Michael Jackson: Michael Jackson


Die Nachricht erreicht unsere muntere Ausgeh-Truppe knapp zwei Stunden nach Ende des Kings-Of-Leon-Konzerts in der riesigen Lanxess-Arena in Köln. Wir stehen gerade beim Nachbesprechungsbier in unserem liebsten Trinkschuppen, dem „King Georg“, es läuft irgendeine kantige Elektromusik, als uns die Kunde von Michael Jacksons Tod in den Abend twittert. Verwirrung und Verstörung. Zuerst klingt es einfach nur wie eine weitere Nummer aus der medial befeuerten Irrsinnsrevue, die Jackson in den letzten Jahren abgezogen hat. Wir denken an Hautbleichungsgerüchte, OPs und Mundschutze, an die Neverland-Ranch, die Vorwürfe des Kindesmissbrauchs, an den von Jackson adoptierten Schimpansen Bubbles – und daran, wie er 2002 in Berlin sein drittes Kind, Prince Michael II., zur Begeisterung seiner kreischenden Fans mit einem Tuch über dem Kopf über den Hotelbalkon hielt. Dann denken wir an den Moonwalk und an THRILLER und OFF THE WALL, diese göttlichen, funkensprühenden Pop-Alben. Uns kommt aber auch der Zeitungsverkäufer in den Sinn, der allabendlich mit druckfrischer Ware durch unsere Stadt streift und seine Verkäufe stets mit dem lauten Ausruf „Bruce Willis gestorben!“ ankurbelt. Jackson – tot? Es kann nur eine Finte sein. Sofort werden hektisch alle verfügbaren iPhones gezückt. Nur wenige Minuten später ist es Gewissheit: Die Los Angeles Times meldet auf ihrer Homepage den Tod von Michael Jackson. Der findige DJ schmeißt „Billie Jean“ auf den Plattenteller. Das „King Georg“ ist im Ausnahmezustand. Wie kann das sein, dass er ausgerechnet diese Platte heute Abend dabei hat? Dumme Frage: Weil man einfach immer eine Michael-Jackson-Platte dabeihaben sollte, wenn man irgendwo auflegt. Michael Jackson, der King George des Pop, ist tot? Es fühlt sich komisch an. Fast so, als wäre gleichzeitig die eigene Oma, der hassgeliebte Klassenkasper, der kauzige Dorfpfarrer und der Bundespräsident gestorben: Michael Jackson war schließlich immer da, im Guten wie im Schlechten.

„Der war doch eh schon längst tot“, sagt einer aus unserer Runde. Ein anderer guckt mehr als bedröppelt und flüstert, er habe jetzt wohl seinen ganz persönlichen Kurt-Cobain-Moment, ein Dritter bemerkt abwesend, er sei immer davon ausgegangen, vor Michael Jackson zu sterben. Noch ein anderer zählt laut nach, in wie vielen Tagen die erste von Jacksons gespannt erwarteten 50 Comeback-Shows stattgefunden hätte.

Im Käfig des Showgeschäfts

Ich war früher nie sein größter Fan. Wann immer Anfang der Achtziger irgendwo „Beat It“ oder „Billie Jean“ lief, hätte ich lieber irgendetwas anderes gehört. Erst später habe ich den Musiker Michael Jackson schätzen gelernt – als er längst eine monströse Fratze geworden war. Ich muss an das Mädchen aus meiner Schulklasse denken, dessen Zuneigung ich ablehnen musste, weil es sich in Kleidungsbelangen zu sehr an Michael Jackson orientierte. Womöglich orientierte sie sich auch an Boy George, das war damals, in den frühen bis mittleren Achtzigern, oft schwer zu sagen. Und trotzdem: Mir ist mulmig. Es fühlt sich auch deshalb seltsam an, weil Jackson, egal wie man zu ihm stand, einfach der erfolgreichste und berühmteste Vertreter einer Kunstform war, die uns so viel bedeutet: Popmusik. Es scheint fast konsequent, dass zum Zeitpunkt des industriellen Niedergangs nun der Mann abtritt, der mit 750 Millionen verkauften Tonträgern fast wie ein Leistungssportler einer aussterbenden Sportart wirkt. Und dennoch ist dies ein nachträglicher Tod, denn künstlerisch war das visionäre, aber hyperlabile Genie Jackson natürlich schon lange nicht mehr reanimierbar. Ein paar Tage später – Jacksons Tod war inzwischen Aufmacher der Tagesschau, Titelgeschichte in allen Tageszeitungen, Gegenstand unzähliger Analysen, Live-Schalten, Studiogespräche, Sondersendungen und Faseleien – schälen sich langsam die zentralen Fragen heraus: Was bleibt tatsächlich von dem Mann, der den Pop-Kahn so weit aufs Meer schob wie kein Zweiter – und der doch seit über zehn Jahren nur noch ein popkulturell bedeutungsloser Konsensclown und Spott-August zu sein schien? Und: Wann genau fing alles an, so grauenhaft schiefzulaufen? Vermutlich schon ganz am Anfang…

Natürlich führt die Spur – wie bei fast allen schwer beschädigten Seelen – zurück ins Elternhaus, in diesem Fall zu Joseph Jackson, der aus seinen Söhnen 1965 die Jackson Five formierte, deren Leadsänger Michael war. In den Neunzigern häuften sich Medienberichte, denen zufolge der Senior seine Kinder in der Frühphase der Jackson Five missbraucht haben soll. Von Prügel war die Rede, von Terror und psychologischer Druckausübung und von schweren Demütigungen. In einem Interview aus dem Jahr 2003 berichtete ein weinender Michael Jackson von Schlägen mit einem Gürtel. Schon 1993 gestand er im Gespräch mit Oprah Winfrey, er habe sich früher übergeben müssen, wenn er vor den Vater trat. Bruder Marion wiederum erinnerte sich in einem Interview daran, wie Vater Jackson den kleinen Michael verkehrt herum an einem Bein festhielt, in der Luft baumeln ließ und ihm Schläge verpasste. Natürlich begibt man sich hier auf das dünne Eis der Hobbypsychologie, doch wer solche Erfahrungen macht, muss verständlicherweise einen schweren Schaden erleiden. Und er wird versuchen, sich das, was ihm genommen wurde – seine Kindheit -, zurückzuholen. Fatalerweise versuchte sich Michael Jackson natürlich genau in der Kunstwelt zu befreien, in die er so früh hineingeschubst wurde: Ausgerechnet im Käfig des Showgeschäfts sollte die Befreiung gelingen; Selbstfindung und Unschuldszurückeroberung als kindliche Kunstfigur unter dem medialen Brennglas – ein Ding der Unmöglichkeit. Die unmögliche Emanzipation begann 1976, nach zahlreichen Platten mit den Jackson Five und einigen Solo-Alben, mit der Trennung Motown Records – das Label wollte den Jacksons nicht gestatten, eigenes Material zu komponieren. Auf OFF THE WALL – Jacksons erster Zusammenarbeit mit Produzent Quincy Jones – öffnete sich der Sänger 1979 Disco und Pop. Mehr noch: Gestützt von einer brillanten Produktion, spitzte Jackson beide Spielarten zu und verwob sie miteinander. Bis heute kann dieses Album im Alleingang jede auf Grundeis gelaufene Party retten. Doch erst THRILLER von 1982 katapultierte Michael Jackson in bislang nicht gekannte Superstardimensionen: Das meistverkaufte Album der Musikgeschichte ist im besten Sinne die quintessenzielle „Platte für jedermann“: Pop in seiner schönsten Konsequenz. Ein so beseeltes wie charmantes Lehrstück in dreister Cleverness. Jones und Jackson zogen alle Register: Für „Beat It“ verpflichtete man den damals hochgradig angesagten Eddie van Halen, was zum ersten Rock/Black-Music-Crossover der Musikgeschichte führte; Paul McCartney kam für eine herrlich cremige Schmalzballade vorbei, bei „Wanna Be Startin‘ Somethin'“ läuft einfach nur eine rappelige Drumcomputer-Spur durch – und dennoch gehört das Stück zum Lebendigsten, was die Achtziger hervorgebracht haben. Dazu kamen die Videos – eine Kunstform, die der Oberflächenzampano Jackson wie kein Zweiter nutzte: „Billy Jean“, „Beat It“ und „Thriller“ machten Jackson zum ersten schwarzen MTV-Star. Mehr noch: Sie machten MTV erst zu dem kreativen musikindustriellen Tool, an dem wir so lange Freude hatten.

Nur noch Weltrekordler

Es war um diese Zeit, als der in seltenen Interviews geradezu gruselig schüchterne Jackson erstmals Zeichen von fortgeschrittener Exzentrik zeigte: Gerüchte, er schlafe in Sauerstoffzelten, um den Alterungsprozess aufzuhalten, machten die Runde; auch von Hormonpräparaten war die Rede. Sicher ist: Jackson erstand eine Ranch in Kalifornien, baute das Gelände zu einem Vergnügungspark um und taufte es „Neverland“, auch Bubbles, der Schimpanse, zog ein. Zu jener Zeit unterzog sich Jackson auch den ersten kosmetischen Operationen. Die Vorwürfe aus der schwarzen Community, er verrate damit seine Herkunft, konterte er Jahre später mit einem Verweis auf die Hautkrankheit Vitiligo, die weiße Flecken hinterlasse und an die er seine übrige Haut anpassen müsse. Ein erster künstlerischer Einschnitt folgte mit dem nächsten Album BAD: Während THRILLER ganz klar die Popmusik revolutionierte und den Ton setzte, war BAD schlicht im Einklang mit seiner Zeit – für einen Visionär wie Jackson fast zu wenig. Dem geradezu grotesken Erfolg tat das natürlich keinen Abbruch: Die „Bad“-Tour sprengte alle Umsatzrekorde; Jackson war nun tatsächlich der erfolgreichste Popstar aller Zeiten.

Bis zur nächsten Platte vergingen wieder vier Jahre. Als Jackson 1991 sein letztes halbwegs relevantes Album DANGEROUS veröffentlichte, nannte ihn die Brit-Presse längst „Wacko Jacko“, er wiederum erklärte sich selbst zum „King of Pop“. Dabei war er nun eigentlich nur noch ein musikalischer Weltrekordler. Die Platte war kommerziell wieder extrem erfolgreich, wurde jedoch in eine denkbar stark veränderte Musiklandschaft hinein veröffentlicht. Es waren symbolträchtigerweise Nirvana, die mit NEVERMIND Jacksons Album von Platz 1 der Billboardcharts schubsten.

Just zu diesem Zeitpunkt geschah etwas, wovon sich Jackson nie wieder erholen sollte: 1993 bezichtigte ihn ein 13-jähriger Junge, der oft zu Gast auf Neverland gewesen war, der sexuellen Belästigung. Darauf hatten die Medien gewartet: Alles schoss sich auf Jackson ein, das Pop-Genie verkam zum tragischen Medien-Kasper, über dessen zunehmend groteskes Äußeres kein billiger

Witz ausgelassen wurde. Sogar ein Durchschnittsrocker wie Marius Müller-Westernhagen durfte ungeschoren „Michael Jackson geht mit kleinen Jungs ins Bett“ singen. Ob er es tatsächlich getan hat, was in diesen Betten wirklich gelaufen ist – man wird es vermutlich nie erfahren.

Von nun an ging es nur noch abwärts: Jackson kaufte sich frei und heiratete überraschend Lisa Marie Presley, von der er sich nach 19 Monaten Ehe jedoch wieder scheiden ließ, um bald darauf die Krankenschwester Debbie Row zu ehelichen. Mit der schwachen Ballade „You Are Not Alone“ gab es 1995 einen letzten weltweiten Riesenhit. Totale Hybris setzte ein: Bei den Brit Awards 1996 gebärdete sich Jackson derart als messianische Lichtgestalt, dass Pulp-Sänger Jarvis Cocker die Bühne enterte und den Auftritt störte. Jackson trat fast nur noch maskiert auf und pervertierte zunehmend seinen ehemaligen Status als Pop-Lichtgestalt: ein weitabgewandter Mann der Massen, ein Spinner als vermeintlicher Klassensprecher einer ganzen Pop-Gesellschaft.

Gedemütigte Kreatur

INVINCIBLE, sein letztes Album, zeigt den ehemaligen Magier auf dem kreativen Tiefpunkt. Jacksons Reaktion: Er lancierte einen Pressekrieg gegen sein Label Sony und bezeichnete dessen Präsidenten Tommy Mottola als „teuflisch“. Als 2003 eine zweite Anschuldigung wegen sexueller Belästigung eines Jungen Jackson in eine öffentliche Gerichtsverhandlung zwang, fiel es schwer, noch irgend etwas anderes in ihm zu sehen als eine gedemütigte Kreatur. So endet das Leben des faszinierendsten PopStars aller Zeiten unerwartet an einem Junimorgen, kurz vor einem sorgenvoll erwarteten Bühnencomeback. Die Parallelen zu Leben und Tod Elvis Presleys, dem anderen genialen traurigen Clown des Showgeschäfts, sind vielfältig, wenngleich bei Elvis die Monstrosität seines Daseins erst posthum von den Medien gemolken und befeuert wurde. Die entscheidende Gemeinsamkeit aber ist, dass erst durch den Tod der beiden popkulturell abgemeldeten Superstars wieder die Musik ins Zentrum rückt: Kurz nachdem Michael Jacksons Tod in der Nacht auf den 26. Juni zur Gewissheit wird, legt der DJ in unserer Stammkneipe „Beat It“ auf. Wir stehen da und sind verzaubert von dieser doch tausendmal gehörten Musik. Befreit von der spöttisch-mitleidigen Perspektive, erkennen wir nun: Dies ist Popmusik, funkelnd und faszinierend wie keine zweite. Popmusik, die alles hat, was wir mehr und mehr vermissen: Geheimnis, Wahnsinn, Genie und Naivität. So wird es nie wieder sein, so groß wird kein Zweiter mehr werden. „Don’t Stop Til You Get Enough“, hat Michael Jackson 1979 gesungen. Vielleicht hatte er ja einfach genug.

www.michaeljackson.com