Money for nothing


30 Millionen, 65 Mil- lionen, 100 Millionen — wer bietet mehr? Mega-Stars wie Ma donna, Prmce oder Michael Jackson be- kamen Mega-Verträ- ge, die Plattenfirmen trieben sich im tiefen Tal der Super-Deals gegenseitig an den Rand der Zahlungsf Madon- na versucht's mit Sex, Jackson mit neuer Offenheit. Was sie da- bei vergessen: Wer braucht heute schon noch Superstars?

Er war verdammt fertig. „Genug , mag Manager Sandy GaJlin an diesem Abend zu seinem Schützling gesagt haben, und es war das schönste Wort, das der blasse, magere Mann seit Wochen vernommen hatte. Michael Jackson war müde, unendlich müde. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so hart gearbeitet zu haben — bis auf die Tage von „Jackson Five“ vielleicht, und am liebsten hätte er sich jetzt in sein Sauerstoff… Aber dieser Jungbrunnen existierte ja offiziell nicht mehr — jedenfalls hatte er das gerade eben Oprah Winfrey erzählt, der Frau, die in die TV-Geschichte eingehen würde: als erste Journalistin, die ein TV-Interview mit ihm geführt hatte. 90 Minuten lang. Live. Am nächsten Morgen würden seine ersten öffentlichen Dementis in allen Zeitungen stehen: kein böses Sauerstoffbett, kein böser Vater, keine böse Pigmentstörung, die ihn mittlerweile so ausgebleicht hat. als habe er einen dreiwöchigen Persil-Hauptwaschgang eingelegt. Aber es würde auch zu lesen sein, daß sein belangloses Geplaudere mit Oprah von 90 Millionen Menschen gesehen worden war — und das wiederum war das einzige, was ihn und Sandy an den Zeitungen morgen früh interessieren würde.

Das Interview war der Höhepunkt einer ausgefeilten Promotion-Aktion, mit der sich Michael Jackson, dessen Lippen früher stets versiegelt war, innerhalb weniger Wochen aus der Beinahe-Bedeutungslosigkeit in das Kollektiv-Bewußtsein Amerikas zurückkatapultierte. Anfang Februar hatte ihm sein Manager einen Auftritt im Vorprogramm zur Superbowl, dem Endspiel der amerikanischen ¿

Football-Profis beschafft. Ein paar Tage später durfte er sein „Heal The World“ bei Clinton’s Amtseinführung Hand in Hand mit des Präsidenten Töchterlein singen — spätestens da gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika niemanden — niemanden! — mehr, der Michael Jackson in den letzten Wochen nicht mindestens einmal auf dem Bildschirm gesehen hatte. Dazu kamen Auftritte bei den „Image Awards“ und bei den „American Music Awards“. Und jetzt noch einmal 90 Millionen Zuschauer dank Oprah Winfrey.

Die nächste Ausgabe des Chart-Magazins „Billboard“ werden Sandy und Michael erwartet haben wie Ostern und Weihnachten zusammen. Und da stand, schwarz auf weiß, das Resultat ihrer Kampagne: „Dangerous“, Wakkos aktuelles Album, dümpelte nicht mehr auf Abstiegsplatz 131, sondern war innerhalb einer einzigen Woche auf Platz 10 zurückgeschossen — Michael Jackson war wieder in den Top Ten.

Daß das mehr tierdenn menschenliebe Bleichgesicht solche PR-Klimmzüge überhaupt unternehmen muß, wäre noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen. Eine Michael-Jackson-Produktion ohne eingebautes Top-Ten-Abo. das war wie Keith Richards ohne Whiskey, Axl Rose ohne Klopperei oder die Pogues ohne beides — undenkbar eben. Michael Jackson war Michael Jackson war Michael Jackson — und obwohl niemand wußte, wer denn nun Michael Jackson eigentlich war, verkaufte sich seine Musik von selbst: „Thriller“ (1982) so oft, daß das Album auch heute noch die meistverkaufte Scheibe der Welt ist. Nachfolger „Bad“ immerhin noch so gut, daß es zu den meistverkauften Alben aller Zeiten gehört — wobei sich Jacksons Management wahrscheinlich schon seit längerem fragt, ob diese ewigen Zeiten denn nicht heimlich, still und leise zuende gegangen sind, ohne daß irgend jemand etwas gemerkt hat.

1993 jedenfalls genügen die Mathe-Kenntnisse der Grundschule, um feststellen zu können: Ein Platz 131 in den Verkaufscharts selbst für Michael Jackson nicht mehr soo ungewöhnlich, teilt er dieses Schicksal doch längst mit anderen Größen, die früher einmal als Superstars galten. Madonna, Prince, George Michael, Springsteen — zusammen mit Wacko einmal die Big Five der Pop-Musik — sie alle verkaufen momentan viel, erschreckend viel weniger Platten, als sie es selbst in den good old days jemals für möglich gehalten hätten.

Nicht genug, daß Superman tot ist — auch die Ära der singenden Superstars scheint vorbei zu sein: Am Popmusik-Horizont ist die Götterdämmerung angebrochen.

Rückblende in die 80er, die Jahre, in denen Pop-Helden noch Pop-Helden waren. In denen Amerikas Mainstream-Sprachrohr „Rolling Stone“ Michael Jackson noch „fiir die schwane Jugend die inspirieremlste Persönlichkeil seit Mohammed Ali“

hielt (Malcolm hatte man damals noch nicht wiederentdeckt) und Madonna „fiir weiße Girls die stärkste Identifikationsfigur seit der Monroe“.

Für die Superstars war „Rekord“ ein Synonym für „Verkaufszahlen“, und irgendwie war man der Meinung, man hätte das Mysterium Massengeschmack ein für alle Mal im Griff. Mitte der 80er war Michael Jackson auf dem Weg zum 45.000.000ten „Thriller“-Exemplar, der Boss brachte „Born in the USA“ zwölf Millionen Mal an den harten Mann, Madonna setzte von ihrem Jeans- und Kreuz-Glilter „Like a Virgin“ sieben Millionen Stück ab. Prince. dessen erste Produktionen nur wenig über den Insider-Status hinausgekommen waren, wurde mit „Purple Rain“ (14 Millionen verkaufte Exemplare) zum Superstar.

Und heute? Machen wir’s kurz und schmerzlos: Michael Jackson hat von“.Dangerous“ in den Staaten bisher vier Millionen verkauft — das ist immer noch ganz schön viel, im Vergleich zu „Thriller“ aber nur ein Nasenwasser. Springsteens Doppelschlag“.Lucky Town“/.,Human Touch“ fand knapp eine Million Käufer pro Platte — Peanuts im Vergleich zu „Born in the USA“. Madonnas „Erotica“ hat’s unterdessen auf ziemlich unerotische zwei Millionen gebracht, des Prinzen „Love Symbol“ gerade mal auf eine.

Nun könnte man ja wegen der vehement beschworenen Welt-Rezession auf den Gedanken kommen, es würden generell weniger Platten gekauft — weil das Geld eben knapper ist als früher. Das zweite stimmt bestimmt, das erste nachweislich nicht: Die aktuellen Umsatzkurven der Phono-Industrie zeigen genausowenig nach unten wie der Umsatztrend bei Tour-Veranstaltern. Der Unterschied zu früher: Heute sorgen nicht die Superstars von gestern für den Umsatz, sondern Jung-Stars, die in den 80ern zum Teil noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum liefen.

Seit aber im Gefolge von Nirvana („Nevermind“: 5 Millionen) Bands wie Pearl Jam und Soundgarden die Charts stürmten und Seattle im Rock-Lexikon plötzlich nicht mehr nur als Jimi Hendrix‘ Geburtsort gilt, ist der Begriff „regionale Spezifizierung“ vor allem bei all jenen Industriemenschen ein Schlagwort, die die sinkenden Verkaufszahlen „ihrer“ Superstars erklären wollen und nicht so recht können. Auf den Kern gefühlt, ergeht es diesem Erklärungs-Begriff natürlich wie jeder anderen Marketing-Worthülse — sie zerplatzt wie eine Seifenblase.

Wer sich fragt, ob die Superstars das viele Geld, das ihnen die Industrie in den jüngsten Verträgen noch garantiert, überhaupt noch wert sind, muß sich auch fragen, was das eigentlich ist: ein Superstar. An was machen Pop-Theoretiker diesen aus lebensgroßen Starschnitten und feuchten Pubertätsträumen geschaffenen Über-Künstler fest? Warum also sind Madonna und Michael Jackson und George Michael Superstars — und Paul McCartney und Mick Jagger und Eric Clapton nicht?

Weil bei Paul McCartney keine aufgeblasenen Kondome auf die Bühne geworfen werden. Weil Mick Jagger keinen Affen zum Haustier hat. Weil Eric Clapton keine Gaultier-BHs trägt. Kurz: Weil Paul, Mick und Eric sich nie so weit vom Normal-Menschen entfernt haben wie etwa Madonna, Michael und George, die Unberührbaren — Lichtjahre weit entfernt auf ihrem Pop-Olymp aus Sound-Samples und Step-Schritten. Während sich die Species McCartney/Jagger/Clapton gediegen-bürgerlich in Jacket und Schlips und Enkelkind im Arm fotografieren läßt und für ein gutes Interview auch schon mal den Stylisten-Termin verschieben, mutierte die Species Jackson/Madonna/Michael immer mehr zu künstlichen Pop-E.T.s. zu Wesen, die mit normalen Sterblichen kaum noch etwas zu tun zu haben schienen — und damit zu Superstars. Das Bodenständige, Fast-schon-Normale bei den einen, das Geheimnisvolle. Unerreichbare, Provokante bei den anderen — das trennt Stars von Superstars und vielleicht auch Künstler von Künstlichen.

Und es trennt, fein säuberlich, die Erwartungshairungen: Wenn Newcomer wie Pearl Jam mit einem Minimum an Produktions- und Werbeaufwand gleich vier Millionen Exemplare ihrer ersten CD an den Mann bringen — wunderbar! Aber Michael Jackson hat bei Sony einen 65 Millionen Dollar-Deal unterschrieben — und dafür wollen die Japaner mehr sehen als bloß „schlappe“ 5 Millionen verkaufte „Dangerous“.

Über das „Warum“ des Superstar-Sterbens gibt es so viele verzwickte Theorien, daß kein Label-Chef ¿

mehr ohne ein Packchen Aspinn ins Büro kommt. Die braucht er, wenn ihm zu Hilfe gerufene Jugendmarkt-Forscher mal wieder die Gründe für den Einbruch erklären wollen. Da existiert zum Beispiel die kürzlich im Magazin „Entertainment Weekly“ publizierte „Theorie des Wegalterns“: Basierend auf der unumstößlichen Tatsache, daß auch Musikfans älter werden, schließt man, daß den Superstars die Fans einfach weggealtert sind — was richtigerweise impliziert, daß Jackson und Co eine Musik machen, die bloß von einer ganz bestimmten Altersschicht gehört wird (während McCartney und Jagger und Clapton eine Generationen-umspannende Fangemeinde haben). Wer zu „Thriller“-Zeiten 14 war und auf „Beat it!“ abgefahren ist, ist heute 25 und hört je nach musikalischem Fassungsvermögen entweder Tom Waits oder Genesis. Und all die kleinen „Like a Virgin“-Lookalikes sind längst weder das eine noch das andere mehr.

Natürlich gibt es heute ebenso viele 14jährige wie früher, und vielen von ihnen steht monatlich mehr Geld zur Verfügung wie manchem Erwachsenen nach vier Wochen Nachtschicht — Michael Jacksons Umsatz rettet das aber nicht. Denn die 14jährigen von heute unterscheiden sich von all ihren Altersgenossen anderer Jahrgänge vor allem durch eines: Sie wollen nicht nur keine Superstars — sie haben sie regelrecht abgeschafft. Mit Superstar-Fotos auf den Titelseiten lassen sich in den USA noch nicht einmal mehr Musik-Magazine verkaufen — den bestverkaufte „Rolling Stone“-Titel 1992 zierte Bill Clinton.

Die Techno-Szene der 90er-Jahre-Kids kennt keinen Persönlichkeitskult und ist so anonym, daß selbst Szene-Kenner keinerlei Vorstellung davon haben, wie Gruppen wie „T99“ oder „Quadrophonia“ wohl aussehen mögen — obwohl sich solche Projekte (Bands kann man da ja nicht sagen — womöglich bestehen sie alle nur aus einem einzigen Computer-Hacker mit Mathe-Leistungskurs und Baseball-Kappe …) monatelang auf den vorderen Chart-Positionen halten. Hinzu kommt, daß bei Techno die Grenzen zwischen Künstler und Konsument fließend geworden sind, weil jeder 15jährige am heimischen ATARI seinen eigenen Hit programmieren kann — es gibt keine Stars mehr, weil jeder ein Star ist.

Und all diese Techno-Raves und Chill-Outs wollen nur das Eine: Party statt Protest. Doch darauf schien die „Protest statt Party“-Fraktion der Musikfans nur gewartet zu haben: Zeitgleich mit der anonymen Disketten-Musik erwachte der totgeglaubte Dinosaurier Rock ’n‘ Roll wieder zum Leben, und Bands wie Nirvana und Pearl Jam, Guns N‘ Roses und neuerdings die Spin Doctors gaben der Musik ihr rotzig-freches Gesicht zurück. Vor allem in den USA wurden die brachialen Sounds des Grunge-Rocks innerhalb weniger Monate zum „Bindemittel der Post-Baby-Boomer-Generation“ („Spiegel“) — einer Generation, für die der amerikanische Traum der Gewißheit gewichen war, daß eben dieser Traum nur für maximal ein Fünftel der Amerikaner Wirklichkeit werden kann und sie wahrscheinlieh nie zu jenen Privilegierten gehören werden. Mit dem anonymen High-Tech-Gestampfe konnten sie genausowenig anfangen wie mit Jacksons hochglanzpolierten Heileweltpop oder Madonnas Prime-time-gerechten S/M-Spielchen — also ließen sie sich die Haare wachsen, kauften Second-Hand-Röhrenverstärker und legten los, als hätte es den Punk nie gegeben. Superstars? Natürlich hat ein Kurt Cobain seine Schäfchen längst im Trockenen — als Superstar würde ihn trotzdem niemand bezeichnen. Für Grunge-Rocker gibt es keine Superstars mehr. „Verlierer“, sagt Cobain, „sind die Helden von morgen.“

In dieser Welt aus gesichtslosem Disketten-Gestampfe und röhrenverstärkten Rotzgitarren sitzen Lifestyle-Popper wie Michael Jackson auf einmal zwischen allen Stühlen. Aber auch Arbeiter wie Bruce Springsteen haben’s schwer: Der Boss zeigte sich auf seinen beiden aktuellen Alben als besinnlich-nachdenklicher Familienvater — und kassiert niederschmetternde Verkaufszahlen, weil auf einmal alles auf die Musik abfährt, die er 15 Jahre lang zuvor gemacht hat. Und Prince müht sich mit zum Teil excellenten Songmaterial seit mittlerweile einem knappen Jahrzehnt, an den kommerziellen Erfolg von „Purple Rain“ anzuknüpfen — von seinem vorletzten Album „Diamonds and Pearls“ einmal abgesehen — mit der Erfolgsbilanz von Borussia Mönchengladbach in der Bundesliga.

Anders bei Madonna — Spätestens seit ihrem Buch „Sex“ wissen wir: Mit Madonna wollen wir nicht ins Bett. Und: Ein Superstar darf sich nicht als Pin-Up prostituieren. Und schon gar nicht für 89 Mark. Superstars haben unantastbar und unerreichbar und unbezahlbar zu bleiben — sonst verkaufen sie keine Platte mehr.

Der Trend zu Bands, die live spielen können und das auch tun — auch der macht den Superstars zu schaffen. Allein 1992 hat das Rock Unternehmen „Grateful Dead“ mit 31,2 Millionen Dollar den zweithöchsten Gewinn aller amerikanischen Bands eingefahren. Der freche Rock ’n“ Roll eines Marius Miiller-Westernhagen füllt in Deutschland sämtliche Bundesligastadien — daß ,Jaja!“ mit über einer Million verkaufter Exemplare gleichzeitig eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Alben überhaupt ist, fällt erst beim zweiten Hinsehen auf und ist angesichts 800.000 Tikkets wirtschaftlich gesehen vielleicht sogar nur zweitrangig.

Es gibt nicht wenige, die sagen, daß Bands wie den Spin Doctors oder den Blues Travelers die Zukunft gehört — weil die an 350 Tagen im Jahr live auftreten und nach dem Gig herumsaufen und herumhuren und in Interviews erzählen, daß sie wahnsinnig gerne Chips essen, Haschisch rauchen cool finden und auf alkoholfreies Bier immer kotzen müssen. So etwas wollen die Leute — und keinen Prinzen, der dem „Rolling Stone“ ein Interview gibt, das aber sofort eingefroren und erst in 200 Jahren veröffentlicht werden soll.

Die Industrie hat das verstanden — sonst würden die Talent-Scouts nicht jede Garage zwischen Seattle und New York nach den neuen Nirvana durchforsten und jede dahergelaufene Krach-Kombo wie etwa Superchunk zum Anlaß nehmen, wie die Fliegen in und um Boston auf der Suche nach den „neuen Nirvana“ einzufallen. Das interne Wehklagen über die sinkenden Verkaufszahlen der Großen tönt auch nur deshalb so herzzerreißend aus den amerikanischen Chefetagen, weil man in die Jacksons und Madonnas einfach viel mehr investiert hat, als sie jetzt einspielen. Und weil man sieht, daß risikolose, weil spottbillige Deals plötzlich Riesen-Gewinne einfahren und Eric Clapton für einen Jahrhunderte alten Song und ein in etwa drei Stunden aufgenommenes Live-Album acht Grammys einsackt.

„Genug“, mag Sandy an diesem Abend zu seinem Schützling gesagt haben, „genug — fiirs erste reicht’s.“ Der blasse, hagere Mann hat sich zurückgelehnt, tief durchgeatmet und gewußt, daß er sich am eigenen pechschwarzen Schopf aus dem Schlamassel gezogen hat — seine Plattenumsätze würden ruckzuck in die Höhe schießen. Aber jetzt, nach all den Offenbarungen über Sauerstoffbetten und Väter und Pigmentstörungen ist er kein Superstar mehr. Jedenfalls kein richtiger.