Interview

Gabriels im Interview: „Die Leute waren wie hypnotisiert“


Ein Gespräch über Trauer und Verlust, Liebe, Hoffnung und dem Wunsch, zueinander zu finden.

Ein charismatischer Sänger, zwei Produzenten – das Trio Gabriels kratzt aus den Traditionen der Black Music goldene Klangschichten frei und verwandelt sie in soundtrackreife Dramen, die Trauer und Hoffnung transzendieren. Mit dem Album ANGELS AND QUEENS feiern Gabriels das Hochamt des Pop in zwei Teilen – und liefern den besten Retro-Soul des Jahres.

Diese Stimme triumphiert selbst in den stillen Momenten. Wenn Jacob Lusk die Töne streichelt, entstehen Klangfolgen von irritierender Schönheit, die Oktaven überspringen können. Manchmal kann der Sänger diese Klänge auch auf Siedetemperaturen bringen, bis sie eine andere Konsistenz annehmen. Der 36-Jährige barmt und fleht und sirrt, wie ein Außerirdischer, der sich gerade der spirituellen Einkehr im Kirchenchor verschrieben hat. Lusk singt von Trauer und Verlust. Von Liebe, Hoffnung und dem Wunsch, zueinander zu finden. Er ist der Botschafter des Gospel, von dem die Welt bis vor Kurzem noch nicht wusste, dass sie ihn gesucht hat. Und das Zentrum des Dreigestirns Gabriels, dessen Flügel der aus dem Norden Englands stammende Musikvideo-Regisseur und Keyboarder Ryan Hope und der kalifornische Filmmusik-Komponist und Violinist Ari Balouzian bilden.

Eine quecksilbrige Verbindung

Der Interviewtag wird aus einem Büroraum in London auf den Rest-Planeten hinausgezoomt. Die drei Musiker haben für die Sprechstunden mit der Presse die Positionen getauscht: Der Barockmann Lusk (blütenweißes Hemd, „Gabriels“-Goldkette um den Hals) markiert aus Sicht des Betrachters den bisweilen aus dem Bild schwindenden Links-außen ganz vorne, der eher schmächtige Ari Balouzian (Feierabendhoodie, Konsensbart) sitzt in der Mitte im Hintergrund und Ryan Hope, der satt tätowierte Typ im schwarzen T-Shirt, übernimmt von rechts immer wieder die Gesprächsführung. Drei Musiker, die aus drei Universen zu stammen scheinen – in ein- und derselben Band kann man sie sich schwerlich vorstellen. Was sie zusammengebracht hat und für eine quecksilbrige Verbindung im Trio sorgt, hat mit der Magie zu tun, die der Geburt von Musik innewohnen kann. Eigentlich ist alles aber auch ganz einfach: All you need is love. With a little help from fashionable friends.

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Es war eine Casting-Situation in der Hope, Balouzian und Lusk im Jahr 2018 erstmals aufeinandertrafen. Die beiden Produzenten suchten einen Chor für ein Video des Mailänder Modehauses Prada, Lusk und Sänger:innen schlugen zur Probe in L.A. auf. Es muss einige Überzeugungsarbeit gekostet haben, den Sänger für das Projekt zu gewinnen. „Jacob war schon sehr speziell, etwas ausweichend, wenn es um eine Zusammenarbeit ging, das hatte wohl mit seinen Erfahrungen bei ‚American Idol‘ zu tun“, erzählt Ryan Hope, der mit Videos für George Michael, die Kooks und Sam Smith Abdrücke im Pop-Betrieb hinterlassen hat. „Wir mussten erst lernen, was für ein Mensch Jacob ist, aber seine Stimme hat uns sofort weggeblasen.

Eines Tages saßen Hope und Balouzian dann in der Kirche, in der Lusk und Chor einen Gottesdienst begleiteten. Lusk schien den Besuch von der Bühne aus komplett zu ignorieren, „dann begann er rückwärts zu gehen wie Michael Jackson und drückte mir ein Bonbon in die Hand und grinste uns an“, erzählt Hope. „Er hatte sich einen Spaß erlaubt. Wir waren willkommen geheißen.“ In diesen Tagen entstand die Idee, gemeinsam Musik zu machen, eine Richtung hatte ihre erste Verabredung noch überhaupt nicht. „Wir trafen uns in meinem Studio in Palm Desert“, erzählt Ryan Hope. „Und als wir am nächsten Morgen aufwachten, war Jacob schon shoppen, wir lernten schnell, dass er eine Vorliebe für Klamotten hatte.“ Die Musik und die „Delivery Man“-Videos für Prada waren derweil schon im Kasten; zu den Aufnahmen der drei Musiker teilte der Oscar-prämierte Schauspieler J.K. Simmons Cahier-Handtaschen des Modelabels aus.

Larger-than-life-Stimme

Der erste Song, den Gabriels erarbeiteten, schrieb sich sozusagen aus der Prada-Werbung raus, „aus den 60 Sekunden entwickelte sich ein komplettes Stück“, sagt Ari Balouzian. „Loyalty“, so der Name des Tracks, erzielte sofort die Aufmerksamkeit einiger Labels, „die sich erkundigten, ob wir mehr Musik auf der Schippe hätten. Aber in diesem Moment konnten wir einfach nicht mehr bieten.“ „Loyalty“ wurde der Eröffnungstrack der 2020 erschienenen bahnbrechenden Debüt-EP des Trios, er bildete im Verein mit dem rot glühenden Doowop- und Soulkammerpop von „In Loving Memory“ und der aufrüttelnden Dancefloor-Soul-Hymne „Love And Hate In A Different Time“ das Kraftzentrum dieser Songsammlung. Die cinematisch angelegten Instrumentals, an denen Hope und Balouzian schon vor den Tagen von Gabriels werkelten, verlassen hier das Labor, mit Lusks Larger-than-life-Stimme beginnen sie zu fliegen, aber immer noch in Reichweite der großen Soul- und Gospel-Traditionen, die er als Backgroundsänger gepflegt hatte – unter anderem auf Aufnahmen von Diana Ross und Gladys Knight.

„Musik ist eine Art Therapie für uns, wenn wir uns durch unsere Familiengeschichten arbeiten, die Traumata der Vergangenheit, unsere verflossenen Lieben.“

Das, was dann folgte und was die Musiker in allen Interviews erzählen, war ein langsamer und sich stetig intensivierender Prozess des Freundewerdens. Gabriels wären ein Beispiel dafür, wie die Welt sein könnte, wenn wir einander wirklich lieben würden, ehrlich und voller Vertrauen zueinander seien, sagte Lusk einmal in einem TV-Interview. Kommen wir damit dem Kern der Gemeinschaft Gabriels nahe? Was ist die Basis eurer Musik? „Das Leben“, antwortet Ryan Hope. „Ja, das Leben“, sagt Lusk. Etwas genauer vielleicht? Hope: „Das wahre Leben.“ Allgemeines Gelächter. „Das wahre Leben. Die Art und Weise, wie wir durchs Leben gehen“, erklärt Ari Balouzian. „Musik ist eine Art Therapie für uns, wenn wir uns durch unsere Familiengeschichten arbeiten, die Traumata der Vergangenheit, unsere verflossenen Lieben. All die Entwicklungen, die uns zu dem gemacht haben, was wir jetzt sind. Und Musik ist ein Weg, daraus zu lernen und zu wachsen und aus diesen Geschichten herauszukommen.“

Wer Jacob Lusk jetzt feierlich über die Bühne schreiten sieht im Smoking oder in seinen oft bodenlangen Brokatroben, on top noch ein Hut, der an eine fliegende Untertasse erinnert, wer dieser Stimme zuhört, wird sich dem Zauber dieser Aufführung gern hingeben wollen. Der charismatische Entertainer des Jahres 2023 ist ein ordentliches Stück weit von dem begabten Jungen entfernt, der zwar so wunderbar hoch und tief singen konnte, aber oft so nervös war, dass ihm die Töne aus der Bahn schossen.

Er wächst in Compton, jenem Vorort von L.A. auf, der mit Gangsta-Rap und NWA einen großen roten Punkt auf der Landkarte des HipHop erhielt, verbunden mit Narrativen von Gewalt und Bandenkriegen. Lusk erzählt, dass seine Kindheit und Jugend aber gut behütet gewesen seien, in einer streng religiösen Mittelschicht-Familie. Insbesondere: in der Kirche, die er viele Stunden an mehreren Tagen in der Woche aufsuchte. Es dauert bis zur High-School-Zeit, dass Lusk sein Talent und seine Lust am Singen auch umsetzten durfte. Die HipHop-Stars der anderen hat er nicht auf dem Schirm, Jacob fühlt sich dem Jazz verbunden, er schwört auf Nat King Cole und Ella Fitzgerald. Zu Hause ist es nicht erlaubt, Radio zu hören. Der Vater stirbt, als er zwölf ist, nachher wird Lusk erzählen, dass das einen Lernprozess in Gang brachte, der Tod sei Teil unseres Lebens, das sollten wir verstehen. „Aber du willst nicht, dass andere Leute das alles auch durchmachen müssen – einen geliebten Menschen zu verlieren, das ist hard shit“, sagt er jetzt im Interview. „Wenn du die Tina-Turner-Dokumentation gesehen hast, kennst du vielleicht die Stelle, an der sie sagt, die guten Tage in ihrem Leben hätten nie die schlechten überwogen.“

Leid in Hoffnung verwandeln

Jacob Lusk erzählt das mit reichlich Emotion in der Stimme, als würde er gleich einen Song über Tina Turner anstimmen wollen. Es gibt nicht wenige, die dem Sänger in diesen Tagen eine große Karriere prophezeien. Einer, dessen religiös untermauerte Geschichte für späteren säkularen Ruhm geschrieben worden sei, einer, der die Kraft des Gesangs universellen Botschaften schenkt, die so oft mit seinen persönlichen Erfahrungen verbandelt sind. Wenn es da draußen donnere, dann wäre der Chor bei ihm; „und du bist auch nicht alleine, weil ich an deiner Seite bin“, singt Lusk im Song „If You Only Knew“ vom jetzt erschienenen zweiten Teil des Albums ANGELS & QUEENS.

Es ist der Sound der Transformation, der Künstler vermag das Leid in Hoffnung zu verwandeln – wie er das aus den Gospelgottesdiensten seiner Jugend kennt. Wie er das aus dem Geschichtsbuch gelernt hat: Gospelmusik beruft sich auf den Gesang der Sklaven, auf die religiösen Zusammenkünfte, die sie an ihren Rückzugsorten fern der weißen Herren probten. Im gemeinschaftlichen Singen kann Musik den Schmerz teilen. Die Band Gabriels trägt diese Urszene afroamerikanischer Musik in die Zerreißproben der Gegenwart. Die Geschichten der drei Musiker standen gewissermaßen Pate für die Aufnahmen zum ersten Teil des Albums ANGELS & QUEENS, das im Spätsommer 2022 veröffentlicht wurde. In den Monaten davor starben Ryans Mutter und Aris Großmutter, Jacob verlor einige gute Freunde in der Pandemie, sein Onkel beging Selbstmord, mit den Songs zollen Gabriels den Toten Tribut. Aber auch all den anderen, die Licht im Tunnel suchen: „Macht weiter, bleib dran.“

Das Fortsetzungsalbum ANGELS & QUEENS PART II spielt jetzt noch deutlicher mit den Texturen und Klangfarben, die zu den Großtaten von Soul, R’n’B, Gospel und Jazz gehören, setzt sie in Bezug zu den Produktionsformen der aktuellen Popmusik. So entstehen postmoderne Collagen, die alle unsere Dramen in glutrote, Spannung weckende Filmmusiken tauchen, mit Liebe zum Detail arrangiert. „Es geht immer darum, was in dieser Zeit mit uns passiert“, sagt Lusk. „Als wir ‚The Offering‘ schrieben, befand ich mich in einer Dating-Phase, die Person ging mir auf die Nerven, sie wollte die ganze verdammte Zeit immer nur kämpfen. Und ich hoffe, dass solche Geschichten bei den Leuten eine Resonanz finden.“

„Strange Fruit“

Wenn es den einen Moment geben sollte, der den Erfolg von Gabriels erklären kann, dann findet man diesen im Video zu „Love And Hate In A Different Time“, das perfekte Verbindungsstück zwischen Glamour und Gospel. Ein eindrucksvoll kuratierter Tanz-Film mit historischen Bildern, der plötzlich in eine Live-Doku von einer „Black Lives Matter“-Demo kippt, mit Aufnahmen von Lusk, der inmitten einer Menge mit dem Megaphon in der Hand den Song singt, den Billie Holiday berühmt gemacht hat: „Strange Fruit“, das Schmerzenslied der Afroamerikaner, das ein Dreivierteljahrhundert nach Abschaffung der Sklaverei die Bilder der Barbarei so intensiv beschwor. Am Tag der Videoaufnahmen gedachten die Demonstranten der in ihrer Wohnung erschossenen Breonna Taylor, die 2020 nur wenige Wochen vor George Floyd Opfer der Polizeigewalt geworden war. „Es ist schrecklich, dass ein Song wie ‚Strange Fruit‘ aktuell immer noch Bedeutung hat, und nicht nur für Afroamerikaner“, sagt Lusk. „Er beschreibt die Situation von Menschen auf der ganzen Welt, die Opfer eines Genozids geworden sind und unter Kriegsgräueltaten zu leiden haben.“ „Love And Hate In A Different Time“ öffnet Tore für die Band, Elton John bejubelt den Track als „eine der wegweisenden Aufnahmen der letzten zehn Jahre“, Gabriels treten bei Jimmy Kimmel und Jools Holland auf, Harry Styles bucht die Band als Support für seine US-Tour 2022.

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Der afroamerikanische Plot und das Stimmwunder Lusk tragen die Obertöne in die Musik von Gabriels, die Produzenten Hope und Balouzian geben den Klangräumen Tiefe, sie lassen das Instrumentarium erklingen, in dem sich Lusks Stimme erst wiegen kann. Und sie produzieren, unterstützt von Sängerinnen und einem Drummer, einen feierlichen Live-Sound, der die Park-Arena von Glastonbury im letzten Jahr in so etwas wie einen Ballsaal verwandelte. „Ich bin schon vorher auf einigen größeren Bühnen aufgetreten“, erzählt Lusk. „Aber es ist schon eine andere Sache, wenn es sich wie hier um deine eigene Musik handelt. Es ist kein Traum mehr. Bevor wir in Glastonbury spielten, befürchteten wir, dass keiner sich Gabriels würde angucken wollen. Was dann passierte, war für mich wie die Geschichte von ‚The Little Engine That Could‘“. (US-Kinderbuch aus den 1930ern, zu deutsch: ‚Die kleine blaue Lokomotive‘, eine Urmutter der ‚Ich schaffe es, wenn ich nur dran glaube‘—Anm.)

Ryan Hope berichtet von einem Auftritt im französischen Dijon: „Ich habe mir die Gesichter der Leute angeschaut, als Jacob gesungen hat. Sie waren wie hypnotisiert. Und ich weiß wirklich nicht, wie viele Leute da waren, 1.000 vielleicht, es war total verrückt am Ende der Show. Jacob sprang von der Bühne und zertrennte dabei das Stromkabel.“ Jetzt lacht Jacob los. „Ich war einfach so glücklich, dass ich das System zum Erliegen gebracht habe.“

ANGELS & QUEENS im Stream:

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