Platten

„Extra! Extra! Read all about it

musikexpress in a miracle cure!

Extra! Extra! Read all about it“

„Miracle Cure„, The Who, 1969

Betr.: Alles (neu) Wer sich bis zu dieser Stelle in der aktuellen Musikexpress-Ausgabe durchgeblättert hat, und wem dabei die Renovierung und Verschönerung von, äh, allem nicht aufgefallen ist, dem ist wahrscheinlich nicht zu helfen. Auch auf den gelben Seiten ist alles größer (die Plattencover, die großen Besprechungen mit Foto, die Kolumnen,die anderen Rubriken) und schöner (die neuen Schriften, sind sie nicht einfach wunderschön?) und toller und aufgeräumter geworden. Einmal im Januar-Heft nicht den Winterschlaf der Plattenfirmen thematisieren zu müssen, darüber freut sich Plattenmeister Koch

Poppy Ackroyd

Escapement

Denovali/Cargo (VÖ: 14.12.)

Meditative Soundlandschaften mit Hang zu tiefgrauen Zwischentönen.

Rein instrumentale Musik hat es in Zeiten der ständigen medialen Beschleunigung nicht leicht, Beachtung zu finden. Für Escapement, das erste Solo-Album der klassisch ausgebildeten Musikerin und Komponistin (Klavier, Geige) aus Edinburgh, muss man als Hörer vor allem viel Zeit mitbringen. Zeit, sich in diese wunderbar nebelverhangenen Nummern zu vertiefen, mit denen sich Poppy Ackroyd außerhalb der klassischen Popmusik-Formate positioniert. Musik, die das Leben entschleunigt, ohne dabei in Kitsch und Wohlklang abzugleiten. In den sieben Songs setzt die Musikerin vor allem auf sanft dahingleitende Klaviermelodien, die sie meist konventionell spielt, aber hin und wieder auch mit den Fingern zupft oder mithilfe eines Plektrums oder E-Bows erzeugt. Der Rest spielt sich fast komplett in den Zwischenebenen ab. Ein sanftes Klopfen und Kratzen, gepaart mit raffiniert verschachtelten Beats und Percussionklängen. Manches davon erinnert an die Musik von Künstlern wie Max Richter, Olafur Arnalds und Hauschka. Poppy Ackroyd, die in letzter Zeit öfter eng mit dem Hidden Orchestra (Tru Thoughts) zusammenarbeitete, hat in den vergangenen Jahren eine ganz eigene Stilbalance für ihre Kompositionen gefunden, die sich zu gleichen Teilen aus Klassik und zeitgenössischer Elektronik speist. Abgerundet mit ein paar ausgesuchten Field Recordings, die Poppy Ackroyd auf den Äußeren Hebriden und im Norden von Schottland aufgenommen hat, ergibt das eine zutiefst faszinierende Klangmischung.

**** Franz Stengel

The Avett Brothers

The Carpenter

Island/Universal

Die amerikanische Band lockert ihren Country-Folk einmal mehr mit viel Pop-Sensibilität auf.

Man kann schon verstehen, warum Rick Rubin zum zweiten Mal diese Band produzieren wollte. Sie dürfte ihn an ein Kapitel aus seiner eigenen Vergangenheit erinnern. An die Zusammenarbeit mit The Jayhawks nämlich, die in den 90er-Jahren mehrere zum Teil exzeptionelle Alben für Rubins Label American Recordings aufgenommen haben. Das Grundprinzip ist ähnlich. Auch The Avett Brothers sind unzweideutig in Country und Folk vernarrt und geben dabei ein Bild von bodenständigen Musikern ab. Gleichzeitig verfügen sie über genügend Pop-Sensibilität, die auch für Hörer außerhalb der genannten Genres und außerhalb der USA interessant ist. In die Melancholie von „Winter In My Heart“ etwa kann man sich bei uns zu dieser Jahreszeit problemlos hineinversetzen. Durch „Live And Die“ schlängelt sich das Banjo, aber die Melodie ist so kraftvoll, dass man an moderaten Rock aus den Siebzigern denkt. Durch „I Never Knew You“ zieht sich die Euphorie und der Drang der früheren Songs und Produktionen von Nick Lowe. Zehn Jahre sind seit dem ersten Album der Avett Brothers vergangen. Sie wissen längst, was sie tun, und vertiefen sich trotz größerer Erfolge in jüngster Zeit immer noch mit Verve in ihre Arbeit. „I’m rested and I’m ready to begin“, singt Seth Avett in „February Seven“. Der Mann ist bereit. Leisten wir ihm und der Band ruhig zahlreich Gesellschaft, es lohnt sich fürwahr.

****1/2 Thomas Weiland

Björk

Bastards

One Little Indian/Rough Trade

Was für ein Service! Dank dieser Remix-Platte darf man die Songs von Björks letztjährigem Album Biophilia jetzt mit mehr Musik genießen.

War ja klar, dass das kommen würde. Wenn man Songs mit so vielen Freiräumen wie in denen auf Biophilia veröffentlicht, spricht man automatisch eine Einladung an andere Produzenten aus, damit noch etwas mehr anzustellen. Frau Gudmundsdottir hat die hier versammelten Bastarde persönlich in Auftrag gegeben und Anfang des Jahres häppchenweise veröffentlicht. Überraschend ist sicher die Mitwirkung des Syrers Omar Souleyman, der „Crystalline“ und „Thunderbolt“ mit komplett neuem Arrangement in die orientalische Disco befördert. Das hat dann schon mehr mit ihm als mit ihr zu tun, was diejenigen beruhigen wird, die mit Björks Stimme nach wie vor ihre Probleme haben. Man kann verstehen, warum Souleyman ausgerechnet auf „Thunderbolt“ angesprungen ist. Schon im Original steckte eine internationale Note, die an Le Mystère des Voix Bulgares erinnert, die Ende der Achtziger für einen Hauch von Exotik im Pop sorgten. Grundsätzlich sind alle Produzenten respektvoll mit dem anvertrauten Material umgegangen. Der Dubstep von 16bit passt auffällig gut zu „Hollow“. Hudson Mohawke verliert nach wie vor nicht die Balance, wenn er seine Beats neben dem Takt platziert. Tim „Current Value“ Hielscher hält seinen sonst oft brutalen Darkstep ebenfalls im Zaum. Nur Matthew Herbert leistet sich eine Geschmacksverirrung. Er hat seinem Mix von „Mutual Core“ den Namen „Teutonic Plates“ gegeben und ihn mit böser Ballerei versetzt. Darauf kommen nur ewig Blöde, die Deutsche immer noch mit Kriegstreiberei verbinden.

**** Thomas Weiland

Jesse Boykins III & MeLo-X

Zulu Guru

Ninja Tune/Rough Trade

Ein Soulsänger und ein Rapper haben im Verbund einen geheimnisvollen Trip ausgetüftelt.

Wer sich gerne unter der Oberfläche umsieht, ist sicher schon mal auf die Namen dieser beiden Herren gestoßen. Jesse Boykins III hat vor vier Jahren sein Debütalbum The Beauty Created veröffentlicht und gilt seitdem als Soulsänger mit Zukunft. MeLo-X will sich im Minimal-HipHop häuslich einrichten, seinem jüngsten Album Fewture nach zu urteilen. Er hat auch schon ein paar Stücke von Maxwell gemixt. Mit diesem Wissen im Hinterkopf ist man dann auch schon recht nahe an dem dran, was auf diesem ersten Gemeinschaftswerk geboten wird. Es ist nicht übertrieben, wenn man von der Musik auf Zulu Guru an eine der größten Arbeiten aller Zeiten im Soul erinnert wird. Boykins und MeLo-X haben sich an die Nachbehandlung von Marvin Gayes What’s Going On gemacht und sich von der Idee leiten lassen, wie dieser Klassiker in einem futuristischen Labor und mit allerlei exzentrischen Abschweifungen klingen könnte. MeLo-X und verschiedene Kollegen steuern Raps bei, die sich mit dem geschmeidigen Falsettgesang von Boykins III abwechseln. Spoken-Word-Beiträge lassen eine Tendenz zu Afrozentrismus erkennen. Aber Vorsicht! Die beiden Künstler erwecken nie den Eindruck, als seien sie in irgendeiner Art von Rasterdenken gefangen. Man stößt auf Einflüsse aus aller Welt, auf karibische, afrikanische, asiatische, und auf welche aus der elektronischen Musik Europas. Heraus kommt ein intensiver und auch etwas geheimnisvoller Trip, der Fans der genannten Musikrichtungen absolut zu empfehlen ist.

**** Thomas Weiland

Vinicius Cantuária

Indio De Apartamento

Naive/Indigo

Der Feingeist des zeitgenössischen Bossa Nova hat seinen Sound noch mehr reduziert.

Das soll ein Brasilianer sein? Vinicius Cantuária wird nicht böse sein, wenn man sich diese Frage stellt. Mit den vielen Bewohnern des Landes, die etwas vom Feiern verstehen und zu temperamentvoller Musik tanzen, hat er nichts zu tun. Er ist die personifizierte Antithese. Sein Markenzeichen ist eine fast schon provozierende Zurückhaltung bei der Interpretation des Bossa Nova. Er liebt die Andeutungen und den sanften Umgang. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Es hat in letzter Zeit ein paar schöne Alben von ihm gegeben, bei denen die intellektuellen Motive seines Schaffens immer allgegenwärtig waren. Aber dabei war auch unterschwellig Esprit erkennbar. Silva etwa gefiel mit Streicher-, Bläser-, Perkussionzusätzen und Gitarren. Dieses Mal aber übertreibt es Cantuária mit der Reduktion der Arrangements. Es werden einige Gastmusiker genannt: Sänger Jesse Harris, Ryuichi Sakamoto und Norah Jones am Piano und Bill Frisell an der elektrischen Gitarre, mit dem Cantuária das vorangegangene Album Lágrimas Mexicanas aufgenommen hatte. Aber eigentlich hört man die ganze Zeit nur die Akustikgitarre und die Flüsterstimme dieses Feingeistes. In „Moça Feia“, dem besten Stück des Albums, ist noch ein Hauch von Rhythmus geblieben. Sonst bleibt alles im minimalen und introvertierten Rahmen und orientiert sich von der Stimmung her am portugiesischen Fado. Etwas zu sehr.

*** Thomas Weiland

Neneh Cherry & The Thing

The Cherry Thing Remixes

Smalltown Supersound/Indigo

Remix: Four Tet, Jim O’Rourke, Merzbow, Lindstrøm & Prins Thomas u. a. legen Hand ans Gemeinschaftsalbum des Freejazz-Trios mit Neneh Cherry.

Wir erinnern uns: Im Juni wurde The Cherry Thing veröffentlicht, das gemeinsame Album des skandinavischen Power-Freejazz-Trios um Mats Gustafsson, The Thing, mit der fast vergessenen HipPop-Sängerin Neneh Cherry. Es war gleichermaßen Hommage an den „melodischen“ Freejazz der AACM-Schule wie Denkmal für die Großen der Musikgeschichte: Cherry & The Thing coverten Songs von Suicide, MF Doom, Martina Topley-Bird, The Stooges, Freejazz-Erfinder Ornette Coleman und dessen langjährigem Sideman Don Cherry – Nenehs Stiefvater. Ob man von diesem großen übersehenen Album unbedingt eine Remixversion braucht, ist – wie immer in solchen Fällen – nicht abschließend zu klären. Aber wie so oft verstecken sich in der Fülle der Remixe ein paar Perlen, zum Beispiel der von Kieran Hebden aka Four Tet vom bluesigen „Dream Baby Dream“ von Suicide. Four Tet hat die Melodie neu und klingeling-glöckchenhaft eingespielt und einen straighten, offensichtlich handgespielten Beat hinzugefügt, der hübsch mit Cherrys wie beiläufig eingeflechtetem Gesang kontrastiert. MF Dooms „Accordion“ baut sich im Remix von Multitalent Jim O’Rourke im Lauf von sechs Minuten zu einem verstörenden Noise-Ungetüm auf, das die federnden, synkopierten Rhythmen des Originals links liegen lässt. Mats Gustafssons Freejazz-Worldmusik-Hybride „Sudden Moments“ wird in der Umarbeitung des japanischen Noise-Terroristen Merzbow nur im Mittelteil zur anstrengenden Kakofonie. Wie gesagt, vielleicht braucht man dieses Album gar nicht, es genügt unter Umständen die 12-Inch mit dem Four-Tet-Remix.

*** Albert Koch

Cody Chesnutt

Landing On A Hundred

One Little Indian/Rough Trade

Ein zeitloses Memphis-Soul-Album mit ganz viel Seele und einer Extraportion Hingabe.

Es gibt nicht wenige Fans des Sängers und Musikers aus Atlanta, Georgia, die seit seinem im Jahr 2002 veröffentlichten bahnbrechenden Debütalbum The Headphone Masterpiece auf den Nachfolger gewartet haben. Cody Chesnutt präsentiert zehn Jahre später sein zweites Album und enttäuscht nicht, auch wenn natürlich der Aha-Effekt von damals ausbleibt. The Headphone Masterpiece genießt inzwischen weit über die Soul- und HipHop-Szene hinaus Klassikerstatus. Auf Landing On A Hundred überzeugt der 1968 geborene Musiker erneut als sensibler, aufgeweckter Geschichtenerzähler, der in Songs wie „What Kind Of Cool (Will We Think Of Next“ und „Love Is More Than A Wedding Day“ auf berührende Weise über die kleinen und großen Fragen des Lebens nachdenkt. Die Auszeit, die sich Chesnutt vom Musikgeschäft gegönnt hatte, hat ihm gut getan. Befreit von jedem Druck macht er da weiter, wo er vor zehn Jahren aufhörte, mit einer formvollendeten Mischung aus Soul-, Rhythm & Blues-, Gospel-, Rock- und Pop-Elementen. Entstanden sind die zwölf neuen Tracks mit einer zehnköpfigen Band in den Royal Studios in Memphis. Ein geschichtsträchtiger Ort, verbunden mit berühmten Namen wie Al Green, Buddy Guy und Ike & Tina Turner.

***** Franz Stengel

Jason Collett

Reckon

Arts & Crafts/Rough Trade

Hohe Singer/Songwriter-Kunst aus den Ingredienzen Folk, Country und Pop auf dem sechsten Soloalbum des Mannes aus Toronto.

Gibt es so etwas wie ein kanadisches Songwriter-Gen? Die Frage klingt erst mal blöd, ist aber so abwegig nicht: Lieder, die besoffen sind vor Melodienseligkeit; Lieder, die vergehen vor Melancholie; Lieder, die von der Ferne träumen, gerade so, als würden sie auf silbernen Schwingen über endlose Prärien schweben. Und die Namen dazu lauten: Neil Young. Bruce Cockburn. Gordon Lightfoot. Arcade Fire. Und Jason Collett. Jener Jason Collett, der einst bei dem Allstar-Kollektiv Broken Social Scene (mit unter vielen anderen Leslie Feist, Emily Haines und Amy Millan) und später als Solokünstler aufhorchen ließ und nun mit Reckon sein neues sechstes Soloalbum vorlegt: 15 Songs, kaum einer länger als zweieinhalb bis drei Minuten, viele davon berückend schöne Folk- und Country-Miniaturen zur Akustikgitarre – mit gelegentlichen Ausreißern in Richtung Tanzbarkeit (das fast schon funkige „You’re Not The One And Only Lonely One“, das ska-informierte „I Wanna Rob A Bank“) -, gerne auch mal in fein ziselierten Streicher-Arrangements schwelgend und allemal dazu angetan, dem Hörer/der Hörerin ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Als Dreingabe zu Reckon gibt’s eine Essential Cuts betitelte Bonus-CD mit elf Songs aus den früheren Alben von Jason Collett. Schöne Idee, dito Musik. Für alle Fans der oben genannten kanadischen Musiker sehr geeignet.

**** Peter Felkel

The Crystal Ark

The Crystal Ark

DFA

Das neue Projekt von Gavin Russom: House mit Latin- und Tribal-Flavour.

Es ist durchaus sinnvoll, dass Gavin Russom seine Musik unter unterschiedlichen Namen an die Öffentlichkeit trägt. Sowohl der psychedelische Post-Ambient, den der New Yorker im Duo mit Delia Gonzalez gemacht hat, als auch der eher klassische Techno/House-Entwurf von Black Meteoric Star sind denkbar weit weg von der Musik von The Crystal Ark, Russoms aktuellem Projekt mit der Sängerin Viva Ruiz. Auf dem Debütalbum The Crystal Ark verhandeln Russom und Ruiz hauptsächlich mit Latin- und Tribal-Rhythmen versehenem House, wollen aber manchmal zu viel. Nicht, dass das fast zehnminütige „Crossing“ – ein spinnerter Tech-House-Track, der zu einem astreinen Freejazzer mit ausgedehntem Saxofonsoli wird – oder „Rhodes“, ein schleichender Downtempo-Song rund um das titelspendende Fender-Piano, schlecht wären. Nur funktioniert die Qualität der einzelnen Tracks nicht so am Stück; The Crystal Ark ist nicht das, was es sein will: ein Album. Ziehen wir das alte Vorurteil gegenüber Elektronik-LPs aus der Schublade: Wer die Prä-Album-Maxis besitzt, hat vermutlich alles, was er von The Crystal Ark braucht.

***1/2 Albert Koch

Dakota Suite

An Almost Silent Life

Glitterhouse/Indigo

Zeitlupen-Songs und -Instrumentals zwischen sinistrem Folk und nachtschwarzer Kammermusik.

ALONE WITH EVERYBODY heißt sein erster Longplayer aus dem Jahr 1998, eine Compilation diverser Singles und EPs, SONGS FOR A BARBED WIRE FENCE war der Titel seines fantastischen, wenn Sie so wollen, „wahren“ Debütalbums. Auch THE WAY I AM SICK und THE RIVER ONLY BRINGS POISON sind unbedingt empfehlenswerte Bestandteile der zunehmend unübersichtlich werdenden Diskographie von Chris Hooson, dem Schmerzensmann aus Leeds. Die Titel der Alben verraten es: Die Welt von Dakota Suite – benannt nach John Lennons New Yorker Wohnsitz und eher loses Musiker-Netzwerk denn real existierende Band -, die Welt Chris Hoosons also ist eine gedankenschwere, umwölkte bis nachtschwarze, verschattet von Depressionen, eine Welt, in die selten ein Sonnenstrahl dringt. Dass seine Songs indes nie selbstmitleidig tönen, eher nüchterne Bestandsaufnahme sind und oft genug Liebeserklärungen an Johanna Bergen, die Frau in Hoosons Leben, ist da mehr als nur ein kleines Wunder. AN ALMOST SILENT LIFE enthält wieder eine Reihe wunderfeiner Zeitlupen-Songs und -Instrumentals, noch karger arrangiert als die Vorgänger, behutsam geformt von Akustikgitarre und Klavier. Wer Schubladen braucht, der öffne jene, auf der“Slowcore“ steht. Es ist, was es ist: pure musikalische Schönheit – an der Grenze zur Stille.

***** Peter Felkel

Vladislav Delay

Kuopio

Raster-Noton/Rough Trade

Advanced Electronica: Sasu Ripatti verbindet multiple Beats zu hochkomplexen musikalischen Gebilden auf seinem zweiten Album für Raster-Noton.

Als der finnische Electronica-Veteran

Vladislav Delay aka Sasu Ripatti vor knapp einem Jahr mit Vantaa sein erstes Album auf dem Chemnitzer Label Raster-Noton veröffentlichte, blieb nur eine Frage offen. Wieso hat es diese so offensichtliche Paarung nicht schon 15 Jahre früher gegeben? Beide Parteien arbeiten an einer experimentellen elektronischen Musik, die sich aktuellen – also mehrheitlich rückwärtsgewandten – Referenzzyklen verweigert, und beide vertreten die mittlerweile ja doch ziemlich altmodisch gewordene Auffassung, elektronische Musik müsse mit Innovation verbunden sein. In manchen Tracks auf Kuopio, benannt nach einer Stadt in Ostfinnland, verschachtelt Vladislav Delay Soundpatterns und Beats, die isoliert ein Drei-Tage-waches Tanz- und-noch-mehr-Vergnügen garantieren würden, zu hochkomplexen musikalischen Gebilden. Delays beatbehaftete Ambientstrukturen, durch die mitunter der dubbige Minimal-Techno der Basic-Channel-Schule schimmert, lassen Soundlandschaften – oder besser: urbane Soundszenarien – halluzinieren. In „Osottava“ wird die Summe der hämmernden Multi-Beats zu einer Art Hypermelodie. Es ist das gewisse Mehr an Sound und Rhythmus, das die Tracks des Finnen seit jeher zu etwas Besonderem macht.

****1/2 Albert Koch

Der Nino aus Wien

Bulbureal

Problembär Records/Broken Silence

Der spinnerte Liedermacher mit Hang zum Punkrock probiert sich neuerdings an schmissigeren Nummern – seiner Verschrobenheit tut das glücklicherweise keinen Abbruch.

Der ist ja schon eine Weile unterwegs, Der Nino aus Wien. 2009 wurde er mit dem Wienerlied-Schunkler „Du Oasch“ und der schiefen Punkrock-Geschichte „Holidays“ ein bisschen bekannt und machte sich nun für die Aufnahmen seines vierten Albums Bulbureal auf nach Mazedonien. Dort war es sehr heiß, und Nino und seine Band trafen den Produzenten Valentino Skenderovski. Dieser attestierte ihm und seinen Musikern die „Spielfreude von toten Großmüttern“ – und verpasste dem Lied „Fühlen“ erst mal einen Drumcomputer-Beat statt des Schlagzeugs. Aber das ist kein Problem für Nino Mandl, denn mit Gegensätzen kennt er sich bestens aus: Den sägenden Gitarren in „Antwerpen“ steht das Stück „Die letzte Reise“ entgegen, in dem mit einer einsamen Klarinette und todtraurig klingenden Klavierakkorden eine zerbröselnde Beziehung thematisiert wird. Vielfach wird auf Bulbureal das Fortgehen – also in Kneipen – besungen, mal der Katzenjammer, dann wieder die Euphorie. In „Chaos“ setzt er wiederum auf leicht verstörenden Sprechgesang irgendwo zwischen Kinski und Falco. Und weil er das so gut kann mit den Gegensätzen, weil er ein Händchen für schöne Melodien hat, die er immer mit einem schiefen Grinsen durch einen holprigen Break oder einen schaurig-schrägen Ton durchbricht, funktioniert das sogar mit der Drummachine.

**** Cosima Weiske

The Bryan Ferry

Orchestra

The Jazz Age

BMG Rights/Good To Go

Das ideale Verlegenheitsgeschenk zu Weihnachten: Klassiker von Bryan Ferry und Roxy Music „re-imagined“ als Jazz-Songs aus den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Bryan Ferry gratuliert sich selbst zum 40-jährigen Bühnenjubiläum mit – was läge näher? – Neuaufnahmen einiger seiner größten Hits als Solist und mit Roxy Music im Stil des 20er-Jahre-Jazz. Ferrys aktive Beteiligung am immerhin seinen Namen tragenden Bryan Ferry Orchestra darf allerdings infrage gestellt werden: Die 13 Stücke – von Roxy Musics erster Single „Virginia Plain“ bis hin zu „Reason Or Rhyme“ aus Bryan Ferrys letzter Studioplatte Olympia – kommen ohne Gesang aus, werden getragen von Instrumenten, die Ferry nicht beherrscht, wie Klarinette, Trompete und Banjo. In einem Werbeclip zum Album sieht man ihn dann auch nur interessiert und Daumen hebend Sessionmusiker bei den Aufnahmen beobachten – wobei Bandleader Colin Good darauf besteht, dass das hier „komplett Bryans Projekt“ sei. Und so unterscheidet sich The Jazz Age nicht sonderlich von ähnlich rätselhaften Tribute-Alben wie Rockabye Baby! Lullaby Renditions of Nirvana und Bossa N‘ Roses – The Electro-Bossa Songbook Of Guns N‘ Roses. Ihre größte Gemeinsamkeit besteht freilich in ihrem fehlenden Nutzen. Wer braucht denn das?! Zwar sind die Stücke hier sehr genregetreu eingespielt, klingen regelrecht verstaubt, machen es aber auch schwer, die Songs voneinander zu unterscheiden. Ist das jetzt „Slave To Love“? Nein? Ach, „The Bogus Man“? Diese Gleichmacherei wird dem facettenreichen Lebenswerk Bryan Ferrys nicht gerecht. Wenigstens hat er sich dieses Geschenk selbst gemacht und muss von der Party zum nächsten runden Jubiläum niemanden ausladen.

** Stephan Rehm

Interview S. 12

Auffällig oft …

… wird in diesem Plattenteil der Name Chris Rea gedroppt. In seiner großen Zeit in den 80er-Jahren war der Soft-Popper das Feindbild aufrechter Musikhörer. Nur Menschen, die sich nicht für Musik, aber für Phil Collins, Tina Turner und Sting interessierten, kauften damals seine Platten. Jetzt, da Soft-Pop langsam wieder salonfähig wird, ist die Zeit für Chris Rea gekommen. Denkbar, dass Hits wie „Josephine“ und „On The Beach“ on the beach in Ibiza zur Afterhour laufen.

Goose

Control Control Control

Safari Records – Import

Sie haben sich auf ihrem dritten Album in der Tat besser unter Kontrolle. Schon kommen die Qualitäten der belgischen Electro-Rocker auch zur Geltung.

Kurz bevor Justice endgültig die Führungsrolle übernahmen, galten Goose im Electro-Rock ja durchaus als eine Option. Die vier Belgier führten sich als Randalierer auf und waren bereit, bis an die Grenzen zu gehen. Doch im Vergleich zum feinsinnigeren Krawall ihrer Kollegen aus Frankreich lieferte die Clique aus Kortrijk am Ende nur plebejisches Machwerk ab. Entsprechend heruntergeschraubt waren die Erwartungen in Bezug auf ihr drittes Album. Aber ausgerechnet jetzt, wo die Leute nicht mehr so unbedingt zuhören bei diesem Genre aus den Nullerjahren und man in Deutschland mit einer Veröffentlichung von Control Control Control noch zögert, macht das Quartett einen deutlich besseren Eindruck. Es wäre verfehlt, wenn man Goose gleich eine größere Sensibilität attestieren würde. Aber tumb gehen sie es hier auch wieder nicht an. Ein eindeutiger Vorteil ist, dass die Flamen jetzt bereit sind, ihren Sound zu variieren. „Real“ wird zum Beispiel von einem harten und präzisen Beat wie bei Billy Squier angetrieben. „Lucifer“ wird dem Namen mit einer bratzenden Rockgitarre voll gerecht. In „Modern Times“ dagegen setzt sich Sänger Mickael Karkousse mit unserer Gegenwart auseinander. „Computer needs a punch“, befindet er, unterstützt von einer Melodie, die von den Buggles sein könnte. Nachvollziehbar und gelungen sind auch die Anspielungen auf EBM und New Beat in einigen Tracks auf Control Control Control. Belgien hat in den vergangenen Jahrzehnten ja einiges zur elektronischen Musik beigetragen, darauf kann man anlässlich dieses Albums schon einmal mit Stolz verweisen.

**** Thomas Weiland

Macy Gray

Talking Book

429 Records/Sony Music

Wenig inspiriertes Remake von Stevie Wonders 1972er-Soul-Klassiker.

Nicht genug damit, dass kaum ein Jubiläum eines mehr oder minder bedeutenden Pop-Albums ohne Neuauflage mit noch mehr Bonus-Tracks, noch aufwendigerer Verpackung auskommt. Neuerdings ist es en vogue, dass zeitgenössische Künstler klassische LPs neu aufnehmen – als Hommage selbstredend und nicht etwa, weil ihnen selbst nichts mehr einfiele. TALKING BOOK, Stevie Wonders zweiter „erwachsener“ Longplayer (1972), ist momentan in drei verschiedenen CD-Editionen sowie in zwei Vinyl-Gewichtsklassen zu haben. Wer diesen Soul-Geniestreich noch nicht sein eigen nennt, hat also genug Auswahl – und muss sich nicht mit dem gut gemeinten, dito gespielten und produzierten, respektabel gesungenen, aber wenig inspirierten Remake von Macy Gray herumärgern. Die Midtempo-Tracks entbehren jeglichen Grooves, die Balladen tönen arg seifig, nur das radikal umarrangierte „Superstition“ begeistert: Aus dem Funk haben Gray und das Produzentenduo Hal Wilner und Zoux einen spukig-verhallten Schleicher gemacht. Das wäre doch der Trick gewesen – TALKING BOOK völlig anders zu lesen.

** Peter Felkel

Herr Sorge

Verschwörungstheorien mit schönen Melodien

Vertigo Berlin/Universal (VÖ: 14.12.)

Samy Deluxe, Deutschlands einst bester Rapper, macht sich Sorgen.

Selbst in der nun nahezu ein halbes Jahrhundert währenden Geschichte des Konzeptalbums nimmt VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN MIT SCHÖNEN MELODIEN einen Sonderplatz ein: So konzeptionell war ein Konzeptalbum selten zuvor. Hinter Herr Sorge verbirgt sich niemand anderer als Samy Deluxe, der sich – da wäre man jetzt nicht drauf gekommen – große Sorgen macht und deshalb nun „Fröhliche Weltuntergangsmusik“ fertigt. Einigermaßen flüssig rappend stellt er fest: Die Welt „wird regiert von Idioten“ und „die Kids wachen auf und wissen, die Zukunft ist vorbei“. Nein, es sieht nicht gut aus: Die Menschen twittern, anstatt miteinander zu reden und wir hocken „nur noch auf unseren Ärschen“. Kurz: „Die Vergangenheit hat uns eingeholt und die Zukunft ist vorbei.“ Die Beats zu diesen düsteren Aussichten sind meist ziemlich düster und die Stimmen werden, wohl um das entfremdete Dasein zu illustrieren, gern maschinell bearbeitet. Sich Sorgen machen, das kann auf Konzeptalbumlänge ganz schön anstrengend werden, aber Herr Sorge ist da ganz ehrlich: „Nein, ich hab keine Lösung, ich hab nur gute Texte.“ Allerdings: Um Letzteres muss man sich tatsächlich sorgen bei Deutschlands einst bestem Rapper.

**1/2 Thomas Winkler

Honig

Empty Orchestra

Halder Pop/Rough Trade

Melancholische Akustikklänge mit Folk-Elementen von traurigen Männern mit Bart und Gitarre.

Auf solche Musik hat am ehesten Amerika – und vielleicht noch Kanada – ein Abo. Doch schon Jonas David aus dem nicht zwingend als romantisch zu bezeichnenden Wuppertal hat bewiesen, dass auch Deutschland über Singer/Songwriter-Potenzial verfügt. Er ist einer der Mitmusiker auf dem zweiten Album EMPTY ORCHESTRA seines aus Düsseldorf stammenden Kollegen Stefan Honig. Der ehemalige Sänger einer Metalband tat seinerzeit gut daran, das Genre zu wechseln. Im kommenden Jahr hängt er nun auch seinen Job als Kinderpfleger an den Nagel, um sich ganz der Musik zu widmen. Keine so schlechte Idee, nach Zeiten im Vorprogramm von Thees Uhlmann, Kettcar, Kasabian u.a. könnte ihm mit EMPTY ORCHESTRA der Sprung ins Hauptprogramm gelingen. Elf sensible, aber intensive Songs, die aufgrund der zarten Instrumentierung erkennen lassen, dass Honig ein Romantiker mit einem Faible für besondere Melodien und Metaphern ist.

**** Nicole Ankelmann

Indian Handcrafts

Civil Disobedience For Losers

Sargent House/Cargo

Ein Rockmonolith von beachtlicher Widerspenstigkeit.

Bradyn James Aikins (dr, voc) und Daniel Brandon Allen (g, voc) zeigen auf Civil Disobedience For Losers, wie viel schön geordneten Lärm man als Powerduo veranstalten kann, ohne gleich unter Retroverdacht gestellt zu werden. Mit einer bösartigen Riffkanonade, die ihresgleichen sucht, beginnen die beiden Kanadier beim Opener „Bruce Lee“. Und auch der Rest der Songs weist in Bezug auf die Lautstärke und Intensität durchaus rekordverdächtige Werte auf. Indian Handcrafts verbinden die rohe Gewalt des klassischen, von Black Sabbath geprägten Hardrocks mit Stonerrock-Anleihen, dezenten Punk-Versatzstücken und schmutzigen Blues- und Funkriffs. Eine Mischung, die offensichtlich direkt aus der Hölle stammt und entsprechend lichterloh brennt. Für den ganz großen Wurf reicht es zwar noch nicht, aber leichte kompositorische Mängel wie zum Beispiel bei „Coming Home“ gleichen Indian Handcrafts durch ihren immensen Einsatz mehr als aus.

***1/2 Franz Stengel

Alicia Keys

Girl On Fire

RCA/Sony Music

Mama Keys revolutioniert den R’n’B. Zumindest ein bisschen …

Die Haare sitzen perfekt. Der Körper ist in ein enges Kleid gezwängt. Die Augen blicken fordernd in die Kamera. Keine Frage: Alicia Keys – Ehefrau, Mutter und Eigenheimbesitzerin – gibt sich erotisch, angriffslustig und fordernd. Wie eine Frau, die weiß, dass ihre letzten Werke nicht so toll waren, und die einen Schritt weiter gehen will. Wozu sie mächtig auffährt. Angefangen bei Kollaborationen mit Emeli Sandé, Jamie xx (The xx), Dr Dré, Nicki Minaj, Bruno Mars und Frank Ocean. Bis hin zu mutigen Vorstößen in Electronica („Listen To Your Heart“), Jazz („When It’s All Over“), HipHop („Girl On Fire“), Dub („Limitedless“) und Rock („101“). Was der Pianistin gut zu Gesicht steht, aber nur etwa für die Hälfte der 13 Songs gilt. Der Rest besteht aus dem bewährten Neo-Soul/Gospel/R’n’B-Mix, ist extrem radiofreundlich und wartet mit Texten auf, in denen Keys ihr Familienleben thematisiert. Motto: „Ich bin wie neu geboren. Es ging mir nie besser. Ich fühle mich unbeschreiblich weiblich. Kinder sind das Größte.“ Weshalb Söhnchen Egypt bei „When It’s All Over“ ins Mikro brabbeln darf – und für diesen Teil wieder Produzenten wie Babyface und Rodney Jerkins verantwortlich zeichnen. Wahrscheinlich, weil ein kompletter Richtungswechsel dann doch zu riskant gewesen wäre. Schade …

***1/2 Marcel Anders

Roc Marciano

Reloaded

Decon/Groove Attack

HipHop: Das zweite Album des unkalifornischsten Wahlkaliforniers.

Marcberg war 2010 die größte Überraschung des HipHop-Jahres. Eine völlig aus der Zeit gefallene und gleichzeitig hochmoderne Stilübung in New Yorker Hardcore-Rap, mit straßenstaubtrockenen Beats und nihilistischen, nasalen Stakkato-Reimen, kalt wie der Lauf einer Tec-9 im Winter auf Long Island. Von dieser Formel weicht Roc Marciano auch auf dem Nachfolger Reloaded keinen Millimeter ab. Zwar hat er sich diesmal einige Instrumentals von vergleichsweise prominenten Produzenten besorgt (Alchemist, Q-Tip) und etwas mehr Mühe in Mix und Master gesteckt, seinem Stil aber bleibt er treu. Mit versteinerter Miene und sensationell mieser Laune zersägt er gespielt beiläufig einen Brett-Beat nach dem anderen, schimpft wie ein Rohrspatz und lässt immer wieder Einblicke in die düsteren Abgründe seines Seelenlebens zu. Damit erinnert der unkalifornischste Wahlkalifornier der Welt an die frühen 90er-Jahre von Mobb Deep und D.I.T.C., klingt aber dennoch wie nichts und niemand sonst auf diesem Planeten. Reloaded ist ein Meisterstück des Minimalismus und gleichzeitig ein hübscher Anachronismus im Zeitalter sinkender Aufmerksamkeitsspannen: Man muss ihm ein bisschen Zeit geben – wird dafür aber mit einer Intensität belohnt, wie sie auf Albumlänge derzeit wohl kein anderer Rapper hinkriegt.

***** Davide Bortot

Meek Mill

Dreams & Nightmares

Maybach Music/Warner

Das Debüt des Rappers aus Philadelphia: eine zerfahrene Angelegenheit.

Turbokarriere im Windschatten eines Rap-Schwergewichts: Liest sich auf dem Papier super, klappt aber in den seltensten Fällen. Meek Mill hat es geschafft. In weniger als zwölf Monaten hat sich der ehemalige Freestyle-König aus Philadelphia von seinem Mentor Rick Ross emanzipiert und ist vom Sidekick zum Star gereift, mit eigenen Hitsingles („Tupac Back“, „I’m A Boss“) und eigener Künstlerpersona. Meek Milly ist der Radiorapper mit Skills, ein Mann mit markanter Stimme, markigen Sprüchen und marktgerechten Mitmachhooks. Sein Debüt Dreams & Nightmares ist dennoch eine etwas zerfahrene Angelegenheit. Stangenware im aktuell angesagten Trap-Stil („Believe It“ mit Rick Ross) wechselt sich ab mit pathetischem Poppopanz („Who You Around“ mit Mary J. Blige) – dem völlig missglückten Versuch, alles auf einmal abzudecken („Young & Gettin‘ It“). Die Höhepunkte finden sich im Spannungsfeld dazwischen. So arbeitet der 25-Jährige auf „Traumatized“ eindrucksvoll den Mord an seinem Vater auf und singt auf „Lay Up“ dem Luxusleben ein hübsches Loblied. Mit gründlicher iTunes-Hygiene kann man hier also durchaus Spaß haben. Aber auch wirklich nur damit.

***1/2 Davide Bortot

Menahan Street Band

The Crossing

Daptone Records/Groove Attack

Charles Bradleys Begleitband bietet entspannte Soul-Instrumentals mit cineastischem Touch.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich die Musiker des New Yorker Labels Daptone nur der zitatgetreuen Übernahme des Souls der 60er verschrieben haben und sonst nichts daneben akzeptieren. Thomas Brenneck scheint auch in diese Kategorie zu fallen, er half vor Kurzem mit seiner Menahan Street Band und als Produzent Altmeister Charles Bradley auf die Sprünge. Ohne den Sänger hört sich das Ganze ganz anders an. Weitaus entspannter und atmosphärischer. Los ging’s vor vier Jahren mit dem Debüt Make The Road By Walking, das stilistisch an den angenehm untertourigen Vibe von Tommy Guerrero angelehnt war und verschiedene HipHop-Größen zum Sampeln animierte. Wer Lust hat, kann sich gerne die Credits zu „Roc Boys (And The Winner Is) …“ von Jay-Z angucken. Am neuen Album dürften dagegen Filmproduzenten Gefallen finden. Es ist der ideale Soundtrack für ein Roadmovie oder einen Western. Brenneck und Kollegen lassen den Groove schon mal stolpern und konzentrieren sich daneben auf mexikanisch angehauchte Bläsersätze, Orgelpassagen und feinfühliges Gitarrenspiel. Eine Ruhepause lässt sich mit der Menahan Street Band sehr stilvoll verbringen.

**** Thomas Weiland

Mogwai

A Wrenched Virile Lore

Rock Action/Rough Trade

Die Postrocker Mogwai lassen sich remixen, und die Originale bekommen ein neues Leben.

Mogwai waren nie eine Band der großen Evolutionssprünge, sondern ein eng zusammenarbeitendes Kollektiv, das sich behutsam und sehr überlegt weiterentwickelte. Beim Verlassen ihrer Post-Rock-Welt überquert das Quintett schon mal Genrebrücken, vor allem solche, die ins Lager der Elektronik führen. Also kommt es nicht überraschend, dass die Schotten mit A WRENCHED VIRILE LORE ein Remix-Album veröffentlichen. Es ist das zweite nach KICKING A DEAD PIG (1998). A WRENCHED VIRILE LORE speist sich komplett aus den Songs ihres letzten Albums HARDCORE WILL NEVER die, BUT YOU WILL. Die Remixe lassen die Originale in einem neuen Licht erscheinen, einzelnen Themen der Songs wird eine neue Gewichtung gegeben, Ideen werden weiterentwickelt, wie es Mogwai so selber vielleicht nie hätten tun können. Genau das gibt einem Remix-Album seine Wertigkeit. Und da bieten die oft von Keyboards mitgetragenen Songs von HARDCORE WILL NEVER Die, BUT YOU WILL viel Raum. So verwandelt sich „Rano Pano“ in einen überdrehten Elektro-Track, der aufs Label Warp passen würde, während der Texaner Justin Sweatt alias Xander Harris „How To Be A Werewolf“ mit Italo-Beats unterfüttert. Der Extrem-Metaller Justin Broadrick (Godflesh) zeigt sich von seiner zarten Seite, die Spacerocker Zombi rücken „Letters To The Metro“ dicht an Kraftwerk und der schottische Songwriter RM Hubbert verwandelt „Mexican Grand Prix“ in eine zerbrechliche Akustiknummer. „Too Raging To Cheers“ verliert sich im Remix von Umberto in Ambient-Sounds und das Finale gehört dem Veteranen Robert Hampson, dem ehemaligen Mitglied der Spacemen-3-Rivalen Loop. Er baut aus Einzelteilen von „White Noise“ und „George Square Thatcher Death Party“ einen neuen Track namens „La Mort Blanche“ zusammen, dessen betörende Schönheit ein an Kontrasten reiches Album sehr erhaben ausklingen lässt.

****1/2 Sven Niechziol

AC Newman

Shut Down The Streets

Fire Records/Cargo

Ausgesprochen hübsch: Der New-Pornographers-Gründer durchstreift auf seinem Soloalbum die weiten Auen des Seventies-Folk-Pop.

Mal abgesehen davon, dass man momentan so gut wie jedes neue Album mit dem kritisch-historischen Besteck einer an „Retromania“ geschulten Analyse auseinandernehmen kann – Carl Newman gehört zu den Musikern, die sich gern an den Klassikern berauschten und im Freudentaumel der Tage ihre eigenen kleinen Klassiker zu produzieren wussten. Bei den von ihm gegründeten New Pornographers handelte es sich um eine stilvoll schepprige Ode an den Power Pop, auf diesem mit Neko Case aufgenommenen Soloalbum durchstreift Newman die weiten Auen des Seventies-Folk-Pop, abgesichert von Streicher- und Synthie-Fußtruppen, die in einem anderen Leben schon einmal bei Gerry Rafferty oder Todd Rundgren unter Vertrag gestanden haben müssen. Das wäre alles halb so aufregend, würde Newman nicht das Talent besitzen, Songs zu schreiben, die ihrer Komplexität zum Trotz direkt im Ohr hängen bleiben. „I’m Not Talking“ zu Beginn des Albums ist so ein eleganter Hängenbleiber, der erst nach 30 Sekunden mit einer sich in den Song windenden Klarinette beginnt, die dann Platz macht für ein barockes Stück Adult Orientated Pop, welches spannend genug ist, auf einem weithin vermessenen Feld zu bestehen. In den schnelleren mehr an die Pornographers erinnernden Songs kann AC Newman dieses Level nicht ganz halten, zum Finale gelingt ihm mit „They Should Have Shut Down The Streets“ dann aber die eine große Ballade, die auch dieses Album verdient, eine Erinnerung an seine in diesem Jahr verstorbene Mutter.

**** Frank Sawatzki

Peaking Lights

Lucifer In Dub

Domino/Good To Go

Dub, Dub, Dub – interessante Entdeckungen in den Hallräumen.

Jetzt also das Dub-Album zur, nun ja, Dub-Platte. Die acht Tracks, die Indra Dunis und Aaron Coyes Mitte des Jahres unter dem Titel LUCIFER veröffentlichten, waren ihre bislang weitestgehende Annäherung an die Produktionstechniken des Dub, Spuren melancholischer Indie-Popsongs versendeten sich beinahe in den lediglich von Bass und Keyboards begrenzten Hallräumen. Zweifellos eine der charmanteren Versionen des Pop 2012. Dass nun die Dub-Versionen der Dub-Tracks die Songs stellenweise wieder mehr in den Vordergrund treten lassen, gehört zu den interessanten Entdeckungen auf diesem Album. Zerschnittene, zerkaute oder wiederhergestellte Parts eines Songs, um genau zu sein. Wie etwa zur Eröffnung dieser Sammlung („Cosmic Dub“), auf den frisch dazugeloopten Tribal Beats nehmen die „Cosmic Tides“ Fahrt auf, Indra Dunis‘ Gesang erhält für ein paar Sekunden die Präsenz, die ihm im Original (aus guten Gründen) verwehrt blieb. Man darf sich diese Dub-Versionen auch als einen einzigen langen Track vorstellen, in dem sich House, Reggae, Pop und Krautrock frei amalgamieren.

****1/2 Frank Sawatzki

Photek

KU:PALM

Photek Productions/Ingrooves – Import

Post-Drum’n’Bass? Der englische Produzent wird bei der Suche nach einem neuen Fixpunkt nicht fündig.

Rupert Parkes alias Photek hält sich alle Optionen offen, so viel lässt sich sechs Jahre nach seinem letzten Album sagen. In diesem Ansatz steckt Stärke und Schwäche zugleich. Man kann es ihm nicht ankreiden, dass er sich nicht mehr an die Idee von Form & Function festklammert. Fortschritt muss sein. Andererseits verstärkt sich durch zu viele Abschweifungen der Eindruck der Ziellosigkeit. Nehmen wir „Pyramid“. Hier kommt Parkes seiner Vergangenheit am nächsten, wenn der Schlagzeugsound zum Jazz tendiert und sich eine Sitar bemerkbar macht. Mit „Shape Charge“ landet er bei von Sci-Fi-Atmosphäre infiltriertem Dubstep. In „Munich“ sorgen Pianoakkorde für weltvergessene Minuten. Das geht völlig in Ordnung. Es gibt aber auch Versuche, die misslungen sind. In „Oshun“ steckt die Hookline von „Fade To Grey“, gleichzeitig geht es mit zügigem Beat in die Großraumdisco. „This Love“ ist ganz problematisch. Die Stimme von Ray LaMontagne umgeben von rabaukenhafter Elektronik?

*** Thomas Weiland

Pinback

Information Retrieved

Temporary Residence/Cargo

Das Duo aus San Diego erinnert an den Indie-Rock klassischer Machart.

Hin und wieder ist es ganz gut zu wissen, dass die Indie-Rockband klassischer Machart noch existiert, Seite an Seite mit der wachsenden Herde von Chillwave-, Dreamrock- und Layered-Pop-Ensembles, die sich im Streben nach Innovation, nach Unterwanderung und Überhöhung all dessen, was wir schon immer zu kennen glauben, hervortun. Die auf Zweimanngröße geschrumpften Pinback spielen diesen Indie-Rock schon seit gefühlten Ewigkeiten, und wenn dieses fünfte Album in 13 Jahren sich dadurch hervortut, dass es so gar nicht auf sich aufmerksam machen möchte, dann erzählt uns das etwas von den Veränderungen unserer Wahrnehmung. Wer möchte, kann in den Songs auch eine Bewegung zum Sanften entdecken, die sich aber im abgeschlossenen Universum von Pinback wie ein Piano-Pop von 1999 ausnimmt. Besonders dann, wenn Rob Crow seine Stimme im Melodiegestrüpp mühelos Karussell fahren lässt.

**** Frank Sawatzki

Pro

Music From The Eastblock Jungles – Part 1

Turbo Recordings

Das russische Elektro-Geboller findet den kleinsten gemeinsamen Nenner von Dancefloor und Fußballstadion

Selbst im global eng vernetzten Dance-Music-Geschäft liegt Wladiwostok eher am Rande. Evgeny Pozharnov, der sich als DJ und Produzent Proxy nennt, beweist mit seinem Debüt MUSIC FROM THE EASTBLOCK – PART 1, dass man auch allein gelassen am Ende der Welt einen vollends modernen Sound kreieren kann. Dem Geboller und Geballer der meisten Tracks kann man deutlich anhören, dass Proxys große Helden The Prodigy sind. Deren Vermächtnis aber verschränkt Pozharnov mit den neuesten, auf Skrillex und Kollegen zurückgehenden Erkenntnissen der Riesen-Rave-Beschallung und fertig ist allerbeste Unterhaltung, die noch den letzten Körperklaus in Bewegung setzt. So grobschlächtig manches Stück auch wirken mag: Proxy gibt sich Mühe, sucht nie nach dem naheliegendsten Sound, irritiert immer wieder durch Ecken und Kanten. Aber die größte Qualität des Russen liegt in der Hemmungslosigkeit, mit der er populistische Tricks zur Grundidee eines Tracks verklärt. Ein Verfahren, das überdeutlich wird in seinem Klassiker „Raven“, der vornehmlich aus einem monoton wiederholten, gegrölten „Hey“ besteht.

*** Thomas Winkler

Redshape

Square

Running Back/Rough Trade

Techno: Die Zukunft liegt in der Vergangenheit auf dem zweiten Album des Berliner Produzenten.

Nicht jeder Musiker, der eine Maske trägt, ist zwangsläufig doof. Zum Beispiel Redshape, Produzent in Berlin, dessen rote Maske, hinter der er sein Gesicht versteckt, eher eine Referenz an die Zeiten ist, in denen die elektronische Musik noch der Star war und nicht der, der sie gemacht hat. Square, Redshapes zweites Album nach dem 2009er The Dance Paradox, führt Techno auf das Thema der Vergangenheit zurück, das – paradoxerweise – der Futurismus ist. Square hat allerhand Detroitismen zu bieten und seine elektrofunky Vorstufen, aber das Album geht noch weiter zurück in Zeiten, in denen die Zukunft in der Musik näher war als heute, wo sie nach Jahren des Dancefloorcraze längst zur Vergangenheit geworden ist. „Orange Cloud“ zum Beispiel, ist ein dunkler, gewaltiger Ambienttrack, schwer beladen mit Sequencersounds. Und „Starsoup“ klingt in seiner Verspieltheit wie eine Hommage an die Naiv-Elektronik von Der Plan. Square endet mit einer neuen Version von Redshapes 2006er-Klassiker „The Playground“.

**** Albert Koch

S3

Supa Soul Sh*t

Melting Pot Music/ Groove Attack

Nicht neu, aber großartig: der Trip-Soul der transatlantischen Koproduktion.

Ach, süß. Verschämt platzieren S3, das gemeinsame Projekt von Miles Bonny und Brenk Sinatra, ein Sternchen in SUPA SOUL SH*T, dem Titel ihres ersten Albums, als dürfte man heutzutage nicht laut „Scheiße“ brüllen. Tatsächlich verweist diese Zurückhaltung aber auf die Musik, die sich respektvoll den großen Tagen des Soul annähert. Bonny, Trompeter und Sänger aus Kansas City, und Sinatra, Produzent aus Wien, haben eifrig, so hört es sich zumindest an, klassisches Vinyl gesampelt. Nun kratzt und knistert und knuspert es, die Beats rumpeln ein bisschen, sind meist aber wundervoll schläfrig, während die streng analogen Synthesizer schön Süßholz raspeln. Darüber singt Bonny wie eine samtbezogene Bettdecke, wenn er nicht gerade mit einem Blasinstrument Streicheleinheiten verteilt. Dieser Ansatz ist nun nicht neu, ganze Hundertschaften von Jazz-Poppern, TripHoppern und Schmuse-Rappern haben bereits Ähnliches im Schilde geführt. Aber so warmherzig und trotzdem cool, so überzeugt rückwärtsgewandt und trotzdem halbwegs zeitgemäß, so wie S3 hat sich das schon lange niemand mehr getraut.

****1/2 Thomas Winkler

Stubborn Heart

Stubborn Heart

One Little Indian/Rough Trade

Ein Duo aus London mit kribbeligem elektronischen Soul.

Wir haben ja alle was Besseres verdient. Finden auch Luca Santucci und Ben Fitzgerald, die dieser Gedanke besonders motiviert hat. Mehr noch: Von ihm inspiriert, haben die bisher nur mit wenigen 12-Inches aufgefallenen Newcomer gleich mal einen der besten Songs des Jahres hingelegt: „Better Than This“. Es gibt mehrere Dinge, die man daran richtig gut finden muss. Dieses Post-Dubstep-Gerüst mit kräftig Geklapper etwa. Diesen unglaublich in die Tiefe gehenden Basslauf. Diese leichten Synthesizer-Tupfer. Und die an den Gruff Rhys erinnernde Stimme. Gegen diese Kombination ist jeder Widerstand zwecklos. Ein ähnliches Gefühl beschleicht einen bei „Interpol“. Der von einem Plätscherlaut begleitete Beat ist schon mal anders als die anderen. Die Art und Weise, wie sich dann noch der Synthesizer fies und düster eindreht, lässt selbst kundige Hörer rätseln: Wie zur Hölle kriegt man so etwas so perfekt im ersten Anlauf hin? Stubborn Heart sind darüber hinaus auch Soul-Boys. Darauf weist der Name des Duos hin, der einem bekannten Northern-Soul-Titel entnommen ist. Das bestätigt sich mit „It’s Not That Easy“, im Original von Reuben Bell & The Casanovas. Man sieht sich nie mit einer Sammlung cooler Konstrukte konfrontiert, die sich rasch verflüchtigen, man schließt dieses Material tief ins Herz. It’s for real.

***** Thomas Weiland

Textor

Schwarz Gold Blau

Trikont/Indigo

Moderne Kammermusik vom Ex-Rapper der Kinderzimmer Productions.

Von seiner HipHop-Vergangenheit verabschiedet sich Textor, bis 2008 Rapper von Kinderzimmer Productions, auf seinem ersten Solo-Album fast komplett. Sein Talent für prägnante Sprachbilder ist aber auch diesmal der größte Pluspunkt. Auf Schwarz Gold Blau hat er zu einer faszinierenden Synthese von Inhalt und Form gefunden. In launigen Worten macht er sich Gedanken über Frauen, die „Louis Vuittons Tattoo“ tragen oder die dunklen Stunden „In der Nacht“, nur begleitet von dezenten Kontrabass-, Geigen- und Klavierklängen. Entstanden ist eine Art Kammermusik für aufgeklärte Geister mit Hang zur Melancholie. Wer sich gerne von Tom Waits Geschichten über die Welt und den Menschen erzählen lässt, ist hier genau richtig. Wobei solche Vergleiche dem Künstler und seinem Werk Unrecht antun, denn die Songkunst von Henrik von Holtum alias Textor ist viel zu eigensinnig und lässt sich nur schwer einordnen. Einen Höhepunkt stellt in dieser Hinsicht das eigentümliche „Vorm Schleckermarkt“ dar, das eine mittelschwere Depression auslösen kann. Mit deutlich mehr Lebensgeistern ist „Sie kriegen uns nie“ gesegnet, bei der eine prägnante Bass-Figur für den nötigen Drive sorgt. Insgesamt ist das Tempo der elf Songs niedrig. Textor braucht keine lauten Begleittöne, um sich und seiner eigenwilligen Poesie Aufmerksamkeit zu verschaffen. Seine wohlgewählten Worte reichen dazu vollkommen aus.

****1/2 Franz Stengel

Tracey Thorn

Tinsel And Lights

Strange Feeling/PIAS/Rough Trade

Ein fein koloriertes, weitgehend klingelingfreies Christmas-Album der Sängerin von Everything But The Girl.

Jeder Musiker sollte mal eine Weihnachtsplatte gemacht haben, so steht’s im Handbuch des Popmarketings geschrieben. Tracey Thorn hat’s nun auch geschafft, rechtzeitig im Frühjahr einen Verein von Freunden ins Studio geholt, um ihre persönlichen Favoriten aus dem großen Angebot der „Season“-Songs aufzunehmen. Dabei wurde das Thema „Christmas“ nicht gar so ernst angegangen, wenn Winter oder Schnee in einem Lied auftauchten, sollte das zur Qualifikation ausreichen. Einmal trifft der Autor eines Tracks sich auch mit Tracey Thorn zum Duett, ausgerechnet Green Gartsides Scritti-Politti-Song „Snow In Sun“ gehört zu den wenigen blassen Stellen auf diesem fein kolorierten, weitgehend klingelingfreien Album. Tracey Thorn hat jedem Lied so viel Sound-Mantel verpasst, wie es verträgt; Stephen Merritts „Like A Snowman“ kommt mit leichter Streicherbegleitung daher, Jack Whites „In The Cold, Cold Night“ ist ein cooler Swinger für die Garagenparty geworden, Joni Mitchells „River“: ganz die Hymne, die von den Bläsern ins Festtagszimmer getragen wird.

**** Frank Sawatzki

Tindersticks

San Sebastian 2012

City Slang/Universal

Live-Versionen der Songs des letzten Studio-Albums THE SOMETHING RAIN.

Nächstes Jahr wird man Tindersticks mit Fug und Recht eine alte Band nennen dürfen. Dann hat das Ensemble um Sänger und Songwriter Stuart A. Staples sein 20. Lebensjahr erreicht, was unter den derzeit geltenden Halbwertszeiten für Popmusik und deren Urheber zumindest eine gefühlte Ewigkeit ist. Mit dem jetzt erscheinenden Live-Album SAN SEBASTIAN 2012 halten Staples & Co. für einen Moment inne und beantworten sich und dem Publikum die Frage, wie die Songs des letzten Albums THE SOMETHING RAIN sich auf der Bühne anfühlten. Ganz gut, ganz relaxed, so darf die Antwort lauten. Bis auf das neunminütige Eröffnungsstück mit den gesprochenen Lyrics („Chocolate“) spielt die Band die komplette Platte fast in chronologischer Reihenfolge, von „Show Me Everything“ über den funky wirbelnden Popsong „This Fire Of Autumn“, der in einer neuen Version als Single veröffentlicht wird, bis zum finalen „Goodbye Joe“, das hier noch mehr nach einem Lost Track der genialen Young Marble Giants klingt als auf dem Album. Über weite Strecken aber bleiben Tindersticks den Studioversionen treu, sie werden so zum Dokument einer Band, die mit sich und ihrer Entwicklung im Reinen ist, beseelt von dem Gefühlskino, das immer schon in den Köpfen der Musiker spielte. Mehr als ein Fan-Album ist SAN SEBASTIAN 2012 trotzdem nicht geworden.

***1/2 Frank Sawatzki

Ultraista

Ultraista

I am Fortified/Rough Trade

Das Projekt von Nigel Godrich modernisiert den TripHop, erstarrt aber in der eigenen Formel.

Die Ultraisten waren eine Gruppe spanischer Schriftsteller, darunter der Argentinier Jorge Luis Borges, die sich in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Gegenentwurf zur Literaturmoderne positionierten. Nahezu ein Jahrhundert später stemmt sich Nigel Godrich gegen den Brei, der momentan aus dem Radio quillt. Ultraista hat Godrich, Produzent und Ehrenmitglied von Radiohead, sein musikalisches Projekt genannt, für das er die Sängerin Laura Bettinson, sonst beim Elektropop-Projekt Dimbleby & Capper, und den Produzenten und Schlagzeuger Joey Waronker rekrutiert hat. Zusammen finden die drei zwischen ungeduldig drängenden Beats, dicht verwobenen Synthie-Flächen und atmosphärischem Krautrock-Wabern eine Art beschleunigten TripHop, der einerseits bedrohlich und doch nicht unfreundlich wirkt. Allerdings ist nahezu jeder Track absolut gleich aufgebaut, besitzen alle Stücke fast dasselbe Tempo und Laura Bettinson scheint immer die gleiche Melodie zu singen. So entstehen zwar immer wieder einzelne schöne, an die besten Zeiten von Massive Attack erinnernde Momente wie zum Beispiel „Gold Dayzz“, aber es sind zu wenige für ein ganzes Album.

*** Thomas Winkler

The Walkabouts

Berlin

Glitterhouse/Indigo

Weniger kantiger Punk-, mehr wohlklingender Folkrock: die Walkabouts live im Juli 2012.

Auf ACYTELENE, ihrem Album aus dem Jahr 2004, besannen sich Chris Eckman, Carla Torgerson und ihre Kollegen auf die Punkrock-Attitüde der frühen Tage („Fuck Your Fear“, „Kalashnikov“), TRAVELS IN THE DUSTLAND markierte dann im vergangenen Jahr eine Rückkehr zum epischen, wohlklingenden Cinemascope-Folkrock. Und auch auf der Bühne bewegten sich die Walkabouts zuletzt wieder auf diesem vertrautem Terrain, wie der nun vorliegende Mitschnitt eines Konzertes vom Juli dieses Jahres aus dem C-Club in Berlin eindrucksvoll dokumentiert. Fünf Songs von DUSTLAND, dazu Band-Klassiker wie „Jack Candy“, „Grand Theft Auto“, das immer noch unfassbar großartige „Bordertown“ und natürlich „The Light Will Stay On“, das damals in den 90er-Jahren in einer besseren Welt ein erdumspannender Nummer-1-Hit gewesen wäre, sind Bestandteile dieses mitreißenden Sets. Und dazu schüttelt Chris Eckman wieder einige der tollsten Neil-Young-Soli aus dem Ärmel, die Master Neil nie gespielt hat.

**** Peter Felkel

Matthew E. White

Big Inner

Spacebomb/Hometapes/Cargo

Gesegnet sei der Soft-Pop – oder wie man den Soul mit den Mitteln eines Singer/Songwriters buchstabiert. Das Debütalbum des Bloggerlieblings Matthew E. White.

Das Cover von BIG INNER könnte auch zu einer limitierten Japan-only-Jazz-Veröffentlichung aus den 70er-Jahren gehören, mit seinen strengen grafischen Elementen und dem Foto mit dem Musiker, der auf einem Stuhl sitzt. Was mag er da in seinen langen, schwarzen Bart nuscheln? Schon mit dem Artwork dieses außergewöhnlichen Debütalbums beginnt eine Spurensuche, die der Amerikaner Matthew E. White samt Band bis hin zu den letzten Takten des Tracks „Brazos“ betreibt, und das mit Bravour. Die gerade upfronten Blogs zwitscherten die Nachricht vom Jazz-Arrangeur und Super-Gitarristen Matthew E. White ja schon in die Welt hinaus, einer, der sich nun als Sänger und Songwriter eine Künstler-Lingua erarbeitet hat. Diese bezieht sich auf die Gospels, wie man sie als Kind der amerikanischen Südstaaten erleben kann, das Hintergründige in der Poesie von Randy Newman, den kontrollierten Soul von Al Green und Allen Touissant. Dass dabei eine Art Soft-Pop entstanden ist, wird White vielleicht selbst überrascht haben. Die weichen, fließenden Grooves und die leicht verdunkelten Streicher- und Bläser-Arrangements mögen sich in den Sessions als das Fundament herausgestellt haben, auf dem die spirituellen Erkundungen des Sängers mühelos bestehen können. Nur einmal verlassen White und die Hausband des frisch gegründeten Spacebomb-Labels diesen Soft-Pop-Teppich, dann zelebriert der Sänger, von Saxofon und Chor flankiert, seine „Big Love“, im nächsten Song folgt dann das Glaubensbekenntnis: „I don’t want to live a day longer than you. So let’s meet the Lord together.“ Man muss BIG INNER deshalb jetzt nicht gleich in die Ecke des Bibel-Pop stellen, es ist vielmehr der musikalisch sehr einnehmende Versuch, den Soul aus den Bausteinen der eigenen Geschichte neu zusammenzusetzen.

****1/2 Frank Sawatzki

Wild Billy Childish & The Spartan Dreggs

Dreggredation

Coastal Command

Tablets Of Linear B

Damaged Goods/Cargo

Eine Art Pop-up-Book, aus dem uns die Punkrocksongs des britischen Multitalents förmlich entgegenspringen. Aber nur für erbarmungslose Albumcover-Zerschnippler werden aus zwei LPs drei!

Die jüngsten Nachrichten vom Monarchen aus Chatham haben selbst seine treuesten Fans verschreckt: Wild Billy Childish fordert zum Zerstören seiner Albencover auf. Wer sein neues, aus den drei LPs Dreggredation, Coastal Command und TABLETS OF LINEAR B bestehendes Gesamtkunstwerk in voller Länge genießen möchte, muss Gewalt anwenden. Denn das dritte Album TABLETS OF LINEAR B kann nur erwerben, wer die Gutscheine aus den Hüllen der beiden anderen schneidet und dem Damaged-Goods-Label zuschickt. Kein Betteln, kein Beten hilft, und Kopieren gilt sowieso nicht! Diese Form der „Teilnahme“ ist nur eine radikale Ausgeburt des Treuegedankens, die der talentierte Mr. Childish für sich und sein Volk formuliert: Wenn du bei mir und beim Punkrock bist, dann wird dir dieses Opfer nicht zu groß sein. Und dieses Opfer ist der Mühen und ästhetischen Missetaten allemal wert: Was Wild Billy Childish und seine Band mit den ersten beiden Alben Dreggredation und Coastal Command hinlegen, ist eine Art Pop-up-Book, aus dem einen die Songs regelrecht entgegenspringen, mit dem Gebell des Punk und der Kraft der drei Herzen, die uns einst die Psychedelia geschenkt hat. Nichts Neues also, verglichen mit den über 100 wertvollen Hervorbringungen der Childish-Dynastie in den vergangenen 33 Jahren. Wiederholung, sagt euch der Herrscher, ist das große Geschenk der Menschheit. Einzigartige Aufnahmetechnik, das beste Jingle aller Zeiten: Punk Before Chips. Emphase, Kunstgedanke und Do-it-yourself-Rock finden bei Wild Billy Childish auch über mehrere Alben ein neues Zuhause. Lang lebe King Billy!

***** Frank Sawatzki

Robbie Williams

Take The Crown

Island/Universal

Der Popstar riskiert eine dicke Lippe, aber es steckt nicht viel dahinter.

Der König ist zurück, aber die BBC hat sich geweigert, seinen Krönungsakt zu unterstützen. Er würde mit seiner Single „Candy“ nicht mehr ins Programm der hauseigenen jugendorientierten Welle passen. Retourkutsche? Vielleicht wusste man schon, dass auf dem folgenden Album ein Song namens „Shit On The Radio“ folgen würde. Dieses Scharmützel zeigt, dass sich an Robbie Williams, der früher über alle Zweifel erhaben war, die Geister zu scheiden beginnen. Der Sänger selbst will von einer Altersdiskussion nichts wissen und legt forsch los: „They said it was leaving me, the magic was leaving me, I don’t think so.“ Da sollte er sich nicht zu sicher sein. Erneut vermisst man die Kniffe von Songschreiber Guy Chambers, bei dem ein Williams-Song trotz aller Massentauglichkeit immer genügend Charakter besaß. Als Ersatz standen diesmal die Australier Tim Metcalfe und Flynn Francis bereit. Die beiden Musiker aus Melbourne sind 24 Jahre alt und sollten für einen Frischeschub sorgen. Am Ende ist aber bloß überproduzierter Mainstream-Pop herausgekommen. Dass Produzent Jacknife Lee auch mal mit U2 zu tun hatte, hört man an „Into The Silence“ deutlich. Es ist das genaue Gegenteil eines Aufregers. Ausgerechnet „Candy“ und „Different“, die beiden Beiträge von Gary Barlow, fallen angenehmer auf. Da bleibt wirklich mal etwas hängen. Als Gesamtausbeute ist das für den angeblich Größten eindeutig zu wenig.

** Thomas Weiland

Patrick Wolf

Sundark & Riverlight

Bloody Chamber Music/Alive

Der Barock-Popper hat Songs aus seinem Katalog als Kammermusik neu aufgenommen und – entzaubert.

Zehn Jahre ist es her, dass der damals 19-jährige Londoner sein Debütalbum veröffentlichte. Seither haben Patrick Wolfs mit vielen Details gefütterte Klangwelten immer wieder neue Gestalt angenommen. Mal klang er folkiger, mal elektronisch – aber immer überbordend. Entstanden sind ein paar tolle Alben (Wind In The Wires, The Magic Position) – und einige mittelmäßige (z. B. Lupercalia). Anlässlich seines Jubiläums hat sich der Multiinstrumentalist seinen Backkatalog vorgenommen und eine Auswahl von Songs mit Klavier und akustischen Instrumenten neu aufgenommen. Auf dem Doppelalbum finden sich Singles, Publikumshits und Wolfs Lieblingsstücke. Bei einigen Songs bringt die Neuinterpretation einen Gewinn. Vielen Stücken tut Wolf mit diesem kammermusikalischen Ansatz allerdings keinen Gefallen. Auf ihre Essenz reduziert wirken sie schlichtweg langweilig. Es ist, das zeigt dieses Album, weniger das Songwriting und mehr der Spagat zwischen Experimentierfreude und glamourösem Pathos, der Wolfs Songs glänzen lässt. Wenn nur noch Pathos bleibt – und das auch noch seltsam ausgebremst daherkommt -, so klingt das, als schreibe dieser talentierte Musiker eine etwas verkrampfte Bewerbung für Arbeitsaufträge aus der Hochkultur.

**1/2 Stephanie Grimm

Yesterday Shop

Yesterday Shop

Trickser/Broken Silence

Ein unverkrampfter Blick auf die goldenen Zeiten von Shoegaze.

Schwaben sind in Berlin nicht mehr allzu sehr beliebt. Aber Yesterday Shop bauen nicht den Prenzlauer Berg zum braven Dorf um, sondern plündern bloß die Vergangenheit. Man verzeiht das dem unlängst aus dem Süden in die Hauptstadt gezogenen Quintett gern, nicht nur, weil es sich ehrlicherweise bereits im Bandnamen zum retrospektiven Blick bekennt: Mit ihren kunstvoll verzerrten Gitarren malen Yesterday Shop die Melancholie in allen Grautönen und schreiten ausgiebig das Spektrum zwischen laut und leise ab. Ein Sound, der in den 80ern kultiviert wurde, meist unter Shoegaze firmierte, bevor er zu Emo verkam und nun anscheinend seine Halbwertszeit so deutlich überschritten hat, dass er für dieses Debütalbum wieder frei verfügbar ist, ohne gleich in Klischeeverdacht zu geraten. Yesterday Shop jedenfalls haben keine Berührungsängste, sind ausgiebig romantisch, brettern dann bei Bedarf los und reinigen so die Luft von jedem Kitsch. Ein denkbar einfaches Verfahren, das in diesem Fall aber nur so prima funktioniert, weil die fünf, die zum Teil noch nicht einmal das passive Wahlalter erreicht haben, nicht nur den Stimmungsaufbau beherrschen, sondern auch ein paar berückend eingängige Melodien geschrieben haben.

**** Thomas Winkler

Story S. 25