Mick Jagger


Er kommt ins Zimmer, strahlt eine lässige Präsenz aus — und alle Anwesenden seheinen sich zu ducken. Es ist geradezu beunruhigend, wie „jaggeresk“ er wirkt. Reich und dünn, einen Hauch gepflegter Ungepflegtheit zur Schau tragend, schießen seine Blicke durch die Hotelsuite wie die eines Raubfisches. Seine Augenränder sind leicht gerötet. Er ist erkältet, kam gestern spät zu Bett, sagt er. Aber kein falscher Verdacht: Keine nächtlichen Eskapaden stecken dahinter, davon hält er nicht mehr viel. In Clubs geht er immer noch gerne, zum Tanzen — sozusagen als Übung für die nächste Tour. Eine Mick Jagger-Solo-Tour.

Jetzt sitzt er hier in einem Hotelzimmer mit Blick auf den Hyde Park, sein eigenes Appartement liegt nur eine Ekke weiter —, um über sein zweites Solo-Album Primitive Cool zu sprechen. Die Vorstellung kann beginnen. Eine Stunde lang wird er gelassen, charmant, intelligent, schlagfertig, ungeduldig und lustig sein. Wie ein Herr mittleren Alters wirkt er eigentlich nicht…

ME/Sounds: Hast du die „männlichen Wechseljahre“ inzwischen hinter dir?

JAGGER: (lacht) „Ich fühle mich sehr erwachsen, fühle mich schon lange erwachsen. Man hat gewisse Umstellungsschwierigkeilen, aber ich glaube, das habe ich geschafft.'“

ME/Sounds: Hättest du dir vor 25 Jahren vorgestellt, daß du einmal so sein würdest, wie du heute bist: ein echter englischer, gesundheitsbewußter, drogenfreier Cricketfan?

JAGGER:“.Ich habe alle diese Sachen vor 25 Jahren auch gemacht. Ich war gesundheitsbewußt und ich habe mir Cricketspiele angeschaut. Ich habe sogar Cricket gespielt. Ich habe auch Rugbv gespielt. Richtig mit körperlichem Einsatz!

Also ich weiß nicht, mit 19 stellt man sich doch niemals vor, was 25 Jahre später sein soll. Daran habe ich nie gedacht.“

ME/Sounds: Würdest du heute gerne ein Teenager sein?

JAGGER: (zögernd) „Wurde mir nichts ausmachen. Der einzige Unterschied wäre, daß es heute nicht mehr so leicht ist, einen Job zu bekommen. Und alles, was mit Sex zu tun hat, ist ein bißchen aus der Mode. Aber sonst wär’s kein Problem.“

ME/Sounds: Findest du also nicht, daß die heutige Zeit reichlich konservativ ist, verglichen zu deiner eher „romantischen“ Jugend?

JAGGER: „War die romantisch? Nein, ich glaube sie war eher — nun. es war eine Zeit, in der man in vielen Bereichen bis an die Grenzen ging. Aber gibt es das nicht in jeder Epoche? Man sieht immer noch Leute, die an die Grenzen gehen. Ich glaube tatsächlich, daß es zwischen damals und heute erstaunliche Ähnlichkeiten gibt. Damals wie heute wollten die Leute Geld und Luxus. Es gab eine Zeit, irgendwann in den 7üern, da war das verpönt, aber jetzt dürfen sie wieder. Für Geld darf man heute alles. Eine Band braucht nur einen Hit — und schon macht sie einen Werbespot für Limonade.“

ME/Sounds: Als du jung warst, wirktest du viel zu zornig, um dir die Konsumgüter zu kaufen, die in bunten TV-Werbespots angepriesen wurden. War das nur eine Pose?

JAGGER: „Nein, es war keine Pose. Mit 19 oder so, das ist die Zeit, in der man alles umstürzen will — besser du versuchst es mit 19 als mit 40. Es wirkt lächerlich, wenn 40jährige was umstürzen wollen. Sie sollten diejenigen sein, die aus ihrer Erfahrung gelernt haben. Und die 19jährigen sollten die sein, die nach neuen Erfahrungen suchen.“

ME/Sounds: Deine Töchter sind inzwischen auch Teenager, nicht wahr?

JAGGER: „Yeah. 15 und 16 Jahre alt.“

ME/Sounds: Und die sollen gegen die ^jährigen rebellieren, gegen Leute wie ihren Vater etwa?

JAGGER: „Nun, du mußt schon ein wenig in die „Vaterrolle“ hineinschlüpfen, man darf den Kindern auch nicht alles erlauben. Es ist sehr schwer, Vater zu sein: Man will nicht die Verantwortung und Autorität völlig verlieren, aber andererseits müssen sie lernen, auf ihren eigenen Füßen zu stehen.“

ME/Sounds: Die meisten Eltern können sich besser vor ihren Kindern verstecken als du. Du erscheinst in allen Zeitungen. Du kannst deinen Kindern kaum erzählen, sie sollen keine Drogen nehmen und keinen Sex haben.

JAGGER: „Ja, aber andererseits können sie mich über Erfahrungen befragen, die andere Eltern nicht haben oder (er lacht) vor ihren Kindern geheimhalten möchten. Sie wissen, daß sie mich immer fragen können. Sie wissen aber auch, daß ich Bescheid weiß. Sie können mir nichts vormachen.“

ME/Sounds: Was passiert, wenn sie ihre Freunde nach Hause bringen ?

JAGGER: „Manchmal schauen sie mich etwas schüchtern an, einige auch (grinst vielsagend) nicht so schüchtern. Es ist ein schmaler Pfad, auf dem ich als Vater balancieren muß, denn es ist, wie du sagst, nicht wirklich normal bei uns. Sie gehen in einen Club und sehen ein Video von mir. Und schon heißt es ,Oh, der schon wieder…‘ Das muß schon ziemlich peinlich sein.

Ich spreche nicht gerne über sie in Interviews. Sie lesens dann und sagen: , Warum hast du sowas über mich gesagt?‘ Ich sage dann: ‚So habe ich das nicht gesagt.‘ — ‚Doch, hast du!‘ Deshalb rede ich nicht gerne über sie.“

ME/Sounds: Hältst du sie auf dem Laufenden darüber, was gerade hip und angesagt ist, oder halten sie dich auf dem Laufenden?

JAGGER: „Beides. Ich höre mir gerne an, was sie machen und was sie mögen. Es erinnert einen daran, wie man selbst mit 15 oder 16 war und wie

anders ihr Leben ist.“

ME/Sounds: Über dich ist unendlich viel geschrieben worden, nicht immer wohlwollend. Was war nach deiner Ansicht das größte Mißverständnis?

JAGGER: „Das erste war auch das größte Mißverständnis. Wenn man sich so lümmelhaft wie ich benimmt, sind die Leute immer überrascht, daß man mehr als zwei Worte zusammenfügen kann. Inzwischen habe ich aufgehört, die Mißverständnisse zu zählen. Ich kann nur noch drüber lachen.

Die englische Boulevard-Presse ist ohnehin ein Fall für sich. In der einen Minute bist du noch ‚Das Drogenwrack‘, um schon in der nächsten Minute ,Der liebende Familienvater‘ zu sein. Sie können sich nicht entscheiden, in welche Ecke sie mich stellen sollen. Das Resultat sieht dann so aus:

,Mick Jagger, das Drogenwrack, wurde gesehen, wie er mit seinen beiden Kindern im Hyde Park spazieren ging. Sollte das etwa bedeuten …?‘ Verstehst du, was ich meine? Die Presse greift sich immer nur einen Aspekt von dir. für sie besteht das Leben nur aus Aspekten. Sie können nie eine Person mit all ihren Schattierungen erfassen.“

ME/Sounds: Ich erinnere mich an ein Interview mit David Bowie, wo er sagte, daß die Leute ganz überrascht waren, daß er aß, trank, rauchte und gelegentlich auch mal einen Furz ließ. Sie erwarteten einen Marsmenschen.

JAGGER: „David hat ihnen auch oft genug den Marsmenschen vorgespielt. Ich habe ihnen einen Lümmel vorgespielt. So wirst du selbst zu deinem ärgsten Feind. Man läuft dann Gefahr, genau diese Person zu werden.“

ME/Sounds: Normale Menschen – ich nehme dich da mal aus…

JAGGER: ….. Danke…“

ME/Sounds: … haben nur eine verschwommene Erinnerung an ihre Vergangenheit. Deine Vergangenheit ist ausßhrlichst dokumentiert. Alleine in den letzten Tagen habe ich ein altes Interview mit dir und einige alte Clips im Fernsehen gesehen, ich hörte eine Runde berühmter Leute über dich reden. Und ich habe Marianne Faithfuls Meinung über dich als Liebhaber gelesen.

JAGGER: „Ja, das ist sehr beunruhigend.“

ME/Sounds: Was bedeutet das fir dich?

JAGGER: „Das meiste amüsiert mich (er lacht, dann runzelt er die Stirn). Manchmal ist’s aber wirklich schwer, das auszuhalten. Ich habe das im Song .Primitive Cool‘ angesprochen, ein bißchen ironisch zwar, aber es geht genau darum.

Im Fernsehen habe ich eine Show gesehen, in der ich auftrat. Wer hat mich da auftreten lassen? Es war Germaine Greer (feministische Schriftstellerin, d. Red.). Es war einfach lächerlich. (Er klingt mit einem Mal betroffen.) Sie präsentierte mich — und es war, als würde sie über jemand ganz ande-ren sprechen. Man verdrängt einiges davon. Aber dann muß ich doch in mich hineinschauen. Wenn Leute mir Fragen stellen, dann muß ich auch darüber nachdenken.

Es bedarf allerdings einer erheblichen Anstrengung, mehr als nur eine schnoddrige Antwort zu geben. Selbst wenn wir den ganzen Nachmittag ernsthaft sprechen würden, würdest du auf viele Widersprüche in mir stoßen. Ich behaupte etwas, um gleich darauf zu sagen: , Vergiß es, das war nicht ernst gemeint.‘ Vieles, was ich von mir gebe, hat halt zwei verschiedene Gesichter. Aber… wir werden zu ernst, glaube ich (lacht).“

ME/Sounds: Okay, nächste Frage: Was ist „Primitive Cool“? Ist es die moderne Version des „Edlen Wilden“?

JAGGER: „Genau, meine Liebe! Richtig getroffen! Es ist eine Ableitung der Idee vom Edlen Wilden. Aber es hat seinen Ursprung in den 5üern. Schon damals hieß es ,Cool Music oder ,Cool Jazz‘. Das Wort ,cool‘ oder seine Variationen wie „chill“ sind heute immer noch in Mode, es war nie weg. Es ist das älteste Hip-Wort, das ich kenne.“

ME/Sounds: Ich habe gehört, daß du mit deinem ersten Solo-Album She’s The Boss nicht so zufrieden warst. Du fandest, es wäre nicht charakteristisch genug, klänge zu sehr wie die Stones.

JAGGER: Ja, so könnte man das sagen. In gewisser Weise war es ein sehr schnelles Projekt, ich habe nicht zu viele Gedanken darauf verschwendet. Ich wollte nur ins Studio gehen und auf die Schnelle ein flottes Album produzieren. Am Ende bin ich wohl etwas zu leichtfertig an die Sache herangegangen.“

ME/Sounds: Nach 20 Jahren milden Stones hat natürlich jeder den „wahren Jagger“ oder zumindest ein Meisterwerk erwartet.

JAGGER: „Ich weiß. Das ist auch das, was ich daraus gelernt habe. Man ist zwar nie lOüprozentig mit dem zufrieden, was man tut. Die wirklichen Fehler erkennst du erst hinterher. Ich glaube aber, das neue Album ist viel besser. Ich würde gerne jedes Jahr ein Album rausbringen. Aber manchmal (er lacht) ist ein Jahr nicht so gut wie die anderen. Ich mache dann lieber weiter, als zu warten. Denn je länger man abwartet, desto mehr wird von dir erwartet.“

ME/Sounds: Und du bist der gleiche Sänger. Du kannst dich nicht über Nacht in Otis Redding verwandeln.

JAGGER: „Nein, leider nicht. Obwohl ich glaube, daß mein Gesang diesmal anders ist. Auch die Musik betrifft Neuland, jedenfalls im Vergleich zum letzten Stones-Album.“

ME/Sounds: Findest du es leicht, Platten zu produzieren?

JAGGER: „Das hängt davon ab, was du machen willst. Wenn man sagt: ,Gib mir zwei Monate — und ich produziere dir ein Album‘, dann ist das sehr leicht. Aber wenn man sagt: ‚Ich will wirklich dieses eine Album machen‘, wenn du eine klare Idee davon hast, wie es werden soll, dann wird’s schwer. Du mußt die Leute dazu bringen, das zu spielen, was du willst, aber auf ihre eigene Art. Das ist schwer, weil du in deinem Inneren schon gehört hast, wie es klingen soll.

Das gilt für die meisten Leute, die schreiben: ein Buch. Musik, was auch immer — es ist schwer, das herauszubekommen und schließlich annähernd das zu erreichen, was man sich vorgestellt hat. Ich habe z. B. die Band Living Color in New York produziert. Eine Hardrock-Band, vier Straßenjungs aus Brooklyn. Das war einfach, es war ihr erstes Album, das Material war noch frisch. Ihr zweites Album wird schon schwieriger, weil man sich dann ja nicht wiederholen will. So wird es immer schwieriger.

Aber es ist auch nicht schwieriger als letztes Jahr. Ich glaube nicht, daß mir die Ideen ausgehen.“

ME/Sounds: Was ist fiir dich ein wirklich guter Song — einer, den man im Bad summen kann oder einer, der die Weh verändert?

JAGGER: „Man muß beides können. Ich will Songs machen, die irgendwie leichtfüßig wirken. Aber das muß man dann ausgleichen mit etwas, was ein bißchen tiefschürfender ist. Popmusik ist nun mal eine Sache, die kommt und geht. Deshalb muß sie einfach dieses Ja la la‘ haben. Etwas, was dem Ganzen eine Qualität zum Mitsingen gibt.“

ME/Sounds: Deine Songs wurden auch schon verantwortlich gemacht fiir Drogen, Gewalt, Sex, Verbrechen, das Wetter und was weiß ich…

JAGGER:“.Einzelne Songs oder Gruppen kann man dafür nicht verantwortlich machen. Wenn man nur ein einzelnes Element betrachtet, ist der Einfluß überhaupt nicht groß. Man ist Teil einer Bewegung. Und die Bewegung verändert langsam die Köpfe einiger Leute. Man ist nur ein Teil davon, ob groß oder klein.“

ME/Sounds: Du warst wohl unbestritten ein großer Teil davon…

JAGGER: „Klar, es kommen Leute, die große Stücke dazugeben und solche, die kleine dazugeben. Man kann nicht die ganze Zeit eine große Nummer sein.“

ME/Sounds: Hat die Popmusik auch heute noch die gleiche Bedeutung, die sie damals hatte oder wenigstens zu haben schien?

JAGGER: „Oh, ja, sicher. Ich wüßte nicht, was sich da geändert haben sollte.“

ME/Sounds: Drei der Songs auf dem neuen Album hast du zusammen mit Dave Stewart von den Eurythmics geschrieben. Wie seid ihr miteinander zurechtgekommen ?

JAGGER: „Wir haben uns irgendwann im Studio oder sonstwo kennengelernt (er lacht). Mir gefielen die Sachen, die er machte, aber ich wußte nicht so recht, was er wirklich zu den Songs beiträgt und was Annie Lennox und die anderen beitragen.

Was mir an Dave gefällt, ist die Tatsache, daß wir ungeheuer schnell arbeiten. Wir schreiben die Songs, spielen sie gleich ein — und ab geht’s in die Kneipe. Es war sehr spontan! Er ist sehr poporientiert, viel mehr als ich. Bei mir geht es mehr in Richtung R & B.

Einige von Daves Ideen sind etwas schwer zu realisieren. Aber wenn es dann funktioniert, dann funktioniert es wundervoll! Er ist einer von denen, die mit 12 Ideen auf einmal ankommen. Wir können aber nicht alle 12 umsetzen. So war ich derjenige, der die richtigen heraussuchen mußte.“

ME/Sounds: Klingt so, alt würdest du Dave Stewart produzieren.

JAGGER: „Ich produziere Dave, in der Tat, genau das ist es! Ich mußte den sensiblen, ausgleichenden Teil übernehmen, eine Rolle, die nicht immer nach meinem Geschmack ist.“

ME/Sounds: Aber eine, mit der du Erfolg hast — wie bei den Stones?

JAGGER: „Ja. da hat’s funktioniert.“

ME/Sounds: Du bereitest dich gerade auf eine Welt-Tournee vor…

JAGGER: „Ja, aber ich weiß noch nicht, wie lange sie dauern soll. Wenn es mir Spaß macht, wird sie lange laufen. Wenn mir alles zu viel wird, zu viel Arbeit (er lacht), dann höre ich auf. Das hört sich am Anfang alles so toll an. Aber nach-einigen Monaten denkst du nur noch: ‚Gott, ich kann nicht mehr…!‘ Ich habe auch schon eine Band: Jeff Beck an der Gitarre. Simon Philipps am Schlagzeug, Doug Wimpish am Baß und Phil Ashley an den Keyboards. Wir haben einige Termine in Amerika, aber wir fangen in Europa an. Es sollen ziemlich kleine Gigs werden, nach Möglichkeit in mittelgroßen Hallen.“

ME/Sounds: Wie kommt es, daß du auf Tour gehst, wo doch Keith Richards jedem erzählt, daß du am Ende der Stones schuld seilt, weil du mit ihnen nicht mehr auf Tour gehen wolltest?

JAGGER: „Ich wollte nicht mit den Stones auf Tour gehen, weil ich glaube, eine Band sollte nicht auftreten, wenn sie gerade Knatsch hat. Ich habe meine Lektion gelernt, als ich die Who auf ihrer letzten Amerika-Tour gesehen habe. Damals, als sie nicht mehr miteinander geredet haben. Da habe ich mir geschworen, niemals so eine Tour zu machen.“

ME/Sounds: Was ist denn wirklich passiert? Konntet ihr euch gegenseitig nicht mehr ertragen?

JAGGER: „Ich hatte einfach genug von allen. Wir waren zu lange zusammen.“

ME/Sounds: War’s das also? Mick Jagger nur mehr solo, nie wieder mit den Stones…?

JAGGER: „Die Gemüter werden sich hoffentlich beruhigen, so daß man sich wieder zusammensetzen kann. Ich hoffe schon, daß wir wieder mal eine Tour machen, wenn auch nicht in der nächsten Zukunft.“