Peter Thiessen


Thiessen, Peter; der Sänger, Texter und Leadgitarristvon Kante gilt als aufmerksamer und kritischer Beobachter der Welt im Ganzen und der Musikszene im Besonderen. Das und das Abschneiden seiner Band bei den —> Platten des Jahres sind gute Gründe, mit ihm über das musikalische und politische Geschehen des Jahres 2006 zu sprechen.

Peter, wie war dein Jahr?

Das war irgendwie ein total tolles Jahr. Und für mich persönlich auch sehr arbeitsintensiv. Wir hatten nach zombi ja eine ziemlich schwere Zeit, und mit die tiere sind unruhig haben wiruns als Band wiedergefunden und viel zusammen gemacht. Auch die Stadt Berlin, in der ich öfter bin, hat mich während der Aufnahmen viel mehr beeindruckt, als ich dachte. Als wir mit der Platte fertig waren, habe ich einen total merkwürdigen Auftrag gekriegt, an dem ich seitdem arbeite: Ich schreibe Texte für eine Revue am Berliner Friedrichstadtpalast. Dieser Abend wird „Rhythmus Berlin“ heißen und hat im März 2007 Premiere. Das ist für mich eine riesengroße Herausforderung, weil ich da so Sachen machen muss wie Quartette schreiben – das habe ich noch nie gemacht. Es gibt einen riesigen Springbrunnen, den man von unter der Bühne hochfahren kann und die längste Tänzerinnen-Reihe der Welt. Außerdem noch die breiteste Bühne Europas. Stimmt mein Eindruck, dass die Band Kante mittlerweile viel lockerer geworden ist als zu der Zeit, als zombi erschien?

Ja. Die Produktion von ZOMBI war wahnsinnig aufreibend und anstrengend, weil alle Beteiligten extrem hohe Ansprüche an die Platte hatten. Jedes Detail wurde zehnmal umgedreht und noch einmal von einer anderen Seite betrachtet. Das ist keine Arbeitsweise, die ich grundsätzlich schlecht finde, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass man eine bestimmte Offenheit verliert, wenn man zu sehr auf ein bestimmtes Ergebnis fokussiert ist. Dazu bin ich persönlich noch zu der Entscheidung gekommen, dass ich nicht mein komplettes Leben, mit den intimsten Bereichen, nur um die Musik kreisen lassen möchte. Ich bin diese Artvon Großkünstlertum leid.

Die Kritiken zu die tiere sind unruhig waren sehr positiv. Gab es auch etwas, dass dich in den Artikeln zur Platte richtig gestört hat?

Es gab so ein, zwei Artikel, die sich sehr stark auf dieses vermeintliche Romantik- und Naturding bezogen haben. Und aus diesen Themen hätte man mehr machen können. Ich sehe Natur nicht als romantischen Gegenpol zur schlimmen, technisierten Welt. Trotzdem finde ich das Thema Natur total interessant: Für mich ist das eher eine Grenzziehung zwischen dem, was man als Kultur des Menschens anerkennt und dem Bereich, den man nicht dazu rechnet. Eine Grenze, die vielleicht nicht in erster Linie zwischen Menschen- und Tier- oder Pflanzenwelt verläuft, sondern auch im Körper der Menschen selbst, etwa wenn es um Hirntote oder Biotechnologie geht, also: Was im Menschen ist Natur, was ist Mensch? Aber auch: Wer hat Menschenrechte, wer hat Bürgerrechte, Wahlrecht, Krankenversicherung, Aufenthaltsrecht etc. „naturgegeben“, einfach per Geburt, und wer hat das nicht? Ich finde es uninteressant, wenn man Natur immer nur als pralle, authentische Welt sieht, die ist, wie sie ist. Natur wird doch ständig neu definiert – und dabei wird eher etwas über das Selbstverständnis von Menschen und Gesellschaft ausgesagt als über Tiere.

Wurdest du als ehemaliges Blumfeld-Mitglied oft auf verbotene fruchte angesprochen, auf dem es ja auch desöfteren um Pflanzen und Tiere geht?

Ja, das kam schon oft vor, aber das Ganze war wirklich Zufall. Das Thema lag irgendwie schon länger in der Luft: Bei Tocotronic gab es die Zeile „Die Tiere stehen am Wegesrand“, und wir hatten ja auf zom bi dieses Stück „New Babylon“ mit diesem Free-Jazz-artigen Stimmengewirr, wo wir immer schon dachten: Das müssten so merkwürdige, unbekannte Tierarten sein, die da durcheinander schnattern. Aber klar: Als ich meine Texte fertig hatte und dann las, wie das Blumfeld-Album heißt, dachte ich schon: Ist ja total abgefahren. Aber ich finde so etwas letztendlich eher gut, als das ich mich darüber ärgern würde.

Wie findest du die Blumfeld-Platte denn? Wann hast du sie das erste Mal gehört?

Andre Rattay (Schlagzeuger von Blumfeld- Anm. d. Verf.) hat sie mir irgendwann vorbeigebracht, das hat mich sehr gefreut. Als erstes fiel mir auf, wie toll die Platte klingt und wie toll die Band darauf zusammenspielt. Und was Jochen an den Gitarren macht, ist sowieso Wahnsinn. Es gibt Stücke darauf, die ich total super finde. Es gibt auch Stücke, die ich nicht so gut finde und deren Texte ich nicht so sehr mag. Aber den Mut, eine sehr eigene, unverwechselbare und fast spleenige Sprache au f so einer Platte zu verwenden – das ist super. So was wie „Der Apfelmann“ finde ich schon echt irre. Das bringt eine Seite an der Band zum Vorschein, die vorher noch nicht so zu hören war.

Neben die tiere sind unruhig gab es in der letzten Zeit auch auf den letzten Alben der Hamburger Bands Tocotronic und Sport in den Texten versteckt oder offen apokalyptische Untertöne. Kannst du dir das irgendwie erklären?

Bei mir persönlich ist das so eine Lust und eine Freude am Exzess, den ich mit so etwas wie Apokalypse verbinde. Im Sinne von: Alles wird niedergerissen, alle Dämme brechen, niemand weiß mehr, wo er hingehört. Das ist es, was mir Spaß bringt. Vielleicht wird das angefeuert von einer gesellschaftlichen Situation, die „Geiz ist geil!“ propagiert und dagegen ist, dass man sich zu sehr verausgabt. Ich habe irgendwann mal ein Interview mit Leonard Cohen gelesen, in dem er sagt, dass die Apokalypse vielleicht ja längst schon stattgefunden hat-ohne, dass es jemand gemerkt hat. Es gibt eben nicht mehr die großen, geschiehtslenkenden Gewalten, sondern eine Vielzahl von sehr unübersehbaren gesellschaftlichen Kräften. Darin liegt aber auch eine Chance: Die Freiräume, die man als Individuum hat, sind eigentlich größer als vor zehn Jahren. Seit ZOMBI beschäftige ich mich ja viel mit Situationen, von denen man eigentlich gar nicht so genau sagen kann: Ist das jetzt gut oder schlecht für mich? In der Ambivalenz von solchen Situationen liegt immerauch eine Chance und eine Kraft, neue Räume zu eröffnen. Ich finde es schon berechtigt, zu sagen: Damit etwas Neues anfangen kann, muss das Alte erst einmal eingerissen werden.

Blicken wir mal auf das Jahr zurück: Inwieweit hast du die Fussball-WM verfolgt?

Ich bin von Haus aus kein besonderer Fußball-Fan, aber die WM fand ich unter ganz vielen Gesichtspunkten faszinierend. Ich hatte mir das sehr viel schlimmer vorgestellt. Ich hatte so ein Bild von rechtslastigen Hooligan-Horden im Kopf und die ganze Veranstaltung war dann doch ziemlich friedlich. Unangenehm fand ich, dass die WM der Gipfel eines Normalisierungs-Diskurses war, so von wegen: Deutschland ist wieder eine ganz normale Nation und da war vielleicht mal was, aber das ist jetzt auch erst mal egal, wir können unsere Flagge wieder vorzeigen und alle gemeinsam Party machen. Das fand ich natürlich scheiße. Trotzdem war das eine andere Form des Nationalismus als der rechtsradikal-dumpfe Nationalismus. Diese ganzen Fahnen an den Autos, die waren von einer Woche auf die andere da. Mir erzählte dann jemand, dass man gegen einen Coupon, den man aus der „Bild“-Zeitung ausschneiden konnte, in den nächsten Aldi gehen konnte und dafür ein Sixpack Bier, eine Packung Erdnüsse und zwei Deutschland-Fahnen bekommen hat. Alles, was der Mann begehrt … (lacht). Das was so schön trashig, burlesk.

Findest du, dass sich politisch durch die Große Koalition etwas verändert hat?

Finde ich nicht. Das Erstaunliche für mich war: Ich hatte Angela Merkel immer gehasst. Doch jetzt habe ich mich manchmal dabei ertappt, dass ich – nicht für ihre Politik, ganz im Gegenteil – aber für ihr Auftreten und ihren Stil irritierende Anflüge von Sympathie entwickelt habe. Weil sie mich manchmal tatsächlich an meine Mutter erinnert (lacht). Meine Mutter ist nämlich Konzertmeisterin bei einem Kammerorchester. Und die Art, wie sich beide in so einer Männerwelt bewegen, finde ich erstaunlich: die Fäden eher so im Hintergrund zu ziehen und Konflikte nicht in der Öffentlichkeit auszutragen. Ansonsten ist das inhaltlich ja eine SPD -Regierung, wo die wichtigen Positionen von CDU-Leuten besetzt sind.

¿Was hat dich musikalisch in diesem Jahr besonders berührt?

Sehr interessant fand ich diese komischen Hippie-Folk-Typen. Das ist wesentlich interessanter als die nächste britische Hype-Band. Dieses ganze Retro- Rock-Zeug finde ich uninteressant. Da werden jetzt so Sachen etwas poppiger angeboten, die vor 20 Jahren wesentlich radikaler waren. Inhaltlich und musikalisch ist das nicht so aufregend, aber ich kann verstehen, wenn Leute, die vielleicht etwas jünger sind, das gut finden. Diesen Hippie-Folk dagegen finde ich total irre, weil ich so bewundere, wie da mitbestimmten Klischees gespielt wird. Vor ein paar Jahren hätte sich das einfach niemand getraut, weil man dann vorgehalten bekommen hätte: „Blöder, kiffender Hippie!“ (lacht). An das Psychedelische und Experimentelle von Hippie-Musik und Hippie-Kultur, das ja durch Punk irgendwie in Verruf geraten ist, wird jetzt neu angeknüpft. Und dass dazu noch mit Geschlechtergrenzen gespielt wird, macht ganz neue Räume auf als dieses Retro-Zeug. Rufus Wainwright finde ich natürlich auch großartig, meine Lieblingsplatte in diesem Jahr war aber savane von Ali Farka Toure.

Was sieht es mit der Dylan-Platte aus?

Ich finde sie super, aber sie hat mich nicht so gekriegt wie LOVE AND Theft und time out of mind. Die haben mich total umgehauen. Der absolute Wahnsinn, wie er die aus dem Hut gezaubert hat. Vielleicht hat man sich auch einfach daran gewöhnt, dass er jetzt wieder tolle Sachen macht, modern TIMES kommt mir so ein bißchen hingehauen vor. Trotzdem bin ich sicher, dass das eine großartige Platte ist, die ich mir allerdings noch ein paar Mal anhören muss. Ich habe Dylan jetzt dreimal live gesehen und beim letzten Mal war seine Band so super und er hat die Songs richtig hart und bluesrockig gespielt. Ich bin ja auch totaler Blues-Rock-Fan.

Wie unmittelbar bekommt ihr als Band die Krise in der Plattenbranche eigentlich mit?

Mir ist gerade in diesem Jahr aufgefallen, wie sehr die Branche eigentlich am Boden liegt. Manchmal hört man ja aus den Plattenfirmen irgendwelche Verkaufszahlen irgendwelcher Bands, wo man denkt: .Was? Die verkaufen nur4000 Stiick? Das gibt’s doch garnicht!‘. Und das, obwohl überall Interviews und Besprechungen über die Platte drinstehen. Die Branche ist so kaputt und am Boden, das kann man sich eigentlich überhaupt nicht vorstellen. Manchmal denke ich: Das kann nicht mehr lange gut gehen. Darüber ist zwar dieses Jahr nicht so viel geredet worden, aber das hat sich für viele Bands jetzt noch mal so richtig gezeigt. Was ich irre finde, ist, wie sich eine ganze Branche quasi selbst abschafft, sich selbst überflüssig macht. Es ist zweifellos so, dass die Leute Musik hören wollen -bloß kann man momentan auf dem traditionellen Musikmarkt damit einfach kein Geld mehr machen. Die Frage ist: Wie ermöglicht man es Bands und Musikproduzenten, überhaupt noch zu arbeiten? Deswegen gehen ja so viele in die Hochkulturbereiche, und möglicherweise wird Musik irgendwann, wie z.B Theater, ein öffentlich subventionierter Bereich werden. Ich habe Sympathien dafür, wenn Leute sich alles mögliche umsonst aus dem Netz runterladen und es dann weitergeben. Nur ist das im Prinzip so, als wenn ich in eine fremde Wohnung gehe und dort einfach einen Stuhl oder Tisch mitnehme. Auch das finde ich ja noch okay – wenn die Frage nach Eigentum neu diskutiert wird: spitzenmäßig. Nur wenn, sollte das auf die ganze Gesellschaft bezogen diskutiert werden und nicht dazu führen, dass ausgerechnet einem Teil der Gesellschaft, — „Kulturschaffende“, Musiker etc. -, in dem man vielleicht wenigstens noch ein paar kritische Geister vermuten kann, die Lebensgrundlage entzogen wird. Und ich sehe noch keine wirklichen Alternativen, die die Produktion von etwas intelligenterer Musik ohne vollkommene Selbstausbeutung ermöglichen.

Musikgruppen wie Juli, Tokio Hotel oder Silbermond, bei denen ulkigerweise gern hervorgehoben wird, dass da endlich mal wieder jemand „ehrliche“, „handgemachte“ Musik „aus Deutschland“ macht, sind trotz Krise extrem erfolgreich. Interessiert dich so etwas überhaupt und wie kannst du dir das erklären?

Ich weiß nicht genau, warum man sich über diese Bands mehr aufregen sollte als über Tausende von anderen Bands auch. Da hat sich im deutschsprachigen Mainstream einfach noch mal ein neuer Markt eröffnet. Was ich aber erstaunlich finde, ist: Allein die Tatsache, dass hier in deutscher Sprache gesungen wird, scheint für manche Leute immer noch Grund genug zu sein, diese Sachen ehrlicher, wertvoller, verständlicher und weniger abstrakt als andere Musik zu finden. Das wird sich hoffentlich irgendwann auch wieder geben. Bei mir ist das so: Wenn ich mir Serge Gainsbourg anhöre, muss ich nicht perfekt französisch können – ich weiß trotzdem, wovon er singt.

Kannst du etwas mit den Bands des „Grand Hotel van Cleef‘-Labels wie Kettcar oder Tomte anfangen?

Also, ich habe Tomte ein paar Mal live gesehen und finde, dass das eine extrem beeindruckende Live-Bandist. Da habe ich schon des öfteren gedacht: Die kriegen live etwas hin, was viele ältere Hamburger Bands nie so hingekriegt haben. Ich finde es zwar gut, zu sagen: Wir kommen eigentlich vom Punk und schrammein unsere Stücke live einfach mal so runter. Ich finde es aber auch gut, dass man probt und z.B bei den Arrangements an den Feinheiten arbeitet. Und bei Tomte ist es noch nicht so weit wie bei einer Band wie Silbermond, die einfach muckermäßig und willenlos rüberkommt. Mit Punk hat so eine Band wie Silbermond definitiv nichts mehr zu tun. Die kommen eigentlich aus einer Mucker-Welt und haben irgendwann einmal etwas von erfolgreicher Independent-Musik gehört. Die haben so ein typisches Leistungsdenken: Das muss alles „tight“ klingen, die Gitarren müssen fett sein, und so was.

Deine Meinung zu den Sachen auf dem “ Aggro Berlin“-Label wie Sido?

Das finde ich sehr lustig und bemerkenswert. Natürlich ist es unerträglich, welche Standpunkte da so vertreten werden. Aber das Tolle daran ist: Im Unterschied zu den Hamburger Hip-Hoppern kommen bei „Aggro Berlin“ wirkliche Prolls zu Wort. Da rückt also eine gesellschaftliche Schicht in die Öffentlichkeit, die vorher in Musikkreisen in Deutschland nicht vertreten war. Inhaltlich wird da der ganz normale Mainstream verteten – die haben genauso viel Scheiße im Kopf wie alle anderen auch.

Rammstein?

Gut finde ich Rammstein nicht, aber sehr interessant. Ich glaube schon, dass die stark an so Sachen wie Laibach geschult sind. Super-Denker sind das wahrscheinlich trotzdem nicht. Neulich abends saßen wir auf dem Hotelzimmer, haben Musikvideos geguckt und irgendwann kam das neue Rammstein-Video. Alle anderen fanden es total scheiße, aber ich dachte: Das ist faszinierend. Eine der ganz wenigen Bands, die eine total rätselhafte Sprache und auch Bildsprache sprechen. Meinen die das jetzt so, wie sie es sagen? Eine erfrischend unauthentische Band. Aber ich finde es scheiße, wenn für Videos Leni-Riefenstahl-Material verwendet wird.

Vielleicht noch eine Gossip-Frage: Hast du in diesem Jahr die Klatschgeschichten um Pete Doherty und Kate Moss verfolgt?

Ich habe ja irgendwann mal angefangen, meine E-Mails mit „Pete Doherthiessen“ zu unterschreiben. Was der so für Musik macht, weiß ich nicht wirklich. Und mit seinem Leben kann er ja machen, was er will. Es ist toll, dass es jemand gibt, der das totale Gegenteil von Sendungen wie „Popstars“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ ist. Da geht es nur um: Disziplin, Disziplin, Disziplin. Das sind eigentlich Militärausbildungsstätten.