Immer ist irgendwas nicht geheuer


Im Interview zum Abschluss seiner "Herr Lehmann"-Trilogie erzählt Sven Regener vom Berlin der frühen 80er, der allgegenwärtigen Mauer, Paranoia und Prekariat, und davon, wie schnell einen diese Stadt aufsaugte: "Das ist toll!"

In „Der kleine Bruder“ schließt sich der Kreis der Trilogie. „Herr Lehmann“, der erste Roman des Element-Of-Crime-Sängers Sven Regener von 2001, erzählte den letzten Teil, „Neue Vahr Süd“ (2004) den ersten. „Der kleine Bruder“ schildert nun das fehlende Mittelstück, wie Frank Lehmann gegen Anfang der Achtzigerjahre in die große Stadt kommt…

Das ist ja komplizierter als bei „Star Wars ! Der dritte Roman beginnt mit der Ankunft in Berlin …

Das Problem war: Im Osten durfte man nur 100 km/h fahren, deshalb hat man die Avus in Westberlin extra ohne Tempobegrenzung gehalten. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Die Avus eine extrem hektische Autobahn. Sie war für das Tempo nicht geeignet, plötzlich kamen die Ausfahrten und dann – zack! – dieses Dreieck Funkturm. Diesem Wahnsinn konnte sich kaum jemand entziehen.

Was hat die Geschwindigkeit mit dem Roman, der Geschichte zu tun?

Naja, zum Beispiel hat Rot-Grün schon allein deshalb die Wahl verloren. Als die ’89 an die Macht kamen, haben sie Tempo 100 auf der Avus eingeführt. Das war der Untergang des Abendlandes, aber komplett. Das war ja eine wichtige Inszenierung, noch schlimmer als die Wurstbuden auf dem Ku’damm. Westberlin hatte so etwas Hysterisches, Paranoides, was völlig verständlich ist.

Kreisen Sie deshalb als Schriftsteller immer wieder um diese Stadt?

Ja, das war eine ganz furchtbare, total perverse Situation, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Und gleichzeitig, was auch bewundernswert ist, versuchten die Berliner, damit ganz gewöhnlich umzugehen, so etwas wie Normalität zu behaupten. Das heißt natürlich, dass ganz viele Dinge verdrängt wurden. Deshalb diese Paranoia.

Paranoia herrscht auch in „Der kleine Bruder“ von Anfang an…

Genau, alle schieben ständig ihre Paranoia, immer ist ihnen irgendwas nicht ganz geheuer. Es ist, als könnte jederzeit etwas Entsetzliches passieren. Das gehörte aber zu Berlin: Es konnte wirklich jederzeit etwas ganz Ungeheuerliches passieren.

Thema ist die Suche von Frank Lehmann nach seinem großen Bruder…

Er denkt ständig, wenn er seinen Bruder gefunden hat, geht es los. Lehmann ist ein bisschen in der Rolle eines Privatdetektivs, der sich auf die Suche macht – und nicht merkt, dass es mit der Suche ja schon losgegangen ist, das Leben.

Die geteilte Stadt hat immer schon Aussteiger und damit auch Künstler fasziniert. Warum?

Die Mauer! Sie ist das konstituierende Element. Westberlin war in einer privilegierten Lage, weil man auf der richtigen Seite der Mauer eingesperrt war, aber trotzdem auf der falschen, weil man auch im „freien“ Berlin eingesperrt war.

Das ist Ihr Tableau.

Ja, dem nachzuspüren, wie das war. Du musstest ja in dieser Situation auch ein normales Leben führen, zur Arbeit gehen und Kinder großziehen, solche Sachen. Wie geht das? Dieses Leben beobachte ich also an Frank Lehmann, der… nicht als Tourist, aber als Neuankömmling nach Berlin kommt, der nicht die Absicht hat, wieder zu gehen. Wie das gleich ansteckend ist, diese Gefühlslagen von sozialen Gruppen, wie eine Grippe. Er kommt in diese komische Künstlerszene hinein, und eine ganze Menge Dinge übertragen sich sofort.

Welche Dinge?

Der Größenwahn, der Rechtfertigungsdrang… alles, was man an diesen Leuten beobachten konnte, die sich nun bei ihm widerspiegeln. Eben auch dieser Verfolgungswahn, von dem wir gesprochen haben. Wobei diese Leute, die Helden, nie auf die Idee gekommen wären, dass das alles an der Mauer liegt.

In Ihrem Buch ist es die ganze Zeit dunkel…

Tja, es ist November, es dämmert ständig, und wenn er aufwacht, der Frank Lehmann, wird es meistens eh schon wieder dunkel. Was also auch mit diesem Lebensabschnitt zusammenhängt. Es gab einfach so viele Parallelwelten in Berlin, die’s ja auch heute noch gibt. Und wenn man also jung ist, viel Party macht und in so einer Bohemeszene lebt, dann gibt’s im Winter kein Tageslicht. Muss ja auch nicht. Ist ja hässlich. Berlin gibt ja nix her.

Worum dann immer wieder diese Stadt, dieses nostalgische Beschwören eines Mythos?

Es ist eigentlich eine sehr moderne Welt, die schon sehr weit ins Heute hineinzeigt. Das gilt auch für den Lebensstil der Leute, und das war auch immer meine Meinung über Frank Lehmann: Das ist kein Taugenichts, sondern ein schwer arbeitender Mann. Die meisten von uns würden Blut kotzen, wenn sie so hart arbeiten müssten, auch von den Arbeitszeiten her. Der ist sehr frei, aber auch sehr unsicher, eine Existenz, die keinerlei Sicherheit bietet, auch was Dinge wie die Altersvorsorge betrifft – und damit ist er seiner Zeit eigentlich schon weit voraus. Gerade in den sozialen Randgebieten einer so seltsamen Stadt wie Berlin, der Gastronomie.

Bierdosen verkaufen. Warum tut er sich das an ?

Weil er es mag. Wo andere sofort Streit anfangen würden, sagt er: „Och, das mache ich aber gern.“ Das macht ihn mir so sympathisch, das gibt ihm sowas Yogihaftes. Auch, dass er sich ja eigentlich über jeden Scheiß aufregen kann …

Ist das nicht spießig?

Nein! Weil, wenn’s um das Leben der anderen geht, egal was die machen, das empfindet er nicht als Bedrohung für sein eigenes Leben. Und deshalb ist er für mich auch kein Spießer. Er kennt keinen Neid und kein Überlegenheitsgefühl. Er ist ohne Arg. Im Buch kommt der Moment, da Frank … … erwachsen wird, genau. Das ist der Moment, wo er merkt: Was andere Leute so treiben, das geht ihn eigentlich gar nichts an. Und er frisst auch von denen keine Scheiße, was das eigene Leben angeht. Und deswegen glaube ich, dass man dieses Buch dort auch enden lassen kann, weil man merkt: Hier hat er sich, in nicht einmal 48 Stunden, eine neue Existenz aufgebaut. Er kommt aus Bremen, hat dort alles zurückgelassen, keine Freunde mehr, und dann baut er es sich in Berlin neu auf, komplett mit sozialer Bezugsgruppe, Job, dem ganzen Kram, in nur zwei Tagen – und das ist schon ziemlich Berlin-mäßig. Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist, und deshalb kann ich den Roman auch nur in der damaligen Zeit spielen lassen, weil ich damals selbst jung war und das alles erlebt habe. Darauf ist das Buch schon eine Hommage, weil: Das ist toll.

Es gibt in „Der kleine Bruder“ eine Band mit dem schönen Namen Dr. Votz, wobei nie so recht klar wird, welche Musik die machen und ob sie’s ernst meinen. Ist es Punk? Ist es simulierter Punk?

Haha, Dr. Votz! Ja, das war damals wie in einem Spiegelkabinett, wo man nie weiß: Bin ich das in dem Spiegel, spiegelt der Spiegel andere Spiegel, steht hinter dem Spiegel jemand? Oder doch hinter mir und spiegelt sich im Spiegel? So war das in der Kunstszene damals, alles geht drunter und drüber. Es war alles sehr aufregend und unglaublich scheißegal, was man machte.

Warum?

Ach, jeder machte irgendwie Kunst. So wie im Knast Tüten geklebt werden, was ja auch keinen sozialen Sinn ergibt. Einfach nur, um nicht durchzudrehen. Ich meine das überhaupt nicht abwertend, das war schon genuin Kunst. Martin Kippenberger (früh verstorbener Maler, Bildhauer, Fotograf etc. -Anm. d. Red.) hat das SO36 geleitet! Es war die Zeit der Genialen Dilettanten, es gab die Tödliche Doris, die Einstürzenden Neubauten… Ich bin angerufen worden:

„Du, in zwei Stunden spielen wir, m einer Stunde proben wir, wir haben drei Songs, den Rest machen wir irgendwie so“ das waren die Toten Piloten, und Dr. Motte war Sänger. Ich hatte aber keine Lust, in meinem Buch das ganze Panorama zu entwerfen. Das wäre wie ein volles Freibad filmen zu wollen. In diesem Fall wäre das Ganze das Unwahre. Deshalb habe ich mich auf einen Ausschnitt beschränkt.

Wie gehts weiter?

Erstmal habe ich im November eine Lese-Tournee. Vorher die Buchmesse und all das. Danach natürlich mit Element Of Crime. Da sollte es im nächsten Jahr möglichst ein neues Album geben. Gerade eben haben wir schon einmal ein paar Songs für den Soundtrack zum neuen Film von Leander Haußmann komponiert: „Robert Zimmermann wundert sich über die Liebe“. Das hat mal wieder Spaß gemacht, im Studio. Mit dem Schreiben von Frank-Lehmann-Büchern bin ich erstmal durch. »>

www.svenregener.de >» BUCHKRITIK S. 201, CD-KRITIK S. 93 — INTERVIEW