt: Hat Frank Ocean „Retromania“ vertont, das Buch der Bücher 2012? War Lana Del Rey verheerender als jeder Shitstorm? Waren wir nicht alle ein bisschen Dubstep? Ein Rückblick auf 40 Seiten.

Das Gespräch zum Jahr

„Ignoranten sind das beste, was der Musik passieren kann“

Also: Wie war es jetzt, das Popjahr 2012? Ein bilanzierendes Gespräch mit Simon Reynolds, Autor von „Retromania“, dem meistdiskutierten Popbuch des Jahres.

Ein sonniger Morgen in South Pasadena, eine halbe Autostunde von Hollywood entfernt. Simon Reynolds, der nächstes Jahr 50 wird, sitzt im Erdgeschoss seines Hauses, die Kinder spielen oben, seine Frau ist unterwegs. Für den Haushalt eines Musikkritikers und einer Lektorin sieht man erstaunlich wenige Platten, CDs, Bücher. Und für jemanden, der das Neue so lieben möchte, sieht der Computer recht alt aus, auf dem Reynolds seine Sehnsucht nach diesem Neuen aufgeschrieben hat. „Retromania“, im englischsprachigen Original 2011 erschienen, auf Deutsch 2012, hat den Popdiskurs des Jahres beherrscht. Dabei war der Befund, dass dem Pop das Neue abhandengekommen ist, nicht neu. Auch nicht für Reynolds selbst, sein Unbehagen hat sich über lange Zeit entwickelt. Und dann hat er damit ein ganzes Buch gefüllt: über die Vergangenheit, die im Pop nicht mehr vergehen will. Um Vergangenheit, die jüngste, geht es auch an diesem Morgen: In zweieinhalb Stunden bilanziert Reynolds im Gespräch das Jahr 2012. Das Interview endet erst, als es nicht mehr anders geht: Die New York Times ruft an, Reynolds hat für die Sonntagsausgabe die neue Platte von Ke$ha besprochen, nun naht der Redaktionsschluss, und einige Zeilen müssen noch raus. Das wird dann ganz altmodisch erledigt. Am Telefon, Satz für Satz.

Mr. Reynolds, war 2012 ein gutes Jahr für die Retromanie? Sind wir nach wie vor von der Vergangenheit besessen?

Hm, was kam denn dieses Jahr raus, bei dem man gleich daran denken würde?

Lana Del Rey.

Richtig.

Wobei „Video Games“ schon im Herbst 2011 auf YouTube auftauchte und Lana Del Rey zu diesem Irrsinns-Instanthype machte, den fast alle bald hassten. Das Album erschien erst Anfang 2012.

Und jetzt ist Lana schon fast wieder vergessen. Als ob sie nie passiert wäre. Das hat sicher mit der Verbreitung zu tun: Das Internet – jedenfalls, wie wir es heute benutzen – schafft zwar unmittelbare globale Aufmerksamkeit, aber keine Verweildauer mehr für neue Künstler.

Als solche scheint Lana Del Rey einem Stereotyp zu entsprechen, den Sie im Buch beschreiben: der Musiker, der sich als Kurator begreift, als Auffinder, Sortierer, Zusammensteller des Vorhandenen, der Referenzen und Zitate. Nicht als Schöpfer von etwas Neuem.

Auch richtig.

Leute kuratieren ja jetzt alles Mögliche, sogar ihr Leben. Während Lana Del Rey als Musikerin wie Videoproduzentin von der Kritik als ziemlich clevere Kuratorin beschrieben wurde, wurde sie als selbst erschaffene Popfigur zumeist abschätzig behandelt, sexistisch mitunter: die Tussi mit den aufgespritzten Lippen. Woher kommt diese Unterscheidung?

Es stimmt, auch in vielen US-Medien wurde sich über sie lustig gemacht, ziemlich übel sogar. Das Mantra war: „Sie glaubt, sie ist cool, aber sie ist es nicht.“ Dem liegt ein sehr altes Verständnis von Coolness zugrunde, was vermutlich damit zusammenhängt, dass die Rezensenten darüber den Kopf schüttelten, wie eine junge Frau heute auf Referenzen wie David Lynch und Chris Isaak kommen kann. Das halte ich für Quatsch. Klar, man merkt der Idee „Lana Del Rey“ das Konstruierte natürlich an – doch die Idee ist eben sehr, sehr gut konstruiert. Manches mag einem zu offensichtlich vorkommen, manches ist schon durch viele Revivalstufen gegangen, etwa die 50er-Jahre-Rock’n’Roll-Referenzen. Man meint, vieles schon zu gut zu kennen. Aber für ein jüngeres Publikum ist das alles ziemlich neu.

Und für das ist es ja gemacht, nicht für ältere Männer.

Wie mich? Ich habe Lana interviewt, und dabei kam es mir vor, als sei das wahre Problem, dass man bei ihrem Konzept kein Dahinter erkennt. Vielleicht gibt es auch gar kein Dahinter. Lana erschien mir besessen von Filmen, besessen von Oberflächen, ihre Lyrics handeln häufig auch von dieser Oberflächen-Besessenheit, etwa vom Aussehen eines Jungen. Aber ich fand im Gespräch mit ihr nicht heraus, was der größere Zusammenhang sein könnte. Mir kam es fast vor, als betrachte sie die Figur und das Konzept „Lana Del Rey“ selbst als eine Art Spielfilm, sozusagen „based on a true story“. Aber doch ein Film, durch dessen Erzählung sie Gefühle ausdrückt, womöglich ja sogar eigene, erlebte. Aber sicher bin ich mir nicht.

Bei wem waren Sie sich dieses Jahr sicher?

Dieses Jahr ist irgendwie nicht viel hängen geblieben, jedenfalls nichts so eindeutig Retrohaftes wie im letzten Jahr etwa Adele und all die anderen, die völlig ungebrochen den Soul von 1965 nachsangen. Letztes Jahr gab es auch noch das ewige 80er-Jahre-Elektropop-Revival und die Bands, die klangen, wie Hipstamatic-Fotos aussahen.

Tame Impala haben dieses Jahr auch ein Album herausgebracht, die qualifizieren sich doch zur Hipstamatic-Band?

Tun sie, aber dieses Jahr klingen sie mehr nach Beach Boys, letztes Jahr klangen sie noch nach Beatles, circa „Paperback Writer“. Letztes Jahr gefielen sie mir besser.

Mir gefiel das Chromatics-Album dieses Jahr noch besser als alle von Tame Impala. Die Chromatics sind natürlich auch hipstamatic, durch die Linse der späten 70er und frühen 80er. Da gab es wie bei Lana Del Rey die Video-Erzählungen und sogar Fashion: Die Chromatics haben für Chanel gespielt. Schon ein wahnsinnig kuratierter Bandentwurf.

Was ist mit den Black Keys? Die laufen hier in Los Angeles immer noch andauernd im Radio, und deren Musikverständnis ist, wenn nicht retro, so einfach altmodisch.

Django Django? Alt-J? Breton?

Möglicherweise eint diese Bands keine eindeutige Retromanie, dafür sind sie einfach zu eklektisch in ihren jeweiligen Referenzen. Doch bei allen hat man dieses seltsame Gefühl, das sagt: Ich hab das irgendwo schon mal gehört. Die Musik ist auch häufig zu clever gemacht, und einen Großteil ihrer Cleverness scheinen die Bands darauf zu verwenden, die Tatsache zu verschleiern, dass sie im Grunde nichts Neues zu sagen haben.

Sehnt man sich denn nicht genau danach, nach cleveren Bands? Im Gegensatz zu den vielen stumpfen?

Ich weiß, das klingt unfair, aber ich habe da diese Theorie über Bands, die ich ihrer Idee nach für mehrfach abgeleitet halte: Je mehr Referenzen sie zitieren, umso weniger glauben sie, fürchten zu müssen, dass man ihnen auf die Schliche kommt. Die Black Keys sind da vergleichsweise leicht auszurechnen. Sie beziehen sich auf eine überschaubare Epoche und ein klares Genre, nämlich groovy Hardrock, und den kann man vermutlich gar nicht besser machen, als er in den frühen 70ern war. Das kann man mögen oder nicht, diskutieren kann man darüber kaum. Dann gibt es aber all jene Bands, die bloß nicht reduziert werden wollen auf einen, sagen wir, Quelltext. Deshalb klauen sie an möglichst verschiedenen Stellen.

Muss das immer eine absichtsvolle Strategie sein? Frank Ocean ist auch Eklektiker, doch er ist das im R&B, der seit Jahren komplett formatiert schien. Dann kommt da plötzlich ein Mann mit einer außergewöhnlichen Gesangsstimme, einer echten Erzählstimme, und selbst wenn man ihn musikalisch in der Tradition von Prince und D’Angelo begreift, ist sein bloßes Auftauchen doch schon eine Befreiung für den R&B.

Klingt alles sehr gut. Nur habe ich sein Album bislang erst ein einziges Mal gehört, ich könnte also nicht seriös über Frank Ocean sprechen.

Tja. Mist.

Doch ich habe einige höchst positive Besprechungen seines Albums gelesen von Kritikern, die ich sehr schätze, und in diesen Texten war häufig auch von den Alleinstellungsmerkmalen die Rede. Da könnte ich nun mit Adele kontern, mit der ich mich erheblich mehr beschäftigt habe: Deren Album war ja insofern außergewöhnlich, als dass ein Großteil der Lyrics Beschreibungen eines gebrochenen Herzens waren. Das ist ein vergleichsweise selten gewordener Topos. Popmusik sämtlicher kommerzieller Genres behandelt heute eher Gefühle von Begehren, Lust, Befriedigung einerseits, oder sie handelt andererseits vom Feiern, vom Coolsein. Nur macht der Schmerz, den Adele in ihren Liedern ausdrückt, Adele bereits zu einer Künstlerin, die uns weiterbringt? Sie erzählt wahrhaftig, das ja, aber das wäre jetzt ein weites Feld. Oder wollen wir von der Authentizität in der Popmusik anfangen?

Besser nicht. Reden wir vom Gegenteil: von Madonna. Wie fanden Sie deren Jahr?

Ich habe vor relativ langer Zeit aufgehört, mich mit ihr zu befassen.

Dabei ist sie doch mal Expertin darin gewesen, den Anschein von Gegenwärtigkeit zu erwecken. Das hätte Sie doch interessieren müssen, das Madonna-Konzept: Nimm aus dem weiten Feld der Dance Music etwas halbwegs Neues, das aber noch nicht jeder kennt, drück deinen Stempel drauf und setze es im Mainstream durch. Madonna hat sich schon wieder neu erfunden, mit einem neuen Sound.

Aber spätestens, als damals auf das trancig-spirituelle Ray Of Light dieses aufgepimpte French-Touch-Album Music folgte, hatte sich die Methode selbst als wahllos verraten: Es mag eine Berechtigung für Songs wie „Music“ geben oder meinetwegen für „Last Night A DJ Saved My Life“, aber sie sind nicht substanziell.

Ist Ihnen aufgefallen, dass Madonnas Stimme immer jünger klingt? Bis Ray Of Light hatte sie sich langsam dunkler eingefärbt, so wie man das beim Altern erwarten würde. Heute klingt sie fast wieder so hoch wie zu Beginn ihrer Karriere. Es hilft natürlich auch nichts, wenn man sich als Mittfünfzigerin noch als große Schwester jüngerer Frauen wie M.I.A. und Nicki Minaj ausgibt und sie Girls nennt. Älteren Männern lässt man ihre Verschwitztheit durchgehen.

Da existiert auf jeden Fall ein doppelter Standard. Man muss nur an Mick Jagger denken. Neil Young wiederum sah schon immer so aus wie einer, dem nie jemand gesagt hat, er solle für seine Haare mal Conditioner benutzen. Dafür kam er einem auch nie jung vor, darum ging es bei ihm nicht. Im Gegensatz zu Jagger, der ja als Frontmann auf ewig den jungen Mann spielen wird. Das ist auch die ganze Bedeutung der Stones: Sie haben einst das Recht der Jugend gegen die Alten durchgesetzt, dann aber sozusagen den Generationenvertrag der Popkultur gebrochen, wonach jede Generation von der nächstjüngeren verdrängt und abgelöst wird. Die Stones haben einfach nie Platz gemacht.

Dafür wurden sie aber bestraft, nämlich mit dem Gerede von der Würde, die sie angeblich irgendwann verloren haben.

Die Stones haben als Band ihre rebellischen Posen aufgegeben, nach und nach. Bis Jagger die Stones nur noch als Bluesband verstanden wissen wollte. Die Argumentation ist klar: Blues kann man immer spielen, bis ins hohe Alter, siehe John Lee Hooker, Blues handelt nie wirklich von der Jugend. Aus den Stones wurde aber selbstverständlich in erster Linie ein Nostalgie-Act, und das hat mit Blues nichts zu tun.

Andererseits stellen die Stones ihre eigene Parodie auf der Bühne heute gleich mit dar. Man blick in Charlie Watts‘ stoisches Gesicht.

Und ob Watts das will oder nicht, sein Gesicht sagt: Schau dir den Hampelmann da vorne an, diesen Jagger.

Ist das nicht ein irre guter Trick, dass die Stones ihre eigene Antithese gleich selbst mitverkörpern?

It’s only Rock’n’Roll.

Kann Rock – in Form der Punk-Widerstandsgeste – heute überraschenderweise doch wieder politisch sein? Die Verhaftung von Pussy Riot, der Prozess und die Urteile waren das politische Musikereignis des Jahres.

Und ich fragte mich anfangs, ob Pussy Riot die Anregung für ihre Aktion womöglich aus Greil Marcus‘ Buch „Lipstick Traces“ hatten. Pussy Riot haben die ultimative Punk-Handlung begangen, vergleichbar mit der Aktion der Sex Pistols, als „God Save The Queen“ herauskam und sie auf einem Boot die Themse entlanggondelten, vorbei am Parlament. Der Unterschied ist, dass Pussy Riot nicht nur ein tatsächliches Risiko eingegangen sind, verhaftet zu werden, sondern am Ende sogar verurteilt wurden. Die Bedingung für die Wirksamkeit und Konsequenz dieser Punk-Handlung ist eben, dass sich das politische System, gegen das sie sich richtet, durch Musik tatsächlich bedroht fühlt und das zuständige Gericht entsprechend beeinflussen kann.

Die Punk-Handlung wird nur wirksam, wenn sich der Staat als so autoritär herausstellt, wie die Punk-Handelnden es vermuten? Sie führen sozusagen den Beweis?

Deshalb war „Rock The Casbah“ von den Clash ja auch nichts anderes als ein Neideingeständnis von Joe Strummer den Leuten gegenüber, die in Ländern lebten, wo Musik wirklich verboten werden konnte, damals im Mittleren Osten. Die Sehnsucht des Punk war die eigene Unterdrückung, und das Schlimmste war, stattdessen toleriert zu werden. Die Sex Pistols haben wirklich alles versucht, um echte Schwierigkeiten mit der Obrigkeit zu bekommen. Es ist ihnen in Großbritannien nie richtig gelungen. Wo ist der Punk dort heute? Im Museum. Oder in der Fernsehwerbung.

Oder bei den Olympischen Spielen. Wie fanden Sie die Eröffnungszeremonie und die Schlussfeier von London?

Die Eröffnung fand ich großartig, den Abschluss fürchterlich. Auch wenn ich seit 1994 in den USA lebe, hat mich die Eröffnung als Brite berührt. Natürlich wurde da nicht die militaristische Geschichte gezeigt, es wurden die zivilen und kulturellen Errungenschaften gefeiert, die Gesundheitsfürsorge und die Kinderliteratur. Als dann noch Dizzee Rascal auf die Bühne kam, das war toll! Der Versuch einer britischen Pop-Geschichtsschreibung in der Schlussfeier ging hingegen völlig schief. Allein eine Quatschband wie die Kaiser Chiefs die Who nachspielen und Russell Brand „I Am The Walrus“ singen zu lassen: geschmacklos, schrecklich.

So patriotisch kann kein Brite sein, dass er das aushielte?

Man hat, egal wie patriotisch, Ohren und Augen.

Die Pophistorie aus britischer Perspektive wurde in der Abschlussfeier als eine Art ewiges Kontinuum der Aufregung dargestellt. Doch Langeweile oder Schwächephasen wären in dem Rahmen ja vielleicht auch widersinnig gewesen. Oder?

Wenn man die Kunst- oder Literaturgeschichtsschreibung zum Vergleich heranzieht, die beide wesentlich längere Zeiträume umfassen als Popmusik überhaupt existiert: Da gab es immer wieder endlose Phasen totaler Langeweile. Nach der elisabethanisch-jakobäischen Epoche, nach Shakespeare und Marlowe, passierte in der englischen Literatur zunächst mal fast 50 Jahre gar nichts außer Wiederholung, bis John Milton „Paradise Lost“ schrieb, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Kunstformen haben nun mal Hochphasen, auf die Epochen folgen, die verzweifelt versuchen, aus dem Schatten ihrer Vorgängerepoche zu treten. Wenn man beim Pop nicht von Niedergang sprechen mag, so doch von einer Veränderung: Ein Großteil der heute veröffentlichten Popmusik ist Musik über andere Musik, sie ist inhaltlich und formal rückbezüglich; ihr fehlt das dynamische Verhältnis früherer Popmusiken zu ihrer Zeit und den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Den Spezialfall Pussy Riot mal ausgenommen: Bei dem ging es ja auch nicht um den musikalischen Inhalt, sondern um den Ort seiner Aufführung, eine religiöse Stätte.

Wann war es nicht langweilig? Wann produzierte Pop aus eigener Kraft eigene Gegenwarten?

In den 60er-Jahren, klar. Und zu Zeiten des Punk und Postpunk, in den frühen Tagen des HipHop, während der Techno- und Rave-Hochzeit. In diesen Phasen gab es ein Gefühl, dass die Popkultur, wenn sie die jeweiligen Verhältnisse nicht änderte, so doch zumindest mit ihnen in Verbindung stand. Das ist vorbei. Rockmusik ist größtenteils mit sich selbst beschäftigt. Selbst HipHop ist, obwohl er noch nicht völlig retro ist, ein sich selbst erhaltendes System ständigen Meta-Sprechens: Rapper erzählen vom Ruhm, den sie durchs Rappen anstreben oder bekommen haben. Dance Music hingegen ist, weil sie in erster Linie funktionale Musik ist, noch am ehesten im Jetzt verankert. Doch selbst da gibt es Retro-Tendenzen, Wiederaufnahmen von früheren Stilen. Neue Genres oder Bewegungen hat aber auch sie in den letzten zehn, 15 Jahren kaum hervorgebracht, und das wäre ja immerhin ein Indiz für eine Fortentwicklung.

Was ist mit Dubstep?

Der hat sich leider erst nach der Fertigstellung meines Buches als neuer Sound, als Genre und Bewegung endgültig massenhaft durchgesetzt. Heute wissen meine Kinder bereits, was Dubstep ist, und meine Tochter ist erst sechs Jahre alt! Justin Bieber hat gerade eine Single draußen, die einen Dubstep-Backingtrack besitzt, auf den ein Popsong aufgepfropft wurde. In der Hinsicht hat Dubstep den klassischen Prozess einer Subkultur durchlaufen, die allmählich anschlussfähig wird mit einem Sound, der ältere Menschen verschreckt und deshalb für jüngere als generationsrelevant für sie selbst erkannt wird: „Das ist unser Sound, und wer ihn nicht versteht, ist zu alt dafür.“

Ist Dubstep nicht retro, weil er schon im Namen einen Herkunftsnachweis trägt und seine Rückbezüglichkeit gar nicht verheimlicht? Natürlich entsteht dann im Lauf der Entwicklung hin zur Bewegung so etwas wie eine klangliche und strukturelle Syntax, die neu erscheint oder jedenfalls neuer als bei anderen eingeführten Genres.

Dubstep hatte zu seiner Selbstformulierung genug Zeit, erstaunlich viel Zeit sogar. Das war schon ein sehr langer Weg von den Londoner Piratensendern bis zu Justin Bieber, über „Ni**as in Paris“ von Jay-Z und Kanye West. Das waren fast zehn Jahre, etwa so lange, wie der HipHop aus der Bronx brauchte bis zu Run DMC und den Beastie Boys auf MTV. Als ich „Retromania“ fertig schrieb, habe ich die letzte Phase von Dubstep, in der dann alles explosionsartig ging, nicht vorhergesehen. Ich habe Dubstep ursprünglich als eine Art Verlängerung der 90er-Jahre begriffen, auch weil die Protagonisten anfänglich vergleichsweise alt waren, Thirtysomethings. Das schienen Überlebende von Two Step und UK Garage sein, die mit Jungle und Drum’n’Bass sozialisiert worden waren und sich ins neue Jahrzehnt gerettet hatten. Erst um 2006, 2007 übernahmen langsam die Jungen. Die hatten im Gegensatz zu ihren Vorgängern kein ausgebildetes historisches Bewusstsein. Und das ist eine Voraussetzung für eine Bewegung: Die Jungen können nicht nostalgisch sein, weil sie noch keine historischen Bezüge und Referenzen aus eigenem Erleben herstellen konnten. Ignoranten sind häufig das Beste, was Musikgenres passieren kann: Sie sind die, die das Neue bringen. Das mögen die Orthodoxen natürlich nie. Die Ur-Dubstepper betrauern selbstverständlich den Weg, den Dubstep genommen hat. Doch das gehört zu jeder Fortentwicklung eines Genres: die Klage der Alten, der Connaisseure, der Gelehrten.

Letztlich auch von Leuten wie Ihnen? Haben Sie als Musikjournalist, der das Neue einfordert, da nicht ein schlechtes Gewissen: Nun legt sogar Mercedes unter seine Werbespots kreischige Dubstep-Tracks. Das Neue wird wie früher sofort von der Konsumwerbung kopiert und synthetisiert.

Das war schon immer der Zwiespalt der Idee des Neuen – dass sie selbstverständlich auch immer im kapitalistischen Waffenschrank steht. Das ist eine Kritik an meinem Buch, die ich häufig gehört habe: Dass man doch schon deshalb nicht fürs Neue sein könne, weil die Idee des heißen Scheiß, des „Next Big Thing“, zwangsläufig zur Verwandlung alles Neuen in kommerzielle Handelswaren führt. Und nicht alles Neue sei notwendigerweise ja auch gut. Ob also Tradition und deren Pflege heute nicht eine Form von antikapitalistischem Widerstand sei?

Pop als Kreislaufwirtschaft. Damit ließe sich jedes Musikrecycling rechtfertigen. Dann würde das Neue immer schon unter dem Vorbehalt stehen, dass es viel Müll produziert. Und die beste Müllvermeidung wäre es, ewig die gleichen alten Beatles-Platten zu hören. Dann wären wir im Pop endgültig in der Sphäre des Umweltschutzes angelangt.

Aber der Hinweis ist da, wo das Neue in Form von Geräten kommerziell verkauft wird, gar nicht so falsch: Außerhalb der Musik produziert die Idee des Neuen zum Beispiel einen Haufen Elektroschrott – Handys und Laptops, die erst zwei, drei Jahre alt sind, aber schon als überholt gelten. Das Neue als materielles Produkt wird heute zwangsläufig sehr schnell alt. Und damit nutzlos: ein Wegwerfprodukt, ein Umweltproblem. Das musikalisch Neue hingegen kann man heute rückstandsfrei entsorgen. Einfach von der iTunes-Bibliothek in den Papierkorb werfen und löschen. Das ist doch beruhigend, nicht? Nein, okay: Das ist es nicht.

Simon Reynolds

Geboren 1963 in London und aufgewachsen in Manchester, schrieb Reynolds sein erstes Buch mit Mitte 20: 1990 erschien „Blissed Out: Raptures Of Rock“. Anschließend veröffentlichte er Schriften über Rave, Post-Punk und Post-Rock sowie Musikkritiken in britischen und amerikanischen Medien. „Retromania“ entstand in New York und Los Angeles.