Aus der Musikexpress-Ausgabe 1983: Rap – Von Der Bronx In Die Dorf-Disco


In den mittleren Siebzigern ging es los, in den härtesten und kaputtesten Ghettos von New York-City. Um 1980 wurden die Medien aufmerksam, und die Sugarhill Gang hatte mit "Rappers Delight" einen Rap-Hit. 1981 wurde Rap als neuer Trend auch von den europäischen Medien ausgerufen.

Doch noch waren die Platten nicht zu beschaffen, und Rap blieb ein Geheimtip. Erst 1982 setzte sich Rap in den europäischen Discos durch. Und jetzt wollt Ihr natürlich alles erfahren, was es über Rap zu wissen gibt. Here we go!

Bis in die mittleren Siebziger waren die verfallenen Teile vor allem im Süden des New Yorker Stadtteils The Bronx (größtenteils von Schwarzen und Puertoricanern bewohnt) fein säuberlich unter gewalttätigen Gangs aufgeteilt. Täglich gab es blutige Auseinandersetzungen und Todesopfer.

Dann geschah eine Veränderung, für die Soziologen noch heute keine Erklärung haben. Statt in den Krieg zu ziehen, feierten die Gangs Partys, meistens im Freien: kleine improvisierte Sausen mit Tanz und natürlich einem Discjockey, der die Platten auflegte. Auf diesen Partys erhielt sich aber die Freude an Erkennungszeichen, das Bedürfnis sich abzugrenzen. Spezielle Tanzstile wurden entwickelt, die die verschiedenen Gangs unterschieden, und auch der DJ mußte sich profilieren, sich einen Namen machen.

Die DJs entwickelten nach und nach die Techniken, die heute unter Begriffen wie „Cutten“ und „Scratchen“ bekannt sind. Sie zeigten unglaubliche Virtuosität im Hin- und Herdrehen einzelner, rhythmisch attraktiver Platten, im rasanten Hin- und Hermixen von einem Kanal zum anderen. Bald wurden zusätzliche Techniken eingesetzt (Rhythmusmaschine, bis zu fünf Plattenspieler, mehrere DJs). Jeder wollte den anderen übertreffen.

Schüler-Meister-Verhältnisse entstanden, und Streit gab es, wenn einer dem anderen etwas abgeguckt hatte und es dann später für sich verwendete.

Die ersten Stars der Rap-Szene waren und sind bis heute die DJs. Nun ist es eine alte Tradition des schwarzen Radios, schwarzer DJs überhaupt, beim Platten-Auflegen zu reden zu scherzen, zu reimen. Zu Rappen.

Rappen war im Prinzip nichts, anderes als das Toasten jamaikanischer DJs zu Instrumental-Platten oder das DJ-Geplapper im Radio. In Harlem gibt es unter Jugendlichen ein Spiel, „signifying“, bei dem sich zwei Kontrahenten in Reimen beschimpfen müssen, bis einer anfängt zu heulen. Schlagfertigkeit plus Reimzwang, das war dann auch die Grundlage der ersten Rap-Könige. Allerdings haben selten die DJs selber gerappt, sie hatten Rapper, mit denen sie zusammenarbeiteten, oft ganze Gruppen von Rappern, die sich abwechselten.

Bis es Rap auf Platte gab, waren eine Menge Probleme zu lösen. Die DJ-Kunst bestand schließlich dann, bereits vorhandene Platten virtuos zu kombinieren. Diese Platten waren meist urheberrechtlich geschützt und hätten – einzeln aufgelistet – Unsummen an Tantiemen gekostet. Rap auf Platte stellte dann auch viel mehr den/die Rapper in den Vordergrund als die Live-Shows Die Sugarhill Gang und Kurtis Blow, die ersten Rap-Acts, die auf Platte auch in Europa bekannt wurden, sind reine Rapper, die ihre Platten mit Band aufnahmen und auch mit Bands auftraten. Die Sugarhill Gang hatte bei ihrem Frühhit „Rappers Delight“, der damals nicht wie erwartet, eine Rap-Welle auslöste, immerhin im DJ-Stil einen guten, bekannten Groove geklaut, das „Good Times“-Riff von Chic (das sich später auch bei Defunkt, Grandmaster Flash und sogar Queen wiederfand).

Was aber eigentliche DJ-Kunst bedeutet, war auf Platte kaum je dokumentiert worden. Ein gutes Beispiel ist höchstens „The Adventures Of Grandmaster Flash On The Wheels Of Steel“, eine Maxi-Single, auch auf der ersten Grandmaster-LP bei Teldec/Sugarhill enthalten, die vorführt, wie die Meister-DJs oft winzigste Teile von bekannten Stücken rasant miteinander koppeln und völlig neue Stücke entstehen lassen.

Die ersten, die sich um Rap auf Platte kümmerten, waren Sylvia Robinson mit ihrem Sugarhill-Label (Sugarhill Gang, Grandmaster Flash And The Funous Five, Funky Four Plus One, Sequence, West Street Mob etc.) und Bobby Robinson (nicht verwandt) mit seinem härteren, kompromißloseren Enjoy-Label (frühe Werke von Grandmaster Flash And The Fourious Five, Fearless Four, Spoorae Gee & Treecherous Three, Kool Kyle, Disco Four etc.).

Die 12 Inches (= Maxi-Singles) dieser beiden Labels aus den Jahren 79-81 prägen noch heute gut 90% dessen, was an Rap in deutschen Discos bekannt ist. Diese Maxis sind meistens mit Band aufgenommen worden, das heißt, daß die eigentlichen Stars, die DJs wie z.B. Grandmaster Flash oder Spoonie Gee, auf Platten, die unter ihrem Namen erscheinen, gar nicht mitmachen. Bands spielen in etwa das, was Flash live aus Platten herausholt, und die Furious Five machen ihren Rap: schnelle gereimte Sprechgesänge, bei denen sich erstmal jeder Rapper mit seinem Namen und seiner Geschichte vorstellt {„My name is Raheen / I’m a son of a queen“), sein Tierkreiszeichen, seinen Schlag bei den Frauen oder einfach nur seine Schnelligkeit rühmt. Dann wird noch zu irgendeinem Thema des Ghetto-Lebens eine Geschichte erzählt (seltener), und das Ganze wird dramaturgisch unterbrochen durch markige Bläser-Riffe oder rhythmische Verschiebungen, während Melodien ganz fehlen. Wenn einer der Rapper mit seinem Part durch ist, kommt meist noch eine direkte Ansprache an das Publikum dazu („All the ladys in the house say yeah/ YEAH /say party / PARTY.. .“), bevor der Nächste einsteigt.

Anders die Rapper, die wie Kurtis Blow mehr Song-orientiert waren und sich zu Kompromissen mit herkömmlichen Soul / Funk-Formen bereit fanden. Zwar war sein erster Hit „The Breaks“ noch ein – verglichen mit Furious Five, Treacherous Three, Sequence oder Funky Four – recht einfallsloser, klassischer Rap über die Mehrdeutigkeit des Wortes „Break/Brake“ im Amerikanischen (Bremse, Zusammenbruch, Pause), aber schon auf der ersten LP zeigte er, daß sein eigentliches Talent im Crossover von Rap und klassischem Soul lag („Throughout The Years“). Diese Form von Rap war auch in Europa zunächst leichter durchzusetzen. Kurtis Blow war denn auch der erste Original-NY-Rapper, der, im Vorprogramm von Palais Schaumburg, in Deutschland live auftrat.

Von Hardcore-Rap-Entwicklungen bekam der Europäer oft erst etwas mit, wenn etablierte weiße Musiker sich darauf bezogen. So Debbie Harry in dem Hit „Rapture“, in dem sie sich rappenderweise bei Fab Five Freddy (einem Rap-Veteranen, der auch als Graffiti-Künstler berühmt ist) und Grandmaster Flash („Flash is cool“) für deren Inspiration bedankt. Spandau Ballet rappten beim „Chant No. 1“, die Clash erwiesen schon früh dem Rap ihre Referenz und ließen Grandmaster Flash ihr Vorprogramm in den USA bestreiten, Tina und Chris von den Talking Heads machten mit ihrem TomTomClub ein Rap-beinflußtes Album und beeinflußten ihrerseits die Hardcore-Rap-Szene durch ihr Stück „Genius Of Love“, von dem alleine ich fünf Rap-Versionen kenne.

Außerdem wird in Europa oft viel zu viel Wert auf das Rappen selbst gelegt, das nur einer von vielen Bestandteilen einer neuen Ghetto-Kultur ist, deren andere Eckpfeiler Graffiti, das sogenannte Breakdancing – oder der Electric Boogie sind. Die nicht zu verstehen ist, ohne z. B. die Sitte zu kennen, mit riesigen sogenannten „Ghetto-Blastern“ (Radio-Cassettenrecorder) durch die Gegend zu laufen und durch die Musik, die man gerade laufen hat, sich als der coolste von allen zu qualifizieren. Entweder, indem man ständig die gerade heißeste Radio-Show laufen hat, oder aber, indem man den möglichst hipsten Mitschnitt einer DJ-Live-Show vom Tage hört.

Ein Großteil der Rap-Produktion ist auf diesen ständig wechselnden Straßenblock-Markt ausgerichtet. Maxis in kleiner Auflage, die möglichst irgendein Novum aufzuweisen haben, irgendeinen noch nie dagewesenen Sound-Effekt oder einen Reim, den man nicht vergißt. Im Laufe der letzten zwei Jahre ist in dieser Szene der Rap auch etwas m den Hintergrund gedrängt worden und statt dessen ein fieberhaftes Interesse für elektronische Sounds ausgebrochen. Der DJ Afrika Bambaata, schon seit Jahren sowohl Gang-Leader wie später Veranstalter von Partys und mittlerweile politisch engagierter Sprecher der „Zulu-Nation“ (sein Begriff für die schwarzen Ghetto-Kids, die sich zu einer Zulu-Nation vereinigen sollen, statt sich in Gangs gegenseitig totzuschlagen) wurde mit seiner Gruppe Soul Sonic Force erfolgreich. Sein Hit „Planet Rock“, auch hierzulande nicht mehr unbekannt, verwendet Fragmente von Kraftwerk und eine elektronische Version der alten Shadows-Nummer „Apache“, die schon in der Version der Sugarhill Gang ein Hit der Bronx war, und zur Zeit als so etwas wie die Nationalhymne der „Zulu-Nation“ gilt. Dazu fordern die Soul Sonic Force-Rapper – verfremdet durch einen Vocoder: „The Bronx rocks to the Planet Rock. Don’t Stop!“ Dieses Stimmverfremdungsgerät ist überhaupt der letzte Schrei, ob bei Rap-Avantgardisten wie Soul Sonic Force oder Mainstream-Rappern wie dem West Street Mob, sogar bei Grandmaster Flash & The Furious Fives letztem Hit „Scorpio“ dominiert dieses Gerät, das Stimmen klingen läßt wie von Mickey Maus oder direkt wie von einem anderen Planeten.

Dazu hat sich der Tanzstil verändert. Das ausgelassene Breakdancing mit seinen akrobatischen Sprüngen und Stürzen wich dem roboterhaften Electric Boogie, der inzwischen, wie alles andere, was ich hier erwähne, bei Erscheinen dieses Artikels von der schnellebigen South Bronx-Szene längst wieder überholt sein wird.

Ein anderer neuer Trend in der Rap-Szene war das Aufgreifen sozialer Themen. „The Message“, vielleicht der größte Rap-Hit aller Zeiten, gab mit seinen detaillierten Aufzählungen aus den bedrückenden Realitäten des Ghetto-Lebens das Beispiel. Andere folgten. Duke Boote und Meile Mel, die eigentlich für „The Message“ verantwortlich waren und darunter litten, daß Grandmaster Flash, der als DJ mit dem monotonen Grundtrack der „Message“ nun wirklich nichts mehr zu tun hatte, den Ruhm kassierte, brachten eine „Message II“ heraus, Titel „Survival“. Kurtis Blow zog nach mit „Tough“, seiner Version von sozialem Realismus. Rap wurde plötzlich – nur zu verständlich bei den verheerenden Folgen der „Reagannomics“ mit ihren Kürzungen der sozialen Programme auf schwarze Gegenden und bei der hohen Arbeitslosigkeit, bis zu 80% im Ghetto – hochgradig politisch.

Daß ausgerechnet „The Message“ mit seinen spezifisch New Yorker Problemen im immer noch relativ ruhigen und gesättigten Europa einschlug wie eine Bombe, ist wieder einmal eines dieser Phänomene, die man seit dem Erfolg von schwarzem Blues bei weißen Mittelschichts-Jugendlichen Ende der 60er kennt, aber nur schwer erklären kann. Vielleicht hat materielles Elend in den Ghettos doch mehr Gemeinsamkeiten mit psychischem und emotionalem Elend in den westlichen Industriestaaten, als so mancher Soziologe ahnt.