40 Jahre Business & Blues


Atlantic Records feiert Jubiläum. Doch nicht alle Jubeln. Sicher — kaum eine andere Plattenfirma hat so maßgeblich die Entwicklung der modernen Musik In diesem Jahrhundert begleitet. Atlantic hat den Rhythm & Blues geprägt und den Soul gefördert, doch von der Sympathie für die schwarze Musik ist heute wenig geblieben. Man setzt auf Heavy Metal und Teenle-Pop und hat die alten Ideale längst begraben. Bei der Reise durch vier Dekaden Platten-Geschichte bröckelt etwas Farbe vom Glanz der ruhmreichen Firma ab.

Erinnerst du dich an den Siones-Füm .Gimme Shelier‘?“ Ein vielsagendes Lächeln macht sich unter seiner Sonnenbrille breit, ganz so als wolle er den konspirativen Charakter dessen, was jetzt folgen soll, noch unterstreichen. Jim Dickinson beugt sich leicht zu mir herüber. „Keiih Richards und ich hängen da auf dem Sofa rum. während sie . Wild Horses‘ über die Studioanlage laufen lassen. Ich seh aus wie der Typ, der mal eben reinkomml, um den Reifen zu wechseln. Da reden Keith und ich gerade über Atlantic, wie zwei kleine Kinder im Märchenland. Wir waren so von diesem Mythos eingenommen und… ich meine, du kaufst da ein Ticket, aber die Show, die du dann siehst, ist eine ganz andere. Diese Jubiläumsshow neulich — sehr viel Bar-B-Q-Soße, aber ziemlich wenig Fleisch darunter, würde ich sagen.

Du weißt, was ich meine? Es waren großartige Künstler da, aber sie wurden einfach nicht im gebührenden Kontext präsentiert — viel Schmalz, viel Mist, der Ausbeutungseffekt war einfach zu offensichtlich.“

Jim Dickinson, kürzlich in der Band von Ry Cooder durch deutsche Lande unterwegs, hat sich in jüngster Vergangenheit als Produzent junger US-Bands (Replacements, Green On Red, True Believers etc.) hervorgetan. In den 70ern spielte er mit Alex Chilton verschrobene Meisterwerke ein und produzierte zwei Alben für Ry Cooder. Die vorangegangene Jahrzehntwende erlebte Dickinson in der Entourage der Stones (er spielt Piano auf „Wild Horses“) und — an der Seite von Jerry Wexler und Tom Dowd — als „freier“ Produzent für Atlantic. Der inzwischen 46jährige Soulherner aus Memphis gibt unumwunden zu, daß er heute „nahe daran“ ist, „verbitten über Atlantic zu sein.“ Was seine Aussagen persönlich gefärbten Ressentiments unterwirft, ihn aber als Kronzeugen für die Kehrseite der glänzenden Atlantic-Medaille keineswegs wertloser macht.

Mythos und Realität — wohl bei keiner anderen Schallplattenfirma ist beides so eng und undurchsichtig miteinander verwoben. Man muß Dickinsons Meinung, daß „Atlantic in der jüngeren Vergangenheit eine amoralische Institution war“, nicht unbedingt teilen, um zu erkennen, daß die Firma trotz ihrer unbestreitbaren Verdienste um die populäre Musik, insbesondere R&B und Soul, mit den gleichen Methoden arbeitet wie ¿

MIT 10.000 DOLLAR FING ALLES AN…

In Istanbul geboren, hatte Ahmet Ertegun seine erste musikalische Lektion schon hinter sich, als er mit 12 Jahren nach Washington verschlagen wurde. In Paris, neben London und der Schweiz eine weitere Station der Diplomaten-Familie Ertegun, legte ihm seine Mutter Cab Calloway und Josephine Baker am Herz und auf den Plattenteller. Ahmets nächster Lehrer hieß Cleo Payne — der ßotschaftshausmeister machte ihn mit Jazz-Größen wie Duke Ellington oder Louis Armstrong vertraut. Kaum verwunderlich also, daß Ahmet schon mit 15 eine schwarze Jazz-Kapelle für eine Feierlichkeit im Hause seines Vaters verpflichtete … In dessen Fußstapfen schwebte ihm zunächst eine Diplomaten-Karriere vor, doch mit einem Startkapital von 10.000 Dollar wurde aus dem Hobby „Plattenproduktion“ schnell ein Fulltime-Job. Zusammen mit dem ehemaligen Journalisten Jerry Wexler, der zum Atlantic-Hausproduzenten und Vizepräsidenten aufsteigen sollte, schrieb er in den 50ern und 60ern (schwarze) Musikgeschichte. Ahmet Ertegun, heute auch Vorsitzender der Amerikanisch-Türkischen Gesellschaft Moderner Kunst, hat unter seinem Pseudonym Nugetre (= Ertegun rückwärts) aucn zahlreiche Songs geschrieben (u.a. für Big Joe Turner oder die Clovers) und entwickelte später ein ausgeprägtes Faible fürs runde Leder. Er war Präsident von „Cosmos“ New York und redete zusammen mit Nesuhi Ertegun ein entscheidendes Wörtchen mit, als Warner Communications 1971 die Konzession für die US-„Soccer League“ zugesprochen bekam. Bevor Nesuhi, der ältere Ertegun-Bruder, zu Atlantic stieß, gab er an der Universify Of California das erste Seminar für „Jazz-Geschichte“. In New Orleans unterhielt Nesuhi das Crescent-Label, das u.a. die berühmte Kid Ory Band veröffentlichte. Zurück an der Westküste, stürzte er sich voll in die Jazz-Szene und nahm für Atlantic Künstler wie Shorty Rogers, das Modern Jazz Quartett oder Ornette CoJeman unter Vertrag, den er bei einem Garagen-Engagement aufgestöbert hatte. Mit weiteren wegweisenden „Signings“, etwa Charles Mingus oder John Coltrane, etablierte Nesuhi Ertegun Atlantic auch als führendes Jazz-Label. In fünf Sprachen fließend zu Hause, leitet Nesuhi seit 1970 „WEA International“ — eine Firma, die die außeramerikanischen Märkte für Atlantic und die Schwesterfirmen Warner/Reprise und Elektra/Asylum betreut, (if) andere erfolgreiche Companies auch.

Zumal die unmittelbar Beteiligten dazu neigen, die Vergangenheit eher zu verdenn zu erklären. Wenn Atlantics graue Produzenten-Eminenz Jerry Wexler sagt:

„wir hatten keine Ahnung, wie man Schallplaiten macht, aber wir hatten wirklich viel Spaß“, mag das als Metapher für den unschuldigen Enthusiasmus der frühen Jahre durchgehen, als nach Feierabend die Schreibtische in der Ecke gestapelt wurden, um das winzige Büro an der Ecke Broadway/56th Street in ein „Studio“ umzufunktionieren — offenbart aber gleichzeitig ebensoviel Wahrheit wie Wahrnehmungsdefizit. Jim Dickinson: „Es lenkt doch nicht von der Realität ab, wenn man sagt, daß der Mythos — eben ein Mythos ist! Aber das kannst du Ahmet Ertegun natürlich nicht erzählen…“

Während besagter Ertegun, Sohn des türkischen Botschafters in den USA, sein Philosophie-Doktorat an der Washingtoner Georgetown University ansteuerte, machte er „nebenbei“ seinen „Doktor in schwarzer Musik“ (Ertegun). In „Max Silvermans Quality Music Shop“ lernte er dabei vor allem, wie Ertegun dem Musikjournalisten Arnold Shaw zu Protokoll gab, „daß Schwane keinen Jazz kauften“. Zusammen mit seinem Kompagnon Herb Abramson (der 1953 ausschied und nach der Army keine allzu wichtige Rolle mehr spielte), veröffentlichte Ertegun nichtsdestotrotz zunächst Jazz-Platten, die allerdings nur gerade mal eben die Unkosten einspielten. Dann, im April 1949, versuchte er es mit Rhythm & Blues, damals noch abschätzig als „race music“ bezeichnet, und für die „weißen“ Plattenfirmen bislang indiskutabel. Doch mit Stick McGhees „Drinkin‘ Wine, Spo-Dee-0-Dee“ landete Ertegun gleich einen Volltreffer: Sechs Monate in den Charts und 300000 verkaufte Singles wiesen Atlantic den Weg.

Unter der Ägide von Ertegun und Produzent Jerry Wexler, der sich, mit einem Journalistik-Diplom in der Tasche, als „Billboard“-Reporter, PR-Mann und Gelegenheits-Schriftsteller versucht hatte, bevor er 1953 in die Firma einstieg, eröffnete Atlantic dem Rhythm & Blues in den folgenden Jahren eine ungeahnte Vielfalt — ein Verdienst, das selbst Jim Dickinson neidlos herausstreicht: „Ich denke, daß sie geholfen haben, den R&B zu erfinden, und zwar mit der Art und Weise, wie sie damals die ersten erfolgreichen Atlantic-Platten gemacht haben: Sie haben sich .primitive‘ Blues-Interpreten rangehoh und sie mit ein paar Jazz-Musikern ins Studio gesteckt — Leuten also, die ein richtiges Solo spielen, die Noten lesen und den Beat halten konnten! Aber die .primitive‘ Seile des Ganzen kam immer noch durch. Das war definitiv nicht die Idee eines Schwarzen — das war die Idee eines weißen Mannes… „

Wie diese Idee dann geklungen hat, läßt sich besonders gut an LaVern Bakers Version von „See See Rider“ ablesen, das ursprünglich von der Blues-Sängerin Ma Rainey stammte. Atlantic – Chronist Arnold Shaw schreibt: „Während LaVern mit dem heiseren Engagement eines Blues-Pioniers sang und ein Tenorsax das Ganze anheizte, bestand die Begleitung aus einem sorgfältig ausgearbeiteten Arrangement für Orchester und Frauenstimmen, das von Ray Ellis stammte, dem Schlagerarrangeur. Es wies mehr Beat als Blues auf sowie eine Differenziertheil der Stilisierung, die den ursprünglichen Blues Jahrzehnte von seinen ländlichen Anfängen entfernte. „

… dafür aber einem Massenpublikum, weiß wie schwarz, nahebrachte: Zwischen 1953 und ’55 hatte Atlantic nicht weniger als 30 Top Ten-R&B-Hits. Dabei wurde die Stilisierung mit weiteren, interessanten Nuancen vorangetrieben: Vokalgruppen wie die Clovers schlugen eine Brücke zum Pop, lateinamerikanische Rhythmen und Instrumente wurden behutsam integriert, Jerry Leiber und Mike Stoller, die ersten „unabhängigen“ Produzenten für Atlantic, setzten erstmals Streicher ein und nahmen damit die schwarze Plattenfirma Motown zumindest ansatzweise vorweg.

Von dem heute beschworenen Atlantic-Mythos war damals dennoch wenig zu spüren. Sogar ein Ray Charles, der für Atlantic den Soul-Klassiker „I Got A Woman“ ausgespuckt hatte, sprach nur von einem „weiteren Schritt auf der Leiter“ — was er in seinem Falle sogar ziemlich wörtlich meinte, wie sich schon bald herausstellen sollte…

Doch schon damals, da alle zwei Wochen drei Singles veröffentlicht wurden und 6000 verkaufte pro Monat ausreichten, um in die Gewinnzone zu rutschen, unterschied sich Atlantic von den zahlreichen Konkurrenten. Peter Guralnick erkannte in seinem Buch „Sweet Soul Music“ „eine Kombination aus kreativem Unternehmergeist, kultureller Geschliffenheit, Geschäftssinn und gutem Geschmack, die es vorher im Musikbusiness so nie gegeben halte. „

Flexibilität gehörte ebenfalls dazu — und war auch bitter von Nöten, als sich die große R&B-Ära dem Ende zuneigte und die Künstlerpalette immer dünner wurde. Die Clovers und Clyde McPhatter, Leadstimme der Drifters, gingen 1959, doch ungleich schwerer wog zweifellos wenig später der Verlust von Ray Charles, der gerade mit „What I’d Say“ seinen ersten großen Hit gelandet hatte, aber dem lukrativen Angebot der Firma ABC (höhere Prozente und eine „kreative Kontrolle“, von der Andere zu jener Zeit nur träumten) nicht widerstehen konnte.

Die Jazz-Abteilung, geleitet von Ahmet Erteguns Bruder Nesuhi, war mit Ornette Coleman, Charles Mingus oder John Coltrane ungebrochen aktiv, doch im R&B-Bereich sah es jetzt düster aus. Jerry Wexler: “ Wir hatten nichts, wirklich, uns ging die Puste aus. Die Musik wurde’immer müder, unser Sound war ¿

dahin. “ Ahmet Ertegun zog sich frustriert fast völlig zurück, und auch Wexler brauchte eine Weile, um seine Selbstzweife) zu kurieren.

Zwei fast zeitgleiche, unabhängig voneinander eingefädelte Ereignisse brachten zumindest Wexler wieder auf Kurs. Solomon Burke, der das Atlantic-Office erstmals im Herbst 1960 betreten hatte, setzte mit seiner zweiten Atlantic-Single „Just Out Of Reach“, ironischerweise eine Country-Nummer(!J, den Soul-Siegeszug in Bewegung. Über einen Vertriebsmann in Memphis wurde Wexler auf „Cause I Love You“ aufmerksam, die Provinz-Single des Duetts Carla & Rufus Thomas, die binnen kurzer Zeit sensationelle 15000 Exemplare verkaufte.

Wexler kaufte die Platte für 1000 Dollar und sicherte sich eine 5-Jahres-Option auf weitere Duette — dachten zumindest Jim Stewart und Estelle Axton, die Betreiber des kleinen „Satellite“-Labels, das sich wenig später in STAX umbenannte. Doch Wexler stand auch auf der Matte, als Carla mit „Gee Whizz“ solo loslegte und pochte auf angebliche Zusagen. So begann eine (Geschäfts-) Beziehung, die in der Rückschau von Peter Guralnick noch recht vorsichtig als „unklar“ charakterisiert wird.

Klar war hingegen schon bald, daß die neue Partnerschaft äußerst lukrativer Natur war. Zwischen 1962 und ’67 machte Atlantic ein Umsatzplus von nicht weniger als 500 (!) Prozent. Zwei Drittel aller Singles waren „schwarze Verkäufe“, und in der Soul Top-100 vom Juni ’67 stellte Atlantic 18 Songs. Genau wie einst Sun (Rockabilly) oder Chess (Blues) war Atlantic zum marktbeherrschenden Soul-Label aufgestiegen.

Jim Dickinson erlebte damals vor Ort mit, wie Schwarz und Weiß in der Rassen-Nische Musik zusammenkamen und das Baby „Southern-Soul“ zeugten.“.Die Beziehung zwischen STAX und Atlantic war äußerst fruchtbar für beide Parteien. Es war lustig zu sehen, wie STAX Atlantic kopierte und nicht mitbekam, daß Atlantic gleichzeitig STAX kopierte.

Ich erinnere mich, als Wexler und Dowd nach Memphis kamen und sahen, wie primitiv dort vorgegangen wurde, mit den Arrangements, mit den Bläsern, die direkt live aufgenommen wurden. Sie machten große Augen und sagten:, Was?? So kann man Platten machen??

Aber dieselbe Sache passierte, als die STAX-Leute Tom Dowd bei der Arbeit sahen. Sie sagten: ,Du meine Güte, was stellt der denn jetzt wieder mit den Drums an?!‘ Die dachten, Tom Dowd wäre ein Zauberer! Er hat einen Stecker verändert, EINEN STECKER, ihr Mischpult so auf Stereo getrimmt — und sie dachten, er wäre,der weiße Gott‘.“

Tom Dowd, „der ruhige Mann von Atlantic“ (Shaw), hatte beschlossen, der Menschheit als Ton-Ingenieur Gutes zu tun, nachdem er an ihrer Teil-Vernichtung ziemlich unmittelbar mitgewirkt hatte — laut Dickinson war Dowd vorher als Nuklear-Wissenschaftler in Los Alamos/New Mexico tätig gewesen…

„Die unangefochtene Nr. 1 am Regiepull“ (Shaw) war mehr als nur das. Musiker wie Steve Cropper haben immer wieder betont, wie weit Dowd auch unmittelbar in den kreativ-musikalischen Bereich vordrang. „Dowd“, weiß Jim Dickinson, „hat vieles erst möglich gemacht für Atlantic. Auch auf Grund seiner Vergangenheit war er schon ein ziemlich kompliziertes Individuum, aber Atlantic hat ihn ausgewrungen wie einen Waschlappen, ihn aufgehängt und trocknen lassen.“

Ziemlich vertrocknet war spätestens Ende ’65 auch die Beziehung zu STAX. Wexler hatte Memphis schmollend verlassen, um nur wenig später, mit dem neuen Star Wilson Pickett, bei der Konkurrenz in Muscle Shoals/Alabama aufzukreuzen, wo dann auch Aretha Franklin zur „Soul Queen“ gekürt wurde.

Mißverständnisse und Eifersüchteleien beherrschten schon bald die Szenerie; die unterschiedliche Mentalität — hier der „hippe“ New Yorker Jude, da die „laid-back Southerners“ — mag auch eine Rolle gespielt haben. Muscle Shoals-Mann Rick Hall jedenfalls erneuerte den alten Vorwurf an Wexler, er habe sich eingeschlichen und ins gemachte Nest gesetzt.

Auch Jim Dickinson glaubt, daß „Atlantic die musikalische Situation zum eigenen Nutzen, mehr ah zum Nutzen der Musik, ausgebeutet hat“, nimmt Wexler aber gleichzeitig gegen allzu heftige Vorwürfe in Schutz: „Er hat als Produzent definitiv Dinge bewegt, und es ist unfair zu sagen, daß dieser Mythos soweit gewachsen ist, daß die Realität und der Mann dahinter gar nicht existiert hätten. „

„Unfair“, gab Wexler später selbst zu Protokoll, sei jedenfalls der Vertrag mit STAX gewesen. Als der Deal auslief, mußten die Memphis-Leute überraschend zur Kenntnis nehmen, daß sich Atlantic inzwischen die Rechte für den kompletten STAX-Katalog unter den Nagel gerissen hatte — ein hübsches Druckmittel für die anstehenden Vertragsverhandlungen. Auch Sam & Dave waren bei Atlantic in der Pflicht. Otis Redding nicht — der war schon im Dezember ’67 mit seinem Flugzeug vom Himmel gefallen — böse Menschen munkelten, damit sei auch der letzte Anreiz für Atlantic hinfällig geworden…

Der Vertrag wurde jedenfalls nicht verlangen. Atlantic, inzwischen für rund 20 Millionen Dollar längst an Warner Brother verkauft, setzte jetzt andere Prioritäten. Schon ’67/’68 wurden „progressive Rock-Acts“ wie Vanilla Fudge oder Iron Butterfly eingekauft, doch erst 1969 — ausgerechnet das Jahr, in dem Dickinson/Richards vom Atlantic-Mythos schwärmten — manifestierte sich der neue Kurs in aller Schärfe: Der lukrative Soundtrack zum Schlamm-In von Woodstock ging an Atlantics Unter-Label Cotillion. Und der folgende „Tausch“ in der Künstlerpalette konnte nicht deutlicher ausfallen: Solomon Burke, der Atlantic mit seinen Hits zwischen ’61 und ’64 fast allein in die Gewinnzone manövriert hatte, ging — Led Zeppelin, bis weit in die 70er Jahre hinein sichere Millionen-Seiler, kamen.

Der Soul-Clan wird weiter ausgedünnt: Wilson Pickett und Joe Tex gehen ’73. Während Wexler, der heute am Broadway und in Hollywood investiert, sich langsam aber sicher aus der Firma zurückzieht und das good life in Florida genießt, kann Ahmet Ertegun nach über einjährigen Verhandlungen endlich den Rolling Stones einen 70-Seiten-Vertrag zur Unterschrift vorlegen.

Die übrigen Repertoire-Aktivitäten in diesem Zeitraum bewegen sich zwischen Bee Gees, Woodstock-Nachlaß (Crosby, Stills, Nash & Young 70), schriller Entertainment-Nudel (Bette Midier ’72), weißem R&B (J. Geils Band 70) und britischem Kunst/Bombast-Rock (Yes ’69). Die Stones verlassen Atlantic 76/77, zumindest kommerziell kein allzu großer Verlust — Richards & Co. waren eher was fürs Prestige als fürs Portemonnaie. Von Foreigner, die Ende ’77 kommen, läßt sich sicherlich das genaue Gegenteil behaupten. Zusammen mit AC/DC, die schon ein Jahr vorher den Atlantic-Deal unterzeichneten, führen sie bis heute die gewinnträchtige Mainstream/Hard-Rock-Linie des Labels an.

Als Fran Lichtmann 1975 als Produktions-Assistentin in die Atlantic-Familie aufgenommen wurde, hatten Led Zeppelin mit PHYSICAL GRAFFITI gerade mal wieder den Durchmarsch an die Spitze der „Billboard“-Charts geschafft. Mittlerweile hat sie sich zum “ Vice-President International“ hochgearbeitet, zuständig für Produkt & Promotion der Lizenznehmer außerhalb der USA. .1987-und ’88“, freut sich Fran Lichtmann, „sind finanziell bei weitem die erfolgreichsten Jahre, die Atlantic seit geraumer Zeit hatte. Es gab eine Zeil… nun, ich würde es nicht unbedingt eine Schwächeperiode nennen, aber andere Labels waren einfach stärker, brachten Material heraus, das mehr Beachtung fand als unsere Produkte. Unsere bestverkauften Platten sind momentan 1NXS, Robert Plant, White Lion und Debbie Gibson, danach kommen AC/DC und Foreigner, Phil Collins und Genesis. Und das zeigt doch, wo heute die Prioritäten liegen.“

In der Tat. Schwarze Musik? Fast Fehlanzeige! Obwohl einst mit guten Disco-Acts (Chic, Sister Sledge) ausgestattet, ist Atlantic, ähnlich wie Motown, die andere 60’s-Soul/R&B-Company, heute nicht mehr in der Lage, in diesem Bereich Impulse zu geben oder gar Trends zu setzen. Mit Aretha Franklin, deren Hits nach 71 dünn gesät waren, verläßt 1980 das letzte Flaggschiff der goldenen Soul-Ära den Atlantic-Hafen.

Fran Lichtmann verweist allerdings auf neue „Signings“ wie MC Lyte (Hip-Hop-Lady) oder Gerald Albright und nimmt naturgemäß einen etwas anderen Standpunkt ein. „Ich würde nicht sagen, daß wir dieses Gebiet vernachlässigt haben. In den letzten zwei Jahren haben wir versucht, unsere .Black Music‘-Abteilung wieder auszubauen. Die Tatsache, daß wir keine Acts im Range einer Roberia Flack oder Aretha Franklin haben, hat es vielleicht so erscheinen lassen.“

Was sagen Sie dazu, Mr. Dickinson?

„Sie haben ihren Soul verloren. Die Musik, die Acts heute? Sie haben das, was sie auch verdient haben. Atlantic sieht sich gern als die große, glückliche Familie. Aber wenn es tatsächlich stimmt, daß Jerry Wexler gesagt hat: .Entweder Du arbeitest mit mir — oder Du kannst Deinen Arsch auf der Straße verkaufen!‘ — so würde ich mit meiner Familie jedenfalls nick umgehen. Zu wem er das gesagt hat? Ray Charles!“