Gespräch

Deichkind im Interview: „Wir sind Künstler und Beobachter, keine Aktivisten“


Musikalisch ist NEUES VOM DAUERZUSTAND sicher keine Neuerfindung. Trotzdem ist vieles anders bei Deichkind. Aus der Pandemie heraus treten die drei Kernkinder im Gespräch nicht mit Krawall, sondern als Beobachter der Gegenwart. Mit der Hoffnung auf einen neuen Underground. Früher hieß das Reife, heute klingt es nach Podcast.

Porky hat einen Moment. Er beugt sich vor auf dem Sofa im Studio oben im Berliner Holzmarkt, gleich über der Spree, und springt dann dazwischen. Porky hat solche Momente. Sonst hört Porky meist zu, wie die anderen reden, Philipp Grütering alias Kryptik Joe und Henning Besser alias DJ Phono alias La Perla. Später wird Porky erklären, wie Musik entsteht: aus dem Äther kreieren, nehmen, was aus der Stille kommt. Das klingt null nach Deichkind. Deichkind, seit Ende der Neunziger Deutschlands kollektiver Tetraeder in Sachen Electropunk, Sloganeering und HipHop, klingen eigentlich nach Krawall, Quatsch und Gegenwart. Und so einen Moment hat Porky gerade. Es ist ja eigentlich gemächlich hier, aber jetzt wird es einmal laut.

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„Privatsphäre ist völlig überbewertet“

PORKY: Ich musste gerade an die Ausbeutung der Musiker denken durch die Spotify-Diktatur. Weil ich ja jetzt die Plattform habe, im Musikexpress. Dass die jungen Leute sehen, dass wir keine Plattenverkäufe haben. Dass es wieder einen Raum gibt für Underground, der auf alles scheißt.

KRYPTIK JOE: Dass Underground auch möglich ist.

Okay. Wo finde ich den Underground, der möglich ist, denn dann?

LA PERLA: Den sehe ich auch nicht so richtig, den Underground, aber ich würd’s auch nicht mitkriegen, wenn’s ihn gäbe.

PORKY: Ich habe einen romantischen Moment gerade! Ey, geile Bands – früher, da bin ich nicht zum Congress Center Hamburg – ein Kack, da bin ich in die Markthalle gefahren oder in die Fabrik und hab’ mir den real shit reingefahren und so was wird sich auch wieder entwickeln.

KRYPTIK JOE: Ja, es ist einfach so: Heute ist alles offen, du kannst alles hören, aber du schaffst es gar nicht. Du suchst dir als Jugendlicher deinen Kram, und dann wird es undergroundig, weil es keiner hört. Nur du feierst es ab. Es gibt vor allem heute ganz andere Möglichkeiten, sich Identitäten zusammenzusuchen, als wir – ich bin ja ein bisschen jünger als ihr, aber trotzdem – das noch hatten. Da war es noch so – du musstest dich entscheiden, bist du HipHopper oder Metaller, das hat das ganze Wesen bestimmt. Heute erlaubt dir allein die Frage, was du isst, ob du vegan bist …

LA PERLA: … und dabei kannste auch Ed Sheeran hören. Es ist komplexer, und es gibt viel mehr Bausteine, aus denen du deine Identität bauen kannst.

KRYPTIK JOE: Unser Junge malt jetzt Graffiti, er taggt. Eine Leidenschaft. Und ich bin total froh, dass er das macht. Wir denken natürlich einerseits: Sachbeschädigung, Vandalismus, also als Eltern: hmm, nervig. Aber andererseits unterstützen wir ihn dabei, kaufen ihm Sketchbooks. Und überlegen uns dann: Krass, dann hat er bestimmt da bald keinen Bock mehr drauf. Eigentlich muss er eine Kultur finden, die gegen Eltern ist. Du musst ja etwas finden, das ganz anders ist. Das ist schwer, früher haben die Eltern noch Radio gehört.

LA PERLA: Da fällt mir sofort die Letzte Generation ein, die nicht nur zu ihren Eltern, sondern auch ihren Großeltern die Gegenposition einnimmt, zu Recht. Und da noch einmal mit einer anderen Vehemenz einfordert, sich dem Klimaschutz
zu widmen.

Das Pressefoto zu „Geradeaus“ von Deichkind (Foto: Ben Jakon)

Als es hier in Berlin zu einem Unfall mit einer Radfahrerin kam, der von konservativer Seite so geframet wurde, dass der Letzten Generation die Schuld gegeben werden konnte, waren die Aktivisten auf der Autobahn 59 und 63 Jahre alt, also selbst eher die Generation Großeltern.

KRYPTIK JOE: Ich habe einen Freund getroffen, der sagte: „Eigentlich kannst du als Kind nur noch Nazi oder dick werden.“

PORKY: Als Kind habe ich eine Kassette gekriegt, da waren Black Flag drauf und Slime. Ich fand das toll und wollte das meinen Eltern zeigen, aber die sagten: „Nein, nicht diese Musik! Wir geben dir Geld, wenn du so was nicht hörst, das ist musikalische Umweltverschmutzung!“ Ich fand das traurig. Ich wollte nicht rebellieren, ich fand nur blöd, dass meinen Eltern nicht gefallen hat, was mir gefallen hat.

Ich fand es bisher immer ein wenig disrespectful, wie Deichkind Interviews gemacht haben. Zum Beispiel, bei der letzten Platte: Journalist*innen müssen zu Beginn der Begegnung eine Karte ziehen, die Thema und Stoßrichtung des Gesprächs vorgibt. Ich verstehe das natürlich, zwanzig Jahre „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“, furchtbar. Andererseits: Stelle man sich mal vor, Christian Lindner würde so verfahren. Also, klar stellen Musikjournalist*innen oft uninspirierte Fragen, ich ja auch, aber wir sind ja trotzdem irgendwo Journalist*innen. Den Bumms nicht mitzumachen, wäre eigentlich eine Frage von Selbstrespekt. Gut, dass Deichkind diesmal etwas anderes vorhaben. Nämlich: tatsächlich reden. Über das Jetzt. Da rennen sie bei mir offene Türen ein. Deichkind müssen schließlich ziemlich gute Beobachter der Gegenwart sein, sonst hätten sie nicht so oft exakt Nerven getroffen. Und Deichkind sind schließlich auch nicht nur dadaistische Lachsäcke fürs Post-Akademikum. Sie haben Kinder, Bauernhöfe in Holstein und Zeit, über Privilegien zu reflektieren. Wenn Porky keine Momente hat, klingen sie also im Interview
gar nicht mehr wie Deichkind, sondern wie Menschen, die Dialog darstellen, Positionen performen. Vielleicht lernt man aber hier auch, warum Männer of a certain age einfach einen Podcast brauchen?

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LA PERLA: Wir müssen uns einmal Social Media anschauen und wie wir ein ambivalentes Verhältnis dazu haben. Philipp vertritt dazu zum Beispiel die Position, dass es eine jüngere Generation gibt, die viel selbstverständlicher und natürlicher mit Social Media umgeht. Ich habe dazu den Gedanken gehabt und neulich etwas dazu gelesen, dass die Studienlage das nicht stützt. Die Studienlage sagt eher, dass Selbstmordraten und Depression bei Jüngeren um ein Vielfaches höher sind, als das früher der Fall war. Und dass jüngere Leute viele Schwierigkeiten damit haben, damit umzugehen.

KRYPTIK JOE: Du hast da schon recht, das glaube ich auch gar nicht, dass das nur geil ist. Aber ich glaube, ich habe da eine grundsätzlich andere Einstellung, in der Zukunft das Positive zu sehen. Eigentlich ist Social Media ein Kommunikationsgeschenk, das die Gesellschaften unglaublich voranbringt. Natürlich kann man alles kritisieren, dass das von großen privaten Konzernen gelenkt ist, aber eigentlich ist die Zahnpaste aus der Tube, die Menschheit wird bei Social Media bleiben, das wird nicht zurückgehen.

LA PERLA: Ich bin nicht der Einzige, der sagt, dass das in zehn Jahren keine Rolle mehr spielen wird. Viele Menschen stellen fest, dass es ihnen nicht besser geht dadurch, dass sie die Urlaubsfotos der anderen gucken. Bei Twitter gibt es Annahmen, dass 40 Prozent der Beiträge von Bots kommen.

Ich glaube, es ist letztendlich eine Algorithmenfrage. Wie du ja auch sagst, die Lenkung durch große Konzerne: Wie kriegen wir die Algorithmen demokratisiert? Auch im real existierenden politischen Raum bevorzugen die sozialen Medien heute in ihrer Aufmerksamkeitsökonomie ja eher den Rechtspopulismus, aber das ist ja nicht als natürlich gegeben.

KRYPTIK JOE: Ich erwische mich selbst dabei, wenn ich mein Kind sehe und versuche, seine Bildschirmzeit zu kontrollieren, zu spüren, dass der jetzt eine Jugend durchlebt. Der hat jetzt a time of his life, auf die wird er in zwanzig Jahren zurückblicken und sagen: „die krasseste Zeit, die ich hatte“. Und das merke ich, wenn ich älter werde, dass ich diesen Blick habe: Social Media, für mich ist es der Teufel, aber ein Teil von mir widerstrebt dem. Ich weiß, ich werde alt und grumpy und finde alles doof, was neu ist.

LA PERLA: Ich glaube, es ist wie mit allen Technologien. Die Technologie als solche ist ja wertfrei weder gut noch schlecht. Aber ich glaube schon, dass im Grunde genommen die Konzerne dort sehr viele Entscheidungen treffen, und es sind ja nicht einmal viele Menschen, die die Entscheidungen treffen. Und die sorgen dafür, dass die Technologie nicht zum Wohle der Menschheit eingesetzt wird, sondern deren Interessen dient. Und das führt zu Nebenwirkungen und Effekten, die für den einzelnen Menschen negative Konsequenzen haben.

KRYPTIK JOE: Alles richtig, alles richtig.

LA PERLA: Und das könnte natürlich die Lösung sein, sich zu überlegen: Wie wird das demokratisiert, wie wird man da hinkommen, diese Technologien im Sinne der Menschheit, eines Wohlbefindens einzusetzen. Denn das Potenzial sehe ich. Aber ich glaube auch, dass das Teil eines Kulturkampfes ist zwischen Marktanteilen und Gewinn und der Frage, wie das eigentlich der Menschheit guttut. Die Ordnungsmacht der Algorithmen ist ein Riesenthema: Gelingt es uns als Gesellschaft, das Ruder umzureißen, bevor die Auswirkungen des jetzigen Zustandes so viele negative Effekte haben, dass es kaum umkehrbar ist? Und das sehe ich adressierbar als Thema, zum Beispiel im Track „Wutboy“ auf unserem Album: durch Populismus, durch Fake News getriebene Diskussionen, verzerrte Diskurse im Internet, die viel Aufmerksamkeit kriegen, die zu einer Veränderung der Gesellschaft führen. Wie sehr hat Social Media Spaltung vorangetrieben?

KRYPTIK JOE: Wobei wir eigentlich Pop-Künstler sind, mich interessiert auch: Wie geht es der Popkultur, wie wird die sein, wie war es früher, wie sehen Jugendliche das. Pop-Pessimismus hat es immer gegeben. Ich komme da auch hin, dass man sagt: Es wird immer schlimmer, aber ein Teil bleibt naiv positiv.

PORKY: Also, ich gebe gern meine Daten ab, ich stimme auch immer allen Nutzungsbedingungen zu, ich habe alle Cookies und die werden niemals gelöscht. Ich habe Bock auf Raumschiffe, ich habe Bock auf R2D2, klar gibt’s da Probleme, da muss ein Umgang mit gefunden werden, aber ich finde Technologie geil, ich mag Technik, ich will auch Holodecks, die müssen kommen, ich finde auch: Soziale Medien müssen weg, die Gehirne müssen über Metaebenen miteinander verworren werden, es darf keine Geheimnisse mehr geben, Privatsphäre ist völlig überbewertet. Wenn du einen Droiden willst, der eine Million Sprachen spricht, braucht man halt Daten. Ich finde die Diskussion schrullig, ich will, dass ihr meine Platte kauft, und jetzt ist auch mal Schluss mit dem Thema. Mann, ich bin doch kein Soziologe, Alter, ich bin Musiker, da steht ein Amp, der ist legendär, aber das Ding ist wertlos, Digger, da gibt’s jetzt ein Plug-in für, das ist doch Raum, der verschwendet wird!

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Eine Frage stellen die drei übrigens doch, zum Einstieg ins Gespräch, und zwar: Welches Lied vom neuen Album wirklich bei mir hängen geblieben ist. Es ist kein Banger, sondern ein Rant: „Kids in meinem Alter“. Der hat schon ein paar Striche auf der Strichlistentafel, vermutlich der Sample-Gruppe geschuldet: Fleischessen, Skaten mit Helm, Kippen auf dem Einkaufszettel,
Olli Schulz, Friedrich Merz, grün wählen, Kirche austreten – „da kommen viele geile Sachen zusammen!“ Falls doch die Themen ausgehen sollten, haben Deichkind zur Inspiration Bücher auf den Tisch gelegt. Philipp brachte Otto Waalkes mit, obendrauf liegt allerdings: „Foucault in Kalifornien“, Porky findet, es liest sich gut weg. Michel Foucault, der cartooneske Theoretiker des Poststrukturalismus, ikonische Glatze, ikonische Denke, reiste nämlich 1975 nach San Francisco und ließ sich dort auf einen LSD-Trip in der Wüste ein, ein Zeitzeuge hielt die Szene fest. Das Buch sollte schon vor zwei Jahren erscheinen, dann wurden Berichte über Foucaults sexuelle Ausbeutung minderjähriger Straßenjungs in Tunesien prominent geflüstert und das Buch erst mal auf Eis gelegt. Nun ist es im Sommer erschienen. Michael Jackson aus den Karaokelisten zu canceln, war ja schon schwer, Foucault aber, da traut sich der Betrieb nicht ran. Was das Buch enthüllt, ist aber vor allem, dass Foucault auf LSD im Endeffekt ein genauso unorigineller Labermensch ist wie du und ich. Das Universum, die Wahrheit und alles, na klar. Kids in meinem Alter, uff.

KRYPTIK JOE: Wir haben schön brav CDs verkauft, immer darauf geachtet, Platin erreicht – und dann schalteten die Plattenfirmen um. Internet war immer der Teufel, aber auf einmal ging der Wasserhahn auf und alles war Streaming.
Erst mal ein Dämpfer, auch für mich.

PORKY: Ja, du bist nämlich nicht die besondere Pflanze in Gottes Garten. James Brown war auch der Funkmaster, dann kam auf einmal Disco, war vorbei mit, Alter. Die wurde ja nicht speziell für dein Schicksal erfunden, die Wende. Aber du bist natürlich trotzdem legendary Kryptik Joe.

KRYPTIK JOE: Da geht es ja nicht um das Jammern aus der eigenen Perspektive, dass mein Geschäftsmodell vor die Binsen geht, das wäre wirklich trist. Aber es ist schon interessant, einmal darüber zu sprechen, wie wir die Welt sehen. Du kannst sagen: „Wir sind ‚nur‘ Pop-Künstler.“ Aber in Zeiten, in denen die Krise auf vielfache Weise spürbar ist und existiert, ist es wichtig, dass auch Künstler ihren Blick auf die Welt zeigen. Ich will nicht Pessimismus des Pessimismus wegen betreiben und mich im Pessimismus suhlen, aber ich finde, man kann den Zustand erkennen und aus der Unzufriedenheit heraus Motivation schöpfen, Dinge zu verbessern, weil ich nicht glaube, dass sich Dinge von selber lösen. Ich glaube nicht, dass ich als Teil dieser Band die Weltprobleme lösen kann, aber ich habe auch keinen Bock, ganz passiv zuzugucken.

LA PERLA: Wir sind Künstler und sind nicht in einer NGO aktiv gegen Klimawandel und Rassismus. Wir sind eigentlich Beobachter, die das aufnehmen auf ihre zarte Art und Weise, oder die Art und Weise, wie wir halt drauf sind.

KRYPTIK JOE: Ich finde, das ist eine gute Einschätzung, dass wir uns nicht als Speerspitze einer Aktivistengruppe einordnen dürfen, das wäre einfach nicht gerechtfertigt, aber ich finde, eine künstlerische Perspektive auf Dinge wichtig. Wir haben gelernt, in der Pandemie: Da gibt es eine dreißigseitige Studie, und wenn die verkürzt wird auf eine Überschrift, dann ist die Überschrift vielleicht nicht falsch, aber sie gibt nicht wieder, was auf den dreißig Seiten steht. Aber umgekehrt geht das auch, und das ist Kunst: Dass in drei Wörtern etwas steht, und es löst etwas bei dir aus, was du in dreißig Seiten gar nicht besser beschreiben könntest. Können wir einen Blick auf die Dinge auslösen, den ein Wissenschaftler nicht kann, jemand in einer NGO nicht kann? Ob das Ermutigung ist, das Gefühl, nicht allein zu sein, oder Empörung. Egal, wo wir in diesem Konstrukt sind, das ist meine Motivation, dass Kunst und Kultur für eine Gesellschaft ein Mehrwert ist und einen Sinn ergibt.

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Das erste Video im Veröffentlichungszyklus zum DAUERZUSTAND heißt „In der Natur“. Live-Deichkind David Mayonga aka Roger Rekless performt standuppaddelnd und lost im Bergsee in Lederhose einen Jodel des Schweizer Vokalkünstlers Christian Zehnder, Philipp Grütering führt einen Robo-Dog Gassi durch den Wald, die süßeste Polizeidrone der Welt. Die Natur, das ist das ätzende Andere, der Sehnsuchtsort zum Sterben. In Seuchenschutzanzügen wird das borkenkäfertote Unterholz ausgeräuchert. Besser ist das. Am Ende finden Deichkind Putins phallischen Tisch, tief in den Sand gerammt. Was ist hier Natur, was Post-Apokalypse, das Gegebene nach dem Menschen?

KRYPTIK JOE: Wenn du von Apokalypse sprichst, wenn man vom Klimawandel spricht, das ist ganz abgefahren, ich spüre,
dass es für mich grundlegend Veränderung braucht. Dass die Welt auf diesen Abgrund zustürzt, das ist mir intellektuell präsent, aber es ist gefühlsmäßig nicht da.

LA PERLA: Du meinst, es ist ein mentaler Prozess, keine Erfahrung.

KRYPTIK JOE: Ich bin in der Corona-Zeit im Lockdown, wo klar war, dass es persönliche Einschränkungen geben
muss, ein bisschen zu mir zurückgekommen und habe Optimismus und Hoffnung geschöpft daraus, dass es nicht nur darum geht, die meisten Platten zu verkaufen. Ich habe es für mich so erfahren, dass ich bei dieser Platte nicht die Momente hatte von: Ich muss in diesem System funktionieren, und: Dieser Song muss diese Hook haben, und: Dieser Track muss 3:30 gehen. Irgendwie war ich diesmal inspiriert von der Krise, konnte mehr genießen, was ich mache, statt zu sagen: „Ich bin systemirrelevant, das ist sinnlos, das braucht die Gesellschaft nicht.“

LA PERLA: Ich will noch einmal auf die Motivation zu sprechen kommen. Ich merke schon, dass ich in der aktuellen
Zeit ein ganz starkes Ungerechtigkeitsempfinden habe. Das beunruhigt mich und das treibt mich an. Wenn ich an
meine Teenager-Zeit zurückdenke, war damals das utopische Ziel, die Welt zu verändern. Und ein Stück weit ist das auch noch immer drin. Wenn ich an das Video von „In der Natur“ denke und das, was du gesagt hast, das Fühlen, dass du es noch nicht
spürst, auch wenn du es intellektuell verstehst: Gelingt das mit den Bildern in so einem Video, all die Komplexität und
Ambivalenz eines solchen Themas zu begreifen? Kann dieses Unbehagen, das der Seuchenschutz im toten Wald erzeugt, in Verbindung mit der Zeile, die mich zum Schmunzeln bringt, mehr die Realität empfinden lassen als … alles ist wirklich schwarz oder weiß? Als Künstler kann es eine Freude sein, selbst wenn das Grundthema traurig ist, wenn etwas fühlbar oder greifbar wird, eine Poesie darin zu finden. Wenn ich an 25 Jahre Deichkind denke, wo wir herkommen, welchen Weg wir gegangen sind, und wie wir älter werden – wie gelingt uns das die nächsten 15 Jahre, die wir das noch machen wollen, Deichkind so zu machen, dass wir uns in diesem Projekt gerne aufhalten und es uns gelingt, der Zeit angemessen etwas herauszubringen, was eine Resonanz erzeugt?

Deichkind haben eine neue Platte gemacht. Irgendjemand muss das ja machen, in luftdicht verschlossenen Biohazard-
Anzügen durch die toxisch gewordenen Ruinen der Menschheit stiefeln und Beweise sichern. NEUES VOM DAUERZUSTAND könnte ein neues Kapitel eröffnen, für eine Band, deren Platten sich einmal millionenfach verkauften, als noch jemand Platten kaufte, und deren Tracks in den populären Sprachgebrauch eingingen. Offensiver politisch werden, könnte ein gangbarer Weg sein, oder der, auf poetische Weise Gedanken anzustoßen. Einigen können sich die drei auf eine Sache: Wichtig ist die Grundhaltung. Im Dauerzustand, der Gut und Böse nachhaltig ins Grau verwischt, nicht die schlechteste Herangehensweise.

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Dieses Interview erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 03/2023.