Mister Rockpalast: Eine Begegnung mit Peter Rüchel – dem Mann, der seit vollen 25 Jahren Rockkonzerte via TV in bundesdeutsche Wohnzimmer bringt


KÖLN, APPELLHOFPLATZ, siebter Stock des WDR-„Vierscheibenhauses“: Hier residiert auf knapp zehn Quadratmetern, mit Blick auf das historische Zeughaus, der Mann, der das deutsche Fernsehen zum Rocken brachte. Und dies tut Peter Rüchel unverdrossen bis heute. Umgeben von schmucklosen Regalen bildet der Schreibtisch den Mittelpunkt der Rockpalast-Kommandozentrale. Zwischen zwei Telefonen, einem riesigen Computerbildschirm, Fax, Drucker und Stapeln von Papier, Kassetten und CDs steht ein gerahmtes Foto seiner Familie. Dazu ein großformatiges Bild der Mitarbeiter-Crew im vollgestopften Regal. Das war’s auch schon mit der persönlichen Dekoration in Rüchels Reich. Mernorabilia aus den großen Tagen der Rocknächte in der Essener Grugahalle oder von seinen Begegnungen mit den Helden der Rockwelt – Fehlanzeige.

Erwähnenswert höchstens noch eine Wanduhr, genauer: eine Vinylscheibe von Springsteens „Born To Run“ mit eingebautem Uhrwerk. Das Ding hängt zwischen den beiden Fenstern an der Wand und läuft nicht mehr – der Staubschicht nach zu urteilen, ist die Uhr schon vor Jahren stehengeblieben. Was mitnichten heißt, daß unser Mann von gestern ist – Trophäen interessieren Rüchel eben nicht. Nur im Büro nebenan, wo seine langjährige rechte Hand, Anja Becker, wirbelt, finden sich ein paar Fotografien aus 25 Jahren Rockpalast. Entspannt lehnt Rüchel sich in seinem Bürostuhl zurück und erklärt: „Nostalgie interessiert mich nicht. Was mich daran stört ist diese Einstellung, daß die Leute sagen: Alles Gute ist schon passiert, heute kommt nichts mehr. Ich bin nach wie vor neugierig auf Neues.“

Eine Haltung, die dem Rockpalast neben den alten Fans auch ein junges Publikum sichert. Einmal wöchentlich geht der WDR nachtfüllend mit Rockpalast-Aufzeichnungen auf Sendung, in diesem Jahr ist als fester Termin noch der Dienstag abend dazugekommen. Zudem ist der Rockpalast mit einem 800 (!) Seiten starken Auftritt im Internet vertreten (siehe Kasten Seite 56). Monatlich werden dort bis zu 350.000 (!) Zugriffe registriert. Kurz: Der Rockpalast erfreut sich bester Gesundheit.

IN EINER ECKE VON RÜCHELS BÜRO LAGERT ein vorsintflutlich anmutendes Ungetüm, das in den Gründertagen des Rockpalastes zum Abspielen der aufgezeichneten Konzerte diente. Und die sind lange her – in diesen Tagen ziemlich genau 25 Jahre. Im Oktober 1974, das genaue Datum läßt sich nicht mehr eruieren, begann in einem Hamburger Fernsehstudio mit einem Konzert des Electric Light Orchestra die lange und bewegte Geschichte des Rockpalast. Schon damals zeichnete Rüchel als Redakteur verantwortlich. Noch heute, ein Vierteljahrhundert später, trägt er die dünn gewordene, mittlerweile schneeweiße Haartracht schulterlang und linksgescheitelt. Sein schmuckloses Äußeres -Jeans und blaues Sweatshirt – ist Programm, als Person steht Rüchel für Inhalte, nicht für Verpackung. Wenn er im eloquenten Plauderton 25 Jahre Rockpalast Revue passieren läßt, wird schnell deutlich, daß hier einer redet, dessen Horizont über die drei Akkorde eines Chuck Berry und das Textbuch eines Bob Dylan weit hinausreicht. Kein Wunder, Rüchel stammt schließlich aus großbürgerlichen Verhältnissen, „aber eher in kultureller als ökonomischer Hinsicht“, wie er schmunzelnd anmerkt.

Geboren 1937 in Berlin, Vater Geiger (vor dem Krieg Leiter seines eigenen „Rüchel Quartett“) und Mutter Lehrerin, wächst Peter im westlichen Teil der zerbombten und viergeteilten ehemaligen Reichshauptstadt auf. Humanistisches Gymnasium mit Latein und Griechisch, klassische Musik, Literatur und Theater. Erster Einschnitt: Der 16jährige geht als Austauschschüler für ein )ahr nach Minneapolis, Minnesota: „Seit dieser Zeit kenne ich die akkurat gestutzten Rasenflächen in den Vorgärten der Suburbs und das Leben, die Gefühle und Phantasien der donigen Teenager. Ich weiß, wovon die amerikanischen Rockmusiker singen.“ Dabei sollte es noch lange dauern, bis Rüchel sein Herz für den Rock’n’Roll entdeckt. Elvis und Little Richard nimmt er gar nicht wahr: „Das ging an mir vorbei. Damals war es noch üblich, mit einem Mädchen am Wochenende ins Theater zu gehen. Und in Amerika hab‘ ich allenfalls Glenn Miller gehört.“ Zur ersten ernsthaften musikalischen Begegnung wird der österreichische Pianist Friedrich Gulda, der dem jungen Rüchel imponiert, weil er aus der engen Welt der sogenannten E-Musik ausbricht und in den 50er Jahren im berühmten „Birdland“ in New York City sogar als lazzer reüssiert.

Rüchel selbst verspürt kaum den Drang, Musiker zu werden: „Ich hab‘ zwar ein wenig Geigenunterricht gehabt, aber nach dem USA-Jahr hatte ich alles vergessen und es auch nie wieder versucht.“ Erst Jahrzehnte später mimt er bei der 25-Jahr-Feier des WDR den rockenden Sologitarristen: „Das Gitarrespielen hab ich mir innerhalb von einer Woche draufgeschafft. So klang’s auch.“ Der Auftritt – Alan Bangs gibt den zweiten Gitarristen, Rockpalast-Regissuer Wagner dilettiert am Baß – wird „dankenswerterweise“ (Rüchel) nie ausgestrahlt. Nach dem Abitur studiert der Berliner, „lange und sehr intensiv“, wie er grinsend versichert, Germanistik und Philosophie. „1968 war es dann soweit, daß ich einen Job brauchte. Irgendwie interessierte mich das Radio, also ging ich zum Sender Freies Berlin und bewarb mich. Sie warfen mich gleich ins kalte Wasser, nach dem Motto: Junge, jetzt mach mal. Man brauchte noch nicht für alles eine passende Ausbildung.“ Bis 1970 arbeitet Rüchel beim legendären Programm „SF Beat“ mit. „Meine Domäne war aber nicht die Musik, ich kümmerte mich um die Wortbeiträge.“ Wenig später wird der junge Redakteur vom ZDF entdeckt. 1970 holen ihn die Mainzer für ihr erstes echtes Jugendprogramm, „Direkt“. Vier wertvolle Jahre lang lernt Rüchel den TV-Job von der Pike auf.

Dann der entscheidende Schritt: „Bei einer Fernsehpreis-Verleihung für ‚Direkt‘ kam ich mit Hans-Geert Falkenberg, damals Leiter der WDR-Abteilung Kultur, ins Gespräch. Kurze Zeit später suchte man beim WDR einen neuen Leiter des Femseh-Jugendprogramms, und die Wahl fiel auf mich.“ Kaum in Köln, trifft Rüchel auf einen Studenten der Filmhochschule München. Sein Name: Christian Wagner. Die beiden verstehen sich auf Anhieb. Und brüten schon bald über ersten Ideen. Musikfreak Wagner führt Rüchel schnell in die wundersame Welt des Rock’n’Roll ein. Für Rüchel ist Wagner der perfekte Partner: „Ohne Christian würde es den Rockpalast nicht geben.“ Geduldig beginnen beide mit dem Bohren dicker Bretter, denn an einen Rock-Etat geschweige denn einen Sendeplatz im WDR-Programm ist vorerst nicht zu denken. Rüchel: „Aber wir wußten, unsere Chance würde eines Tages kommen. Schon 1974/75 hatten wir begonnen, einzelne Konzerte aufzuzeichnen, etwa Lynyrd Skynyrd, Man, Alexis Korner, und sogar Alan Price in London.“

Anfang 1976 ist es soweit: Ein wöchentliches, 30minütiges Jugendprogramm wird installiert. Einmal im Monat gibt’s darin unter dem Titel „Rockpalast“ auch Live-Musik. Rüchels damalige Sekretärin, Bärbel Müller, erfindet den Namen. Improvisationsgabe ist für die idealistische Redaktion lebenswichtig. Rüchel schmunzelt: „Wir waren völlig ahnungslos. Wie nimmt man den Konzertton ab? Was ist eine Monitorbox? Am Anfang verwendeten wir normale Studiolautsprecher als Monitorboxen. Damals wußte kaum jemand, wie man Rockmusik fürs Fernsehen macht.“ Zudem haben die absoluten Beginner keinerlei Erfahrung im Umgang mit den knallharten Geschäftsmethoden der US-Manager. Rüchel grinst, wenn er an die alten Zeiten denkt: „Nächtelang haben wir uns die Ohren fusselig telefoniert, um dort drüben an die richtigen Leute heranzukommen. Man mußte sich regelrecht heranpirschen. Und verdammt oft habe ich einsehen müssen, daß ich für diese gewieften Typen einfach nicht früh genug aufgestanden war.“ In jenen Tagen knüpfen die Branchen-Greenhorns jedoch Kontakte, die sich noch Jahrzehnte später als wertvoll erweisen sollten. So werden sie schon früh auf spätere Weltstars aufmerksam. Etwa U2, die am 4. November 1981 ihr Rockpalast-Debüt im Berliner Metropol vor 350 Zuhörern geben, Meat Loaf und Mink DeVille (beide im Juni 78), Dire Straits (Februar 79) oder R.E.M.; Michael Stipe & Co. spielen 1985 in der Zeche Bochum vor 280 zahlenden Zuschauern auf.

Und am 14. Juni 1977 tritt ein schlaksiger junger Rocker im WDR-Studio L in Köln auf, der ebenfalls vor einer Weltkarriere steht: Tom Petty – die erste LP seiner Heartbreakers ist gerade erschienen. Rüchel erinnert sich: „Wir hatten der Band damals als Bühnendekoration ihr Logo auf Pappmache gemalt. Nach dem Konzert haben sie’s eingepackt und bei ihrer Tournee verwendet.“ Gerade mit den Heartbreakers schließt sich für Rüchel einmal mehr der Kreis, denn genau 22 Jahre später, am 23. April ’99, gibt Pettys Band aus Anlaß ihres aktuellen Albums „Echo ein spektakuläres Konzert im Hamburger „Docks“. Rüchel und Team sind vor Ort – und stellen überrascht fest: „Die Heartbreakers arbeiten heute noch mit genau derselben Crew wie damals. Die lungs konnten sich noch lebhaft an Einzelheiten des Konzertes vor mehr als 20 Jahren erinnern.“

SCHNELL WIRD DER ROCKPALAST ZUM Geheimtip in der Szene. Auch wenn Rüchel gelegentlich noch selbst seine Sendungen ansagen muß; keine Sache, für die er geboren scheint: Mit angegrauter Wallemähne und uncoolem Kassengestell wirkt er ein wenig linkisch, jeder sieht, daß hier kein aalglatter Schaumschläger vom Typ eines Sexauer agiert, der, flankiert von barbusigen Go-Go-Girls, die Top Ten runterbetet. Und hip ist der pausbäckige Späthippie mit dem salbungsvollen Tonfall beileibe auch nicht. Aber gerade seine unbeholfene Präsenz bewirkt, daß die Rockgemeinde ihm jedes Won glaubt – da ist einer, der um die geheimen Botschaften, die in einem Gitarrenriff von Keith Richards oder einer Textzeile von Bob Dylan verborgen sind, zu wissen scheint. Ebenso die Männer, die Rüchel alsbald holt, um den Rockpalast nach außen zu präsentieren: der charismatische Mädchenschwarm Alan Bangs (Rüchel: „Meine damalige Frau hatte seine Radiosendung ‚Nightflight‘ auf dem britischen Soldatensender BFBS gehört und mir geraten, es mal mit ihm zu versuchen“) und der etwas hölzerne Albrecht Metzger, dessen forsches „tschörmen tällefischn prautli prisents“ konstant für Heiterkeit vor den bundesdeutschen Mattscheiben sorgt. Am 23. Juli ’77 dann steigt in der Essener Grugahalle jene legendäre erste Rocknacht mit Roger Mc-Guinn’s Thunderbyrd, Rory Gallagher und Little Feat. Der Rest ist Fernsehgeschichte – zweimal im Jahr treffen sich „alle, für die Rockmusik ein Lebensmittel ist,“ (Rüchel) zur Rocknacht-Party. Die Konzerte werden synchron per Radio in Hifi-Qualität übertragen. Und mancher Gig geht gar in die Annalen ein – etwa Patti Smith’s berüchtigte Klarinetten-Einlage beim Johnny Winter-Auftritt (Rüchel: „Ich fand das okay“) oder Mitch Ryders Set, für den er sich offensichtlich über Gebühr in Stimmung gebracht hatte. Mitte der 80er Jahre scheint es, als könne es ewig so weitergehen das Publikum fiebert ungeduldig jedem Rockpalast entgegen, und der gute Geschmack der Redaktion garantien Qualität. Vielleicht würde sogar eines Tages Rücheis eingestandener Held Bruce Springsteen auftreten. Dessen Gitarrist Little Steven übrigens gibt mit den Disciples Of Soul in der Rocknacht vom 16. Oktober ’82 einen fulminanten Vorgeschmack auf den „Boß“.

Der aufkommende Quotendruck und die Konkurrenz der bunten Videodips jedoch verschlechtem das Klima für „Special Interest“-Formate rapide. Quotenrenner war der Rock’n’Roll ohnehin nie – selbst die spektakuläre Rocknacht 1981 mit The Who oder ein Konzertmitschnitt der Rolling Stones (1976 in Paris) bringen es auf gerade 5% Sehbeteiligung. Das desaströse Ergebnis der Rocknacht vom 19. Oktober ’85, als The Armoury Show, Squeeze, Rodgau Monotones und Ruben Blades gerade mal 3.000 Zuschauer in die Grugahalle locken (Rüchel: „Mein deprimierendster Moment!“) besiegeln das Schicksal der Sendung: Der Rockpalast wird 1986 eingestellt video killed the rockpalast star.

Erst 1995 kommt der Rockpalast Mk. 11 langsam ins Rollen. Rüchel: „Zu Beginn der 90er Jahre sendete der WDR noch nicht rund um die Uhr. Man suchte nach Möglichkeiten, die Nachtstunden preiswert zu überbrücken. Also bot ich mein Rockpalast-Archiv an.“ Das Angebot wird dankbar akzeptiert. Nach überwältigenden Zuschauerreaktionen beginnt Rüchel behutsam, wieder eigene Produktionen auf die Beine zu stellen. Und muß auch Rückschläge einstecken: „Kurz nach dem Neustart floppte das erste Loreley-Festival dermaßen, daß ich sagte: Wenn das nächste Jahr nicht wenigstens 10.000 Leute kommen, gebe ich auf.“ Das 96er Festival, bei dem unter anderem David Bowie, Pulp und Iggy Pop antreten, wird jedoch ein voller Erfolg. Seitdem gehören die jährlichen Loreleyund Bizarre-Festivals, die in Zusammenarbeit mit Concert Cooperation Bonn durchgeführt werden, zu den verläßlichen Fixpunkten im Programm. Ebenso die Rocknächte in der Düsseldorfer Philipshalle sowie Special events oder Schmankerl wie der in jeder Beziehung einmalige Deutschland-Auftritt von R.E.M. am 2. November ’98 in Hamburg.

Einmal mehr scheint es, als könne es ewig so weitergehen. Der Rockpalast gilt heute als weltweit respektiertes Warenzeichen für First-Class-Rock-Entertainment. Mit einigen Giganten der Szene hat Rüchel über die Jahre gar Freundschaft geschlossen: „Zum Beispiel PeteTownshend. Ihn traf ich zum ersten Mal in London 1981. Es gibt Menschen, bei denen du ohne viele Worte sofort spürst, daß sie auf der gleichen Wellenlänge liegen. Pete ist so einer. Eine dicke Freundschaft hat sich auch mit Little Steven entwickelt.“ Wohl dem, der solche Freunde hat. Rüchel relativiert: „In all den Jahren hat sich der Begriff Rockstar für mich total verändert. Natürlich triffst Du in diesem Job weltberühmte Künstler. Und es ist ein ungeheures Privileg, sie als ganz normale Menschen zu erleben. Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die Künstler als Halbgötter verehren. Meistens ist es eine ganz normale Arbeitsbeziehung.“

Wie geht’s weiter, Herr Rüchel? Wird auch im nächsten Jahrtausend öffentlich-rechtlich gerockt? Nachdenklich hantiert Mr. Rockpalast mit seiner Brille: „Keine Ahnung – wir machen einfach weiter.“ Verlegen fügt er an: „Ich kann dir nur sagen, was ich Silvester 2000 mache: Eigentlich wollte ich mit meiner Familie die Nacht der Nächte in Venedig verbringen. Aber uns graut vor dem Trubel und den Millenniums-Preisen. Letztlich ausschlaggebend war jedoch mein 9jähriger Sohn, der sagte: Laß uns doch wieder nach Spiekeroog fahren, da ist es immer so gemütlich.“ Rock’n’Roll ist eben nicht alles. Irgendwie sympathisch.