Altherren-Sommer 1989


Die Veteranen der 60er und 70er Jahre machen mobil. Die Rolling Stones und The Who gehen wieder einmal auf Tournee, und auch die Doobie Brothers, Jefferson Airplane sowie die Allman Brothers kommen auf ihre alten Tage wieder mächtig in Fahrt. Quartiert sich die Rockmusik jetzt im Altersheim ein?

Das Jahr 1969 war anscheinend wirklich ein historischer Einschnitt. Nicht nur wegen des spektakulären Mondfähren-Unternehmens der Amerikaner („Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die Menschheit“).

Vom 15. bis 17. August 1969 beispielsweise ging auf dem morastigen Gelände des Bauern Max Yasgur im Bundesstaat New York ein lärmiges, chaotisches Festival über die wacklige Bühne, dessen 20jähriges Jubiläum im Sommer 1989 mindestens genauso viel Medienrummel verursachte wie die „Apollo“-Mission ins lunare „Meer der Ruhe“. Der Woodstock-Mythos von den drei Tagen voller „Love, Peace & Happiness“ erlebt jetzt – zumindest als Medienereignis – eine Renaissance. Zum Jubiläum erscheinen die beiden Live-Mitschnitte neu: „Woodstock – Music From The Original Soundtrack And More“ (3 LPs, 2 CDs) und „Woodstock Two“ (2 LPs. 2 CDs). Außerdem läuft in ausgesuchten Programmkinos der „Woodstock“-Film wieder an.

Auch für die Allman Brothers markierte das Jahr 1969 ein historisches Datum: Im März gaben sie in einem Park in Jacksonville, Florida.

ihr erstes Live-Konzert, und noch im gleichen Jahr erschien ihr Debütalbum, das sich bald als Grundstein für eine steile Karriere entpuppte.

Ende der 70er Jahre schien diese Karriere zwar nur noch in den Annalen der Rockgeschichtsschreibung zu existieren – doch 1989 stehen die Zeichen für die Allmänner günstiger als je zuvor. Denn ihre Plattenfirma Polygram veröffentlichte zum 20jährigen Jubiläum unter dem Titel DREAMS ein opulentes Paket aus sechs Langspielplatten (4 CDs), das die legendäre Rolle, die die Gebrüder Allman für die Entwicklung des Südstaatenrock spielten, ausführlichst und vorbildlich dokumentiert.

Mit 55 Tracks, darunter viele unveröffentlichte Live-Mitschnitte aus Konzerten im Fillmore East und frühe Demo-Aufnahmen, könnte dieses Erbe Gregg Allman und seiner Band zu neuen Charts-Ehren verhelfen. Das haben im Altherren-Sommer 1989 schließlich auch andere Veteranen der 60er Jahre geschafft.

So tummeln sich in den US-Charts plötzlich wieder die Doobie Brothers mit ihrer Single „The Doctor“, und die Combo klingt, als hätte sie die vergangenen 15 Jahre in einer Zeitschleife mal eben schnell übersprungen. Und Gruppen wie The Who oder Jefferson Airplane melden sich aus dem Altersheim oder aus dem Hangar zurück und mobilisieren alle noch verfügbaren Kräfte, um auf ihre alten Tage an der Jugendfront noch einmal kräftig auf den Putz zu hauen.

Trau keinem über 30? Ein lächerlicher Rat.

Ian Anderson von Jethro Tull hat 42 Jahre auf dem Buckel, sieht aus wie 62 und ist nach wie vor sehr gefragt. Pete Townshend, der in grauer Vorzeit im Evergreen „My Generation“ den Stoßseufzer ausstieß, „hope I die, before I get old“ und der mit The Who ebenfalls trotz eines schlimmen Gehörleidens auf Tournee geht, erblickte vor 44 Jahren das Licht der Welt. Generationskonflikt? Nicht die Bohne. Gregg Allman wurde vor 41 Jahren geboren; sein Bruder Duane, der 1971 in einem Motorradunfall tödlich verunglückte, war ein Jahr älter. Doch was zählt schon das Alter, wenn einer sein ganzes Leben der Rockmusik widmet?

Geraldine Allman, die 71jährige Mutter von Gregg und Duane, wußte jedenfalls von Anfang an, daß „die beiden nie wieder aufhören würden, nachdem sie sich einmal für die Musik entschieden hatten“. Ursprünglich wollte Duane zwar Rechtsanwalt werden, und Gregg träumte von einer Karriere als Zahnarzt, doch das waren kurzlebige Fantasien kleiner Jungen. „Sie übten Tag und Nacht“, erinnert sich Mama Allman, „und verursachten deshalb einen regelrechten Aufruhr in der Nachbarschaft“.

Als Duane Allman und sein Gitarristen-Duellpartner Dickey Betts mit den wiedererweckten Brothers im Juli dieses Jahres zur 20-Jahrfeier des Unternehmens an der amerikanischen Ostküste tourten, versetzten sie zwar nicht mehr die Nachbarn in Aufruhr – doch die ausverkauften Hallen, in denen nicht nur nostalgische Gedenkminuten gefeiert wurden, reagierten alle mal enthusiastisch. Produzent Bill Levenson, der das DREAMS-Paket schnürte, findet das nicht verwunderlich: „Sie waren eine der klassischen amerikanischen Bands, und ihre Live-Shows setzten hohe Maßstäbe, die bis jetzt noch niemand übertroffen hat.“

Von einem ähnlich guten Ruf zehren auch die Doobie Brothers, die sich nach dem überraschenden Comeback-Hit „The Doctor“ und nach dem aktuellen Album CYCLES (siehe ME/Sounds 8/89) gleich frohgemut zu einer vier Monate langen Welttournee aufmachten und allein in den Vereinigten Staaten 65 Konzerte auf den Terminkalender setzten.

Die Doobies – das Slangwort „dooby“ steht für einen Marihuana-Joint kamen übrigens zum ersten Mal ebenfalls vor 20 Jahren zusammen, und auch 1989 wußten sie noch sehr genau, worauf sie ihr Comeback bauen mußten, um in den Staaten anzukommen. Die Männer um Gitarrist Tom Johnston orientieren sich konsequent am Sound ihrer frühen Millionenseller wie etwa TOULOUSE STREET (1972) oder THE CAPTAIN AND ME (1973) – mit den typischen mehrstimmigen Vokalsätzen und griffigen Gitarrenlinien.

Das Schlagwort, das die Doobies solchermaßen wieder in alter Frische glühen läßt, heißt „Album-Rock“, oder genauer „album-oriented-rock“ (AOR).

In den Staaten stehen die drei Buchstaben AOR mittlerweile für ein starres Radiokonzept, das in erzkonservativer Manier nur noch Langspielplatten von Musikern der späten 60er und frühen 70er Jahre einsetzt. Junge Bands wie die Godfathers oder die Replacements haben in den Programmen der rund 200 einflußreichen AOR-Sender keine Chance; die Zeit scheint musikalisch still zu stehen – irgendwann zwischen 1967 und 1975. So gibt es auf den AOR-Frequenzen den lieben langen Tag Lynyrd Skynyrd und die Allman Brothers zu hören, The Who, Led Zeppelin und die Doors, Creedence Clearwater Revival und Crosby, Stills, Nash & Young. Mit solcher Musik erreichen die AOR-Stationen Townshends Generation. Denn diese Leute, die in den 60er Jahren mit Rock und Beat aufwuchsen und heutzutage mindestens 25 Jahre, meistens aber älter sind, gehören zum kaufkräftigen Publikum für Konsumgüter jeder Art. Da sich die amerikanischen Radiostationen als private Unternehmen von der Werbung finanzieren, geht die Rechnung auf: AOR-Stationen spielen nur die klassischen Rocktitel, damit Townshends in die Jahre gekommene Generation zuhört; die werbetreibende Wirtschaft erreicht somit ziemlich sicher ihre wichtigste Zielgruppe.

Daß sich die Anhänger der Woodstock-Nation nur ungern und wenn, dann allenfalls in Einzelfällen mit neuen Klängen konfrontieren lassen und stattdessen lieber in Nostalgie schwelgen, haben natürlich auch die Künstler und Plattenfinnen erkannt. Knallharte Fakten untermauern diese Erkenntnis. So kassierten die Effekthascher von Pink Floyd bereits im Sommer 1988 auf ihrer Tournee durch 23 amerikanische Städte satte 27 Millionen Dollar (gut 50 Millionen Mark). Und weil’so schön war, schoben sie im immer 1989 gleich noch eine weitere Mammut-Tournee mit ähnlichen Ergebnissen nach. Da durften die Fans außerdem europaweit im Fernsehen mitverfolgen, wie die drei Mittvierziger zum krönenden Abschluß ihres dröhnenden Triumphzugs den Putz von den venezianischen Dogen-Palästen und anderen Baudenkmälern bröckeln ließen.

Auch die Bee Gees räumten 1989 mächtig ab, und selbstverständlich warteten die Grauen Panther des Schmuse-Pop pünktlich zur Tournee auch mit dem neuen Album ONE auf, das in Sound und Strickmuster mehr denn je an die Oldies von früher anknüpft.

Damit erfüllen Barry, 41, Robin und Maurice Gibb, beide 39, eine unverzichtbare Forderung der AOR-Programme: Neue Platten der Veteranen sollen möglichst genauso klingen wie die Klassiker von früher – bloß keine musikalischen Experimente.

Daß dieses Rezept aufgeht, beweisen nicht nur die Doobie Brothers oder Gruppen wie Little Feat, Rascals, Molly Hatchet und Poco, die alle mit neuen Platten an vergangene Glorie anknüpfen. Sogar Grace Slick, Paul Kantner und ihre alten Kollegen aus den wilden Zeiten von San Francisco wollen unter dem Namen Jefferson Airplane noch einmal

zu einer großen Tournee starten – der ersten seit 17 Jahren. Auch ein neues Album erscheint zu diesem Anlaß auf CBS/Epic. Dennoch wird das moderner gestylte Starship nicht verschrottet: Das Album LOVE AMONG THE CANNIBALS erschien soeben bei RCA.

Schließlich kochen auch Jon Anderson, Bill Bruford, Rick Wakeman und Steve Howe ihr Süppchen mit Blick aufs AOR-Radio und auf die treuen Fans. Die einstigen Mitglieder der Gruppe Yes wärmen den zickigen Kunstrock-Eintopf der frühen 70er Jahre wieder auf – natürlich äußerst erfolgreich. Ihr Album entwickelt sich zum Bestseller; die Tournee, die im November nach Deutschland führt, entpuppt sich bereits als Kassenmagnet.

In diesem Zusammenhang wirkt es wie ein Silberstreif am trüben Horizont, daß sich nun sogar Can, die berühmteste und einflußreichste deutsche Kultband, zu einem Comeback entschlossen hat. Holger Czukay (Baß), Michael Karoli (Gitarre), Irmin Schmidt (Keyboards) und Jaki Liebezeit (Drums) gingen zusammen mit Malcolm Mooney, der 1969 und 1970 auf den beiden ersten Can-Platten MONSTER MOVIE und SOUNDTRACKS sang, wieder wie in alten Zeiten gemeinsam ins Studio. Sie nennen ihr neues Album, das im September kommt, RITE TIME.

Diese neue Platte mag nur ein kleiner Schritt für die jung gebliebenen Can-Pioniere sein. Angesichts der Riff-Recycler aus den USA, die unbeirrt ihr längst aus der Mode gekommenes Altes Testament verhökern, bedeutet sie aber doch einen großen Schritt für die musikliebende Menschheit.