Popkolumne, Folge 230

Faszination Erobique oder: Die Sache mit der Kontaktlinse – Linus‘ Popkolumne


Linus Volkmann widmet dem knuffigen Orgelunterhalter Erobique die dieswöchige Pop-Kolumne. Mit Recht!

Von „Wann strahlst Du?“ zu „Urlaub in Italien“. Kaum ein Künstler verkörpert soviel Good Vibes wie Carsten Meyer alias Erobique. Nach 25 Jahren charmanter Umwege und kompletter Volltreffer erscheint nun sein zweites Album. Linus Volkmann widmet dem knuffigen Orgelunterhalter die dieswöchige Pop-Kolumne. Mit Recht!

Komm Küssen. Ein Magazin, das sich bereits in den Neunzigern ausführlich mit dem Privatleben von Erobique beschäftigte.

Erobique und die Sache mit der Kontaktlinse

Wer sich schon länger mit Indie-Musik und ähnlich gelagerten Dingen beschäftigt, hat höchstwahrscheinlich einen oder mehrere biographische Momente, die Carsten Meyer alias Erobique kreuzen. Ein Stück, ein Clip, ein Live-Auftritt, irgendwas bleibt am Ende bei jedem hängen von dem ehemaligen Münsteraner und seiner geschmeidigen Orgelkunst. Die erste Platte von Erobique datiert dabei zurück auf das Jahr 1998, EROSOUND! hieß sie. Schon in den Neunzigern war Carsten Meyer also aktiv. In einem Fanzine aus jener Zeit finde ich frühe Spuren von ihm. Die Newsspalte der dritten Ausgabe des „Komm Küssen“-Magazins widmet sich fast ausschließlich angeblichen Eskapaden von Carsten Meyer – und das genauso indiskret wie unterhaltsam. Man erfährt beispielsweise, dass der Musiker beim Tanzen mit der Nase jemandem „versehentlich“ ins Auge gekommen sei, sodass die andere Person ihre Kontaktlinse verloren habe.

Klingt schon mal gut? Finde ich auch. Und es geht noch weiter. Ein Absatz später wird Carsten Meyer selbst zitiert, den der Autor offenbar zu jenem Kontaktlinsen-Gate befragt hatte. Man erfährt, Erobique sei genervt darüber, dass sich Leute durch die Nennung seines Namens „profilieren wollen“. Das war 1997!

Heute schreiben wir das Jahr 2023 – und eigentlich ist es doch immer noch so. Diese Kolumne ist der beste Beweis. Mir hat Carsten Meyer zwar nie den Augapfel geleckt, dennoch schiene es mir ein Leichtes, diese Zeilen bloß mit erbaulichen Anekdoten über den umtriebigen Wahl-Hamburger zu füllen. Doch da dieser Text vor allem zu einem aktuellen Interview mit ihm hinleiten möchte, versuche ich den Erobique-Nähkästchen-Flashmob im Rahmen zu halten.

Auszug aus Komm Küssen #3, 1997
Paulas Popwoche: Sind wir noch zu retten?

Erobique und all die anderen

Erobique war über so lange Zeit der Joker in nerdigen Pop-Zusammenkünften (mit Jacques Palminger, Songs For Joy, Fraktus, School Of Zuversicht und viele anderen), dass er in der Summe letztlich ein veritabler Star der hiesigen Musikszene geworden ist. Eine seiner bekanntesten Zusammenarbeiten stellt sicherlich International Pony dar. Zusammen mit Cosmic DJ und DJ Koze von der Band Fischmob gestaltete Erobique sehr eigenen Dance-Pop, durchsetzt von gimmicky Sounds und überzogenem Autotune-Einsatz, aber auch wiederum sehr stilbewussten und melancholischen House-Passagen. Alles gleichzeitig zu hören auf einem ihrer größten Hits „Leaving Home“.

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Ich hätte in dieser Phase in meiner Rolle als Redakteur eines Musikmagazins die Möglichkeit gehabt, mir Interviews mit den drei Big Stylern zu sichern. Doch ich vergab diese lieber an andere Autor:innen. Denn das Trio um Carsten Meyer galt nicht zu Unrecht als dermaßen witzig, innovativ und von Wiederholung gelangweilt, dass Interviewer:innen oft eine harte Zeit bevorstand rund um das Diktiergerät (damals vermutlich: Minidisk-Recorder). Insider-Gags, Verweigerungsästhetik, Gaga und Ballaballa statt nutzbarer Antworten.

Das Trio hielt nur für drei Alben und spätestens beim letzten war streng genommen schon die Luft raus.

Erobique und seine größten Erfolge (möglicherweise)

Erobique machte das nicht viel aus, er war gedanklich sicher schon wieder ein paar Projekte weiter. Alles, was er umsetzte, gestaltete er immer angemessen spleenig – aber genauso auch eingängig und immer wieder besonders. Es gibt übertrieben viele Songs, an denen er mitgewirkt hat – als hochmusikalischer Organist mit Stilwillen und Humor stellt er quasi für jeden Act einen Gewinn dar. Aber auch die Stücke, bei denen er – mit anderen oder allein – musikverantwortlich ist, sind wirklich zahlreich.

Doch nicht mal die streberhaften Aufschreiberplattformen Wikipedia und Discogs haben alles gelistet, was Erobique rausgehauen hat in den vergangenen beiden Jahrhunderten. Tex & Erobique mit ihrer Platte WHAT ARE YOU DO? und Songs wie „Billig Jeans“ kann man beispielsweise nicht mal auf YouTube finden.

Eine Handvoll besonders zentraler Stücke möchte ich an dieser Stelle des Textes daher mal parken. Für spätere Generationen, für die diese Kolumne sicherlich irgendwann Schullektüre darstellen wird, #kultusministererlass.

Songs For Joy feat. Jacques Palminger, YVON, Erobique – „Wann strahlst Du“

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Fraktus – „All die armen Menschen“ (Erobique als „Music Consultant“)

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Hamburg Spinners – „Palmaillerennen“ (seine aktuelle Beatband, ein ganz fantastisches Stück hier auch, wer’s noch gar nicht kennt)

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Babyman – „Sexy Maserati“ (eines der vielen Erobique-Alter-Egos)

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Erobique – „Urlaub in Italien“ (eine kleine Idee kurz vor seinem Live-Set beim Immergut Festival wurde zu Erobiques größten Solo-Erfolg)

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Erobique und die besonderen Fähigkeiten

Nicht mal seinen ganzen Bandprojekten kann der Text hier also gerecht werden – und außerdem ist bis jetzt auch kein Wort gefallen über Erobique als den Filmmusiker. Wenigstens das muss doch noch rein. Denn beispielsweise „Der Tatortreiniger“ lebt neben dem sympathischen Genius seines Hauptdarstellers Bjarne Mädel sicherlich auch von einer kongenialen musikalischen Ummantelung. Und auch für die trägt Erobique Sorge. Doch ich will eigentlich auf etwas anderes heraus: Allroundtalent Carsten Fucking Meyer ist nämlich auch der heimliche Star in „Stromberg – der Film“. Dort spielt er den Alleinunterhalter Günni, einen tiefsinnigen Kettenraucher, der schon alles – vor allem aber bessere Zeiten – gesehen hat. Erobique überall. Fast schon ein bisschen unheimlich? Nee, eigentlich nicht. Eigentlich richtig schön.

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Erobique und die neue Platte

Wer hier im Text fleißig mitgerechnet hat, weiß also, dass Erobique mindestens seit 25 Jahren im Musikbetrieb tätig ist, da erschien ja auch sein Debüt-Album. Und wenn man nun erfahren hat, wie viel Stücke der Orgel-Ultra für und mit anderen gemacht hat, dann muss die Anzahl seiner eigenen Veröffentlichungen doch jetzt ganz schön reinkrachen in diesen Textblock. Mindestens zweistellig! Also los, die wievielte Erobique-Platte ist denn nun diesen Juni 2023 erschienen?

Ihr wisst es vermutlich selbst: Es ist erst die zweite! Erobique bringt NO.2 ganz programmatisch heraus – nämlich als jubilarische Bezugnahme auf den Fakt, dass sein Debüt nun ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Das ist insofern ziemlich faszinierend, da das aufzeigt, wie eine der nachhaltigsten und inspiriertesten Musikerkarrieren dieses Landes ganz offensichtlich auf allem möglichen fußt, aber nicht auf eigenen Alben. Nein, auf Charts müsse er „nun wirklich nicht schauen und hinarbeiten“, erzählt Erobique im Gespräch.

Kleine Fußnote dieser Geschichte, als NO.2 eine Woche später erscheint, steigt sie – auch ohne den von größeren Companys betriebenen Marketing-Aufwand – trotzdem in die Charts ein. Kleiner „Unfall“ am Rande, typisch Erobique. Hitparadenplatz #16 auch noch mal mitgenommen.

NO.2 ist dabei ein sehr vielschichtiges Album geworden. Von dem Heimorgel-Irren, als der er einst EROSOUND! einspielte, sind zwar immer noch der unverkennbare Sound und diese beiläufige Ohrwurmhaftigkeit verblieben – aber man merkt dem neuen Album an, dass es nicht von ungefähr kommt, dass Erobique in all den Jahren immer die Gesellschaft anderer Musiker:innen gesucht hat. So hat er sich Gäst:innen geladen, reagiert auf sie oder lässt sie auf sein Spiel reagieren. Immer kommt was anderes raus, aber immer ist auch das Bett eindeutig Carsten Meyer, auf dem man es sich gemütlich machen darf.

Sophia Kennedy, Nicola Rost sind dabei, genauso wie Luis Baltes und so weiter. Doch bei all dem Happening-Charakter der Platte merkt man schnell, die Featuring-Gästeliste ist kein Promo-Selbstzweck wie zuletzt bei dem misslungenen Album von Trettmann. Hier geht es viel mehr darum, ohne Big Names einfach den Songs zu dienen. Zu nennen ist dabei auf jeden Fall noch Lucas Kochbeck, der die Drums übernimmt, was er auch zuletzt immer wieder bei den Live-Auftritten von Erobique tat.

Überhaupt live, das wäre eigentlich auch noch ein Kästchen hier wert: Lucas und Carsten in roten wie grünen Mario’n‘Luigi-Latzhosen, wie sie im lustigen Wahn improvisierend aus einem schnöden Konzert eine freudige Tanzveranstaltung machen. Ironisch, aber nie zu ironisch, einladend aber nie doof. Eine ziemliche Gratwanderung eigentlich, die aber bei Erobique lässig wirkt. Was vermutlich bereits einen großen Teil des Geheimnis‘ darstellen dürfte.

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Aber nun endlich ein paar Worte vom Betroffenen selbst …

CARSTEN MEYER: Ich habe hier im Erdgeschoss jetzt auch mein eigenes Studio, kann dich ja mal ein bisschen rumführen … Da wir ein Interview aufnehmen, sind die Türen zu – normalerweise sind sie das allerdings nicht. Ich betreibe das alles sehr offen mittlerweile. Manchmal kommen Leute aus der Nachbarschaft rein, langsam kennt man mich, bin auch schon paar Jahre hier. Unter mir sind Sophia Kennedy, Mense Reents und die Goldenen Zitronen mit ihren Räumen, ist einfach ein nettes Haus.

Du kannst da quasi deine eigenen Schaufensterkonzerte machen.

CARSTEN: Bisschen ist das so. Mitunter bleiben Leute stehen und tanzen, find‘ ich ganz gut! Denn in Hamburg ist es sonst eher üblich, in so einem Bunker zu sitzen und die eigene Musik hinter meterdicken Wänden zu machen. Das würde für mich nicht funktionieren, das ist nicht meine Idee.

Klingt super. Aber Erdgeschoss – ich will ja niemanden auf die Idee bringen – muss man denn als Studiobesitzer nicht aufpassen, dass jemand einsteigt und das ganze Equipment rausträgt?

CARSTEN: Hast du natürlich recht. Aber hinsichtlich des Wiederverkaufswerts findet sich hier eigentlich nur alter Schrott, ich geh‘ ja auch so schlecht mit dem Zeug um [lacht]. Ich war nie dieser Equipment-Typ gewesen, der immer wert auf den neuen heißen Scheiß legt. Außerdem denke ich, wenn man sichtbar ist und seine Nachbarn kennt, ist das eher von Vorteil.

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Mir scheint, schon in diesem kleinen Einblick kann man dich und deine Herangehensweise an Musik sehr gut erkennen. Aber sag‘ doch mal, wie war es denn jetzt mit der ominösen zweiten Platte? Hast du dich zum 25-jährigen Jubiläum des Debüts hingesetzt und neue Songs geschrieben?

CARSTEN: Nein, ich bin wirklich keiner, der zuhause sitzt und sich Lieder und Texte ausdenkt – oder auch nur seine Konzerte vorbereitet. Es war viel eher so, dass ich vor diesem Studio nähe des Fernsehturms meinen Raum hatte und da waren viele andere tolle Musiker:innen, viel ist dort im Austausch und im Spiel entstanden. Aus dieser sehr fruchtabren Phase stammen diverse Skizzen und Ideen, das lohnte sich die jetzt noch mal auszuwerten, obwohl „auszuwerten“, nee, das hört sich zu harsch an für das, was ich da gemacht habe …

Wenn da viel Material über die Zeit angefallen ist, heißt das, du bist sehr gut organisiert?

CARSTEN: Schön wär’s! Ich habe von den meisten Sachen die Festplatten nicht gefunden oder sie waren nicht mehr kompatibel. Das war aber auch ganz gut so. Neben den tatsächlich ganz neuen, im Studio entstandenen Stücken wie „Ravedave“ oder „Der Arpeggiator“ hatte ich auf einem Stick eine Sammlung halbfertiger Songs. Die besaßen einen ganz eigenen Charme und verlangten, dass ich sie noch mal aufbaute, was sie dann auch wieder veränderte – und ich habe auch den Input der beteiligten Musiker:innen zugelassen. Im Nachhinein bin ich mit dieser Arbeitsweise sehr zufrieden. Aber die ist natürlich auch einem gewissen Chaos geschuldet.

Das Cover von Erobiques NO.2

Was sich ja durch die allermeisten der Veröffentlichungen von dir zieht, ist das selbstgemalte Artwork. Auch an dieser Stelle wieder. Sieht man da eigentlich eine Taube oder eine Möwe?

CARSTEN: Haha, die weißen Tauben sind Möwen, hat das nicht mal Jacques Palminger gesungen? Das ist jedenfalls eine Möwe, ich bitte dich! Die hat meine Freundin Anne Backhaus fotografiert und ich habe sie für das Cover abgemalt. Illustrationen, das fasziniert mich einfach, manchmal denk ich: Nehme ich da jetzt anderen Leuten den Job weg? Aber das ist eben der sechzehnjährige Carsten Meyer, der immer gern gezeichnet hat. Für mich ist das alles ein Kindheitstraum, man macht Musik, bringt die selbst heraus – und macht natürlich dann auch das Cover selbst! Letzteres ist ein großes Highlight in dem Prozess.

Beides verschränkt sich auch ineinander, deine Musik besitzt so etwas Warmes, Freundliches, Tröstliches – und die Art, wie Du zeichnest, führt das auf einer anderen Ebene emotional weiter.

CARSTEN: Ja, aber demnächst will ich auch mal so iron-maiden-mäßig abgehen. Ich erinnere mich noch, wie wir in der Schulzeit mal die Aufgabe hatten, bringt eure liebsten Plattencover mit in den Kunstunterricht und der Kollege neben mir hatte die ganze Palette von Iron Maiden dabei. Da stand ich mit offenem Mund da. Vielleicht ist das die Idee für die nächste Platte. Gar nicht mal musikalisch, sondern eben Musik, wie ich sie mache, aber eben mit so einer graphischen Verpackung zusammengebracht. Obwohl… ich kann nicht mit meinen Filzstiften ein geiles Zombie-Cover malen und dann ist da Schmuse-Soul drauf. Das müsste dann schon so Metal-Disco sein.

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Könnte funktionieren. Dann müsste man auf deine dritte Platte vielleicht auch nicht wieder 25 Jahre warten. Carsten Meyer macht demnächst eine Erobique-Platte mit Metal-Disco mit Zombie-Cover.

CARSTEN: Ja, erzähl‘ das gern überall rum – und dann gucken wir mal…

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