Aufbruch im Morgengrauen


Es ist doch immer dasselbe, dachte Angela. Man lernt ihn auf einer Party kennen, man mag die gleiche Musik, man findet sich gegenseitig attraktiv und sympathisch.

Dann fängt man an, miteinander auszugehen, häufig und begeistert. Man stellt sich gegenseitig seinem Freundeskreis vor, man geht mit der ganzen Clique aus. Man besucht Parties. Man gewöhnt sich aneinander – hört auf, miteinander zu flirten und schliesslich auch, miteinander zu reden.

Man feiert weiterhin Parties, sucht neue Gesichter, neue Eindrücke, und irgendwann ist es die letzte Party, die man zusammen feiert…

DER REIZ DES FREMDEN

Und dieses hier war wieder eine letzte Party, das wusste sie plötzlich. Was soll’s, auf die letzte folgt wieder eine erste mit einem neuen Knaben, sagte sie sich und versuchte, den Trübsinn, der mit dem Wort „letzte“ verbunden war, von sich zu schieben. Da sass dieser smarte Biologiestudent auf der Holzbank neben dem Kamin und beobachtete sie seit geraumer Zeit. Er hatte sie zu Beginn der Party schon zum Tanzen aufgefordert, aber sie hatte abgelehnt. Er würde sicher nocheinmal kommen. Nicht siecht, der Knabe, auf den ersten Blick jedenfalls.

Sie nahm einen Schluck Whisky. Über den Rand des Glases hinweg wanderte ihr Blick zur Tanzfläche. Aha, Wolfgang tanzte mal wieder mit Katja. Süsses Mädchen, davon ganz abgesehen. Nein, sie nahm es ihm nicht übel. Sie gönnte ihm diesen Flirt. Er würde nicht soweit gehen, diese Katja nach Haus zu bringen. Er war an Katja gewöhnt, sie waren seit einem halben Jahr zusammen. Lange genug eigentlich, ein halbes Jahr. Wieder betrachtete sie diskret über ihr Whiskyglas hinweg diesen Biologiestudenten. Er war ein entfernter Freund von Sylvia, das war alles, was sie wusste.

Ihr kam der Gedanke, dass Wolfgang Katja wahrscheinlich nach Haus gebracht hätte, wenn sie nicht hier gewesen wäre.

Sie zog eine Zigarette aus ihrem Etui. Zu ihrer Überraschung stand der Biologiestudent auf und kam zu ihr hinüber.

„Ich gebe Dir ein Feuerchen, wenn Du mir eine Zigarette gibst…“ „Aber bitte“. Sie hielt ihm die Schachtel hin.

Er setzte sich neben sie.

„Ich heisse Christian“.

„Freut mich zu hören. Ich heisse Angela“.

„Nicht zu fassen!“ Er lachte.

Er hat eine angenehme Art zu lachen, dachte sie. Vielleicht gefalle ich ihm und vielleicht wird er Wolfgang’s Nachfolger. Sie wunderte sich über die Nüchternheit ihrer Gedanken.

Christian redete munter auf sie ein und sie lachte manchmal. Währenddessen spürte sie, dass Wolfgang ihr mehr und mehr verlorenging. Ein halbes Jahr… Sie war nichts Neues, nichts Besonderes mehr für ihn. Sie konnte ihm das nicht übelnehmen. Aber sie hatte ein bisschen guten Willen von ihm erwartet, er hätte sich doch ein bisschen, nur ein bisschen zwischendurch mit ihr befassen können, als Zeichen dafür, dass sie für ihn noch existierte…

Sie trank ihr Whiskyglas leer und spülte das Gefühl der Enttäuschung hinunter. „Komm, tanzen wir“.

Sie Hess sich mit auf die Tanzfläche ziehen. Wolfgang sah sie und lächelte ihr über Katja’s Schulter hinweg zu. Sie fand, dass er sich diese Geste hätte schenken können und lächelte nicht zurück. Sie sah ihm eine Weile beim Tanzen zu: Sie kannte alle diese Bewegungen das Kopf-in-den-Nackenwerfen, das Arme-von-sich-strecken, all das. Und sie kannte seine mechanische Reaktion, als die Musik langsamer wurde: Sein abwesendes Lächeln, die Hände auf den Hüften seiner Partnerin und ihr Gesicht dicht an seinem. Es tat ein bisschen weh, sich von diesem Knaben zu lösen, aber es wäre sinnlos gewesen, sich jetzt noch zu bemühen. Sie wandte sich Christian zu, begegnete seinem Blick. Er hatte grosse, braune Augen und roch ein bisschen nach Tabak. Der Reiz dieses Neuen, Fremden, machte sie allmählich bereit, sich ablenken zu lassen.

LASS IHN GEHEN …

Der Rhythmus der Musik fing an, an ihrem Kopf zu hämmern. Langsam, dumpf und gleichmässig.

Christian legte seine Hände auf ihre Hüften – genauso, wie Wolfgang es immer getan hatte und nun bei Katja tat. Immer dasselbe, alle gleich, alles gleich. Die Melodie wechselte, der Rhythmus blieb, ruhig und gleichmässig. Sie Hess sich in diesen Rhythmus hineinziehen, hörte auf zu denken und fühlte sich wohl.

Christian schob seine Hände unter ihren Pullover auf ihre Rippen.

Sie empfand diesen warmen Druck von Haut auf Haut als angenehm und konzentrierte sich darauf.

„Bist Du allein hier oder mit jemandem gekommen?“ sagte Christian dicht an ihrem Ohr. „Mit Wolfgang“ sagte sie. „Wolfgang?“ Er guckte recht ungläubig. „Naja -“ „Habt Ihr Euch verkracht?“ „Nein. Wir sind uns nur überdrüssig geworden, das ist alles“. Er nickte. „Ja, so ist das immer nach einer gewissen Zeit. Du darfst nicht den Fehler machen, ihm nachzutrauern“. – Nachtrauern. Das hörte sich an, als sei die ganze Sache schon vorüber und ausgestanden. Das hörte sich an, als hätten sie sich längst getrennt. Nein, es war noch nicht endgültig vorbei: Er war hier, wenige Meter von ihr entfernt, zum Greifen nahe und mit den Gedanken weit fort. „Was soll ich nun tun“ murmelte sie und ihre Stimme ging in der Lautstärke der Musik unter. „Lass ihn doch gehen …“ Sie hob den Kopf, sah Christian an und zog dabei die Schultern hoch. „Las ihn gehen“, wiederholte er und schloss seine Arme fester um ihren Körper. „Lass uns was trinken“ sagte sie. Sie verliessen engumschlungen die Tanzfläche und Wolfgang schien sie nicht zu bemerken. Sie nahm das Glas, das Christian ihr reichte und trank es mit einem Zug leer. Sie fragte sich, ob Wolfgang begriffen hatte, was in ihr vorgegangen war. Wahrscheinlich nicht. Er war viel zu sehr beschäftigt. Wahrscheinlich würde er nachher zu ihr kommen, sie unschuldig mit grossen Kalbsaugen angucken und sie nach Haus bringen wollen. Sie hatte Lust, sich diese Situation zu schenken und sagte Christian das. „Okay, ich bringe Dich jetzt nach Haus. Und morgen hast Du Zeit für mich?“ „Aber natürlich“, sagte sie. Natürlich würde sie Zeit für ihn haben – solange, bis auch sie zusammen ihre letzte Party feiern würden.

KAFFEE UM HALB VIER

Sie hatte geschlafen und wachte durch das Klingeln an der Haustür auf. Ehe sie überhaupt wusste, was los war, sprang sie mechanisch aus dem Bett, zog einen Bademantel über und öffnete die Tür. „Wolfgang! Bist Du verrückt, mich mitten in der Nacht noch wachzuklingeln?“

„Es ist nicht mitten in der Nacht, mein Schatz, sondern früh am Morgen. Halb vier, wenn Du es genau wissen willst Draussen fängt es an, hell zu werden. Wir haben bis eben gefeiert. Da Du die Party mit Christian so voreilig verlassen hast, hatte ich nicht eher Ruhe, bis ich wusste, wo Du bist und was Du tust. Darf ich reinkommen?“

„Du siehst also jetzt, wo ich bin“, antwortete sie ruhig, während sie die Tür hinter ihm schloss, „und was ich tue, will ich Dir auch sagen; ich schlafe. Ist das etwas Ungewöhnliches um diese Zeit?“ „Schlafen ist etwas sehr ungewöhnliches, wenn man stattdessen die Möglichkeit hat, ein Party zu zu feiern“, gab er zurück.

„Deine Parties kotzen mich an“, sagte sie heftig und im gleichen Atemzug fuhr sie fort: „Möchtest Du Kaffee?“

„Sehr gern“. Er blieb stehen, sah sich im Raum um und fragte dabei: „Und wo hast Du Christian versteckt?“

„Er ist nicht hier! Und wenn er hier wäre, würde ich ihn nicht verstecken, am allerwenigsten von Dir! Ausserdem gehst Du mir auf die Nerven mit Deinem albernen Gefasel!“ Sie war hellwach geworden. Wolfgang hatte reichlich getrunken, das stand fest Was soll’s, es hat keinen Zweck, sich noch zu ärgern, sagte sie sich. Sie ging, um ihm zum letzten Mal Kaffee zu kochen. Er kam ihr sehr vertraut vor, wie er da sass, als sie ihm den Kaffee brachte. Er hatte immer diesen abwesenden, leeren Blick, wenn er erschöpft war. Er tat ihr leid und sie ärgerte sich darüber. Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie übersah das und stellte den Becher auf die Sessellehne. „Danke Dir“, sagte er müde. Sie wurde immer weich, wenn er mit so müder und erschöpfter Stimme sprach. Es ist schwer, sich gegen seine eigene Nachgiebigkeit zu wehren, dachte sie und fing an, in Zimmer auf- und abzuwandern. -Hoffentlich fängt er jetzt nicht an, sich zu entschuldigen- Sie blieb hinter ihm stehen. Seine Haare waren lang geworden, das fiel ihr jetzt auf. Sie nahm ihren Kaffeebecher in beide Hände und trank einen kleinen Schluck. „Angela?“ „Ja“. „Du willst Schluss mit mir machen, nicht wahr?“ „Ja“. „Ich weiss, Du hast Grund dazu“. „Eben“. Er sprang auf, blieb dicht vor ihr stehen und hielt sie an den Armen fest. „Warum tust Du es nicht jetzt? Warum sagst Du denn nichts?“ Sie hob hilflos die Schultern. „Ich kann nicht. Ich finde es schlimm, wenn Du gehst. Aber ich finde es genauso schlimm, wenn es mit uns so weitergeht wie auf dieser verdammten Party…“ „Es tut mir so leid… und mir liegt nichts an Katja, wirklich nicht…“ Sie nickte, löste sich von ihm und trat ans Fenster. Die Sonne ging auf.