Phönix Aus Der Asche


Die Geschichte von Aerosmith ist wechselhaft wie kaum eine andere Karriere im Rockbusiness. Höhenflügen des Erfolgs folgte der Absturz ins Bodenlose. Stets jedoch stieg die Band aus Boston wieder auf wie Phönix aus der Asche. In Berlin zogen Steven Tyler, Joe Perry und Tom Hamilton im ME-Interview eine Zwischenbilanz.

Alle glaubten, die Zeiten, in denen die Toxic Twins Tyler und Perry tatsächlich toxisch waren, seien endgültig vorüber. Da kam im vergangenen Jahr das böse Gerücht auf, daß Steven T. wieder zu Drogen gegriffen habe. „Alles Bullshit“, behaupten Aerosmith heute, und man ist durchaus geneigt ihnen zu glauben. Guter Dinge und bei bester Gesundheit besuchten sie Berlin, wo sich Sänger Steven Tyler, Gitarrist Joe Perry und Bassist Tom Hamilton mit ME/Sounds zum Interview trafen. Während Perry und Hamilton eher überlegt und bedächtig antworten, gibt sich Frontmann Steven Tyler euphorisch. Er hampelt auf dem Sofa herum, klimpert mit dem üppigen Geschmeide und streicht sich dauernd die schon schütteren, grau-rot-blonden Ponysträhnen aus dem Gesicht.

ME/Sounds: Euer neues Album heißt ‚Nine Lives‘. Wieviele Leben habt ihr noch übrig?

Perry: Ich bin schon circa zehnmal gestorben.

…und ebst noch immer.

Perry: Ich habe den Tod überlistet und fühle mich wie ein Zombie – bei diesem Jet Lag. Wir sind ja erst gestern aus den USA hierher nach Berlin gekommen. Tyler: Den Titel für die neue Platte hatten wir ursprünglich ausgesucht, weil der gleichnamige Song auf dem Aerosmith

Gesprächspartnerin: Christiane Rebmann Album ist. Aber dann kamen uns die verschiedensten Bedeutungen in den Kopf.

Zum Beispiel?

Tyler: Wir haben beispielsweise an die Kurzsichtigen gedacht. So nennen wir die, die immer müde abwinken, wenn Aerosmith ein neues Album ankündigen. Dabei sind wir immer wieder wie Phönix aus der Asche gestiegen – wie zuletzt vor zehn Jahren.

Hamilton: Das ist uns schon richtig zur lieben Gewohnheit geworden.

Diesmal ist der Vogel aber um ein Haar nicht wieder hochgekommen. Im letzten jähr habt ihr Steven einen Brief geschrieben, in dem es hieß, er müsse sein Verhalten ändern, wenn er weiterhin mit euch in einer Band sein wolle.

Perry: Wenn wir eine neue Platte aufnehmen, stehen wir wahnsinnig unter Druck. Mit dieser Angst und dem Erfoigsdruck geht jeder von uns anders um. Bloß, Steven kriegt am meisten davon ab, weil er ja unser Frontmann ist. Wir alle haben unsere schlechten Tage. Aber Steven hat ganz offensichtlich mehr davon als der Rest von uns. Tyler: Es stimmt, daß ich an einem bestimmten Punkt die Band verlassen wollte, weil ich den Druck ganz einfach nicht mehr ausgehalten habe. Perry: Wir haben ihm dann einen Brief geschrieben und vorgeschlagen, daß wir uns über die Zukunft der Band unterhalten sollten. Wir wollten nicht, daß dasselbe passiert wie 1979.

Tyler: Da habe ich mir gesagt: Jetzt hab‘ ich’s so weit geschafft, jetzt will ich nur noch eines auf diesem Planeten: für meine Kinder und für meine Band da sein. Das mit den Drogen ist übrigens ein Gerücht. Perry: …das unser ehemaliger Manager in die Welt gesetzt hat, nachdem wir ihn gefeuert hatten.

Warum mußtet ihr schriftlich miteinander kommunizieren? Wäre es nicht einfacher gewesen, direkt mit Steven zu reden?

Perry: Er war einfach zu weit weg. Und zwar physisch, Steven hatte sich nach New Hampshire verzogen, als auch psychisch. Damals ging es uns allen nicht so besonders gut.

Wenn das mit den Drogen nicht stimmt, warum habt ihr euch dann alle zusammen in eine bekannte Entzugsklinik verzogen?

Perry: Ausschließlich, um über die Probleme zu sprechen, die wir miteinander hatten. Wenn in einer Firma etwas schiefläuft, dann wird ein Unternehmensberater hinzugezogen. So ähnlich war das auch bei unserem Klinikaufenthalt. Mit Drogen hatte das nichts zu tun. Außerdem waren wir ja nur zehn Tage dort.

Sind eure Texte aus dem Leben gegriffen?

Tyler: Auf jeden Fall. Auf kleinen Zetteln sammle ich meine Gedanken. Die reihe ich dann aneinander wie Perlen auf einer Kette.

Beziehen sich die Textzeilen „licking up the arsenic from the same old lace, you know the stuff is poison, but you gotta have a taste“ aus dem Song ‚Ain’t That A Bitch 1 auf Drogen?

Tyler: Nein, da geht es um eine sexuelle Begegnung der oralen Art. In meinen Songtexten entfache ich gern einen Sturm im Wasserglas. Du beugst dich drüber, und buff, kommt dir alles entgegen. Aber am Ende ist es eine Frage der Auslegung. Schließlich hat ein Song so etwas wie ein Eigenleben. Der entwickelt sich wie Wein, wenn du ihn aus der Flasche in eine Karaffe gießt. Er atmet und entwickelt Aroma. Wichtiger als das, was ich mir bei einem Song denke, ist also eigentlich das, was du dir als Zuhörerin dabei denkst. Und wenn du nun denkst, es geht da um Drogen, dann ist das in Ordnung. Hamilton: Dieses Thema wird nun mal mit uns in Verbindung gebracht. Wir können dem nicht entgehen. Das ist so eine Art mentaler Musikantenknochen. Man stößt sich dauernd daran, und es tut jedesmal höllisch weh. Unsere Drogenvergangenheit, die Angst und der Druck, unter dem man steht, wenn man eine Platte macht, das alles zusammen läßt uns leicht in Panik geraten: „Scheiße, ich will hier raus, ich kann damit nicht mehr umgehen“ — eben so, wie wir es im Song ‚The Farm‘ beschrieben haben. Da kocht dann alles hoch. Gleichzeitig ist das natürlich eine wichtige Inspiration.

Ist das Vertrauen zwischen euch wiederhergestellt?

Perry: Ich war damals wochenlang täglich mit Steven zusammen. Und ich weiß, daß das mit den Drogen Gerüchte sind. Aber es ist schon erschütternd, wie weit man selbst in einer so tiefen Freundschaft auseinanderdriften kann. Trotzdem: Ich habe Steven immer vertraut, und jetzt sind wir bessere Freunde als je zuvor. Wir haben sogar Sommerhäuser auf derselben Insel. Inzwischen haben wir eben gelernt, Privates von Beruflichem zu trennen. Wenn Steven musikalisch anderer Meinung ist als ich, heißt das doch nicht, daß er ein Arschloch ist, oder daß ich ein Arschloch bin. Der Kreativität tun solche Differenzen sogar gut. Auch Bono und The Edge sind total unterschiedlich. Aber zusammen machen sie tolle Sachen.

Bei den Aufnahmen zur neuen Platte habt ihr zwischendurch mit dem Drummer Steve Ferrone gearbeitet.

Tyler: Ja, weil unser Schlagzeuger Joey Kramer eine depressive Phase hatte, nachdem sein Vater gestorben war. Damals fragte er sich, ob das alles mit der Band noch einen Sinn ergibt. Wenn du so lebst wie wir, mußt du dauernd Prioritäten setzen. Es ist beispielsweise schwierig, eine Ehe zu führen. Wir haben ja kaum Privatleben. Joey fühlte sich plötzlich eingezwängt, weil es hieß, wir haben einen Produzenten, jetzt geht’s an die Aufnahmen. Joey wollte damit zu diesem Zeitpunkt nichts zu tun haben. Und das war auch sein gutes Recht.

Mußtet ihr denn direkt einen Ersatzmann anheuern?

Tyler: Das war sicher eine schlechte Entscheidung. Aber wir wußten ja nicht, wie lange Joey noch krank sein würde. Und das Studio in Miami und Glen Ballard als Produzent waren doch längst gebucht. Hamilton: Statt Steve Ferrone hätten wir auch eine Drum Machine nehmen können. Viele Bands tun das, und keiner merkt’s. Aber bei uns ist es nun mal so, daß die Musik von Hand gespielt wird. Trotzdem: Das Resultat der Aufnahmesessions ohne Joey klang überhaupt nicht mehr nach Aerosmith.

Und wie ging’s dann weiter?

(das me/sounds interview) Hamilton: Als es Joey besser ging, unternahmen wir in New York mit dem Produzenten Kevin Shirley einen neuen Anlauf. Diesmal spielten wir live im Studio und nahmen die Songs im Analogverfahren auf, schnitten also das Material quasi mit der Rasierklinge statt digital mit dem Computer. Wir haben einfach drauflosgeschrammelt. Perry: Nichts gegen Glen Ballard als Produzent, aber die New Yorker Arbeitsweise entspricht einfach mehr dem Aerosmith-Stil.

Und das Resultat?

Perry: Das Ergebnis war wirklich sehr gut. In New York spielte Joey besser als je zuvor.

Tyler: Und jetzt ist Aerosmith wieder unsere gemeinsame Band. Irgendwann sagten wir uns: Wir sind so oft aus der Asche aufgestiegen, wir haben es sogar geschafft, vom Heroin loszukommen. Da können wir uns doch nicht von so einer Lappalie unterkriegen lassen.

Perry: Sony, unsere neue Plattenfirma, hat zum Glück zu uns gehalten. Sie haben uns zeitlich nicht unter Druck gesetzt. Sie waren sogar diejenigen, die uns vorschlugen, nach New York zu gehen und die Songs neu aufzunehmen.

Den Vertrag habt ihr schon 1991 unterschrieben. Warum so früh?

Perry: So was ist nicht unüblich. Unser Vertrag mit Geffen lief aus, und die Leute von Geffen sagten: „Wir glauben nicht, daß ihr das noch mal packt, Jungs. Ihr seid frei. Macht was ihr wollt.“

Apropos „Macht was ihr wollt“: Auf der neuen CD finden sich auch wieder ein paar hitverdächtige Balladen. Nehmt ihr die eigentlich nur deshalb auf, weil sie sich erwiesenerweise gut verkaufen?

Perry: Ich habe vor langer Zeit gelernt, daß Balladen wichtig sind, weil sie im Radio gespielt werden. Ich bin lieber mit einer Ballade im Radio als überhaupt nicht. Außerdem kann ich mich in solchen Songs mit meiner Gitarre mehr ausbreiten. Schon deshalb mag ich die Balladen inzwischen ganz gern.

In ‚Taste Of India‘ haben Aerosmith indische Elemente verbraten. Habt ihr zuviel Kula Shaker gehört?

Hamllton: Das ist der Frust, mit dem man als Musiker leben muß — Kula Shaker bringen eine Platte mit indischen Elementen raus, und sofort heißt es: Sieh an, Aerosmith sind jetzt auch auf diesen Zug aufgesprungen. Dabei haben wir den Titel aufgenommen, bevor das Album von Kula Shaker, das übrigens sehr gut ist, überhaupt veröffentlicht wurde. Tyler: Das Schöne am Musikmachen ist doch, daß es einen immer irgendwohin trägt. Ursprünglich hatte ich ‚Taste Of India‘ auf der Titelmelodie aus der TV-Serie ‚Bonanza‘ aufgebaut — dammdamadammdamadammdamadamm Bonannnzaaa — aber dann fing der Song plötzlich an, ein Eigenleben zu führen.

Wie das?

Perry: Steven fuhr in Los Angeles den Ventura Boulevard entlang und sah über einem Restaurant ein Schild mit der Aufschrift ‚Taste Of India‘ — und das war’s dann. Daß wir irgendwann in diese Richtung gehen würden, lag auf der Hand. Schließlich essen wir alle gern indisch und interessieren uns zudem für die indische Kultur.

Hamilton: Im übrigen sind wir doch alle von den Beatles beeinflußt. Das was sie in Gang gesetzt haben, kommt jetzt zurück. Eine Zeitlang war es aber nicht angesagt, die Beatles zu mögen. Da hieß es nur „Fuck The Beatles“, was ja auch ganz gesund war. Man sollte schließlich nicht nur zu einem musikalischen Gott beten. Aber die Beatles haben nun mal echte Qualität abgeliefert. Und sie waren die ersten, die die asiatische Musik für sich entdeckten. Daß Oasis und Blur angegriffen werden, weil sie sich bei den Beatles bedienen, find‘ ich albern. Sie tun das ja nicht verdeckt. Als Liam Gallagher kürzlich nach seinen Lieblings-CDs aus dem zurückliegenden Jahr gefragt wurde, nannte er die Beatles-Anthologien 1, 2 und 3.

Tyler: Mich hat Donovan beeinflußt. Er hat zwar nur ein paar Alben rausgebracht. Aber schon allein die Zeile (Tyler singt) „Sunshine came softly through my window today“ ist wunderschön. Die hat bisher noch niemand übertroffen.

Hamilton: Wir stellten irgendwann fest, daß wir im Song ‚Ain’t That A Bitch‘ Hendrix zitieren – was ja auch in Ordnung ist. Nun kann es sein, daß uns jemand folgendes vorwirft: „Ey Jungs, ihr habt aus ‚Hey Joe‘ geklaut!“ Bestens! Für mich heißt das nur, daß wir Hendrix Respekt zollen. Er hat uns ungeheuer inspiriert. Wenn wir ihn zitieren, zeigt das doch nur, wo wir musikalisch gesehen herkommen.

Ihr habt unter anderem Desmond Child als Co-Autoren eingeladen. Fällt euch denn nicht mehr genug Eigenes ein?

Perry: Doch, aber das war nicht gut genug. Zusammen mit den Co-Autoren fiel uns mehr ein. Tyler: Früher sind wir mit fünf oder sechs Songideen ins Studio gegangen und haben dort die einzelnen Nummern fertiggeschrieben. Heute schreiben wir mehr als nötig. Diesmal konnten wir aus 26 Songs auswählen – das Geheimnis ist also entdeckt.

Welches Geheimnis denn?

Tyler: Dranzubleiben. Irgendwann werden wir die Songs verwenden.

Hamilton: Am Ende der Produktion war es schwierig, die Songs auszusuchen, die aufs Album sollten.

Werden Entscheidungen im Hause Aerosmith demokratisch gefällt?

Tyler: Eher demokratisch-diktatorisch – jeder hat eine Stimme und brüllt so laut er kann. Am Ende entscheidet aber nicht die Zahl der Stimmen, sondern der, der am lautesten schreit. Das hat aber auch sein Gutes. Immerhin kann ich mir die neue Platte durchgehend anhören, ohne zwischendurch loszuschreien. Früher hab‘ ich spätestens beim dritten Song irgendwas zerschmettert.

Und was hast du beim fünften Song angestellt?

Tyler: Da habe ich mich selbst ins Irrenhaus eingeliefert.

Wie haltet ihr euch fit?

Tyler: Ich reite gern und geh‘ zum Joggen. Bowling gehört auch zum Programm – und Kinobesuche. Ich bin ein Familientyp. Schließlich habe ja noch kleine Kinder, ein fünfjähriges und ein achtjähriges. Sie erinnern mich daran, daß diese Klamotten hier, meine Frisur und der ganze Schmuck im Grunde Bullshit sind.

Deine Tochter Liv macht als Schauspielerin Karriere. Kratzt es an deinem Ego, daß sie inzwischen beinahe berühmter ist als du selbst?

Tyler: Nein, ich bin sehr stolz auf sie. Immer wenn ich mich umdrehe, hat sie wieder einen neuen Film fertig.

Perry: Leider hat sie jetzt keine Zeit mehr, um bei unseren Videos mitzumachen.

Tyler: Ich bin mir inzwischen sicher, daß auch meine beiden anderen Kinder die besten auf ihrem Gebiet sein werden – ob nun als Massenmörder oder als Stars.

Wie heißen eure Helden?

Perry: Arnold Schwarzenegger. Der hat einen guten Schlag drauf – und aus seinem Hobby eine tolle Karriere gemacht.

Hast du Ami denn schon mal getroffen?

Perry: Nein, aber ich bin mit Tom Arnold befreundet, der mit ihm in ‚True Lies‘ aufgetreten ist. Und der hat mir ein Autogramm besorgt.

Auch eure Autogramme sind begehrt – das untrügliche Zeichen eurer enormen Popularität. Aber wie geht’s nun weiter? Was kommt morgen?

Perry: Keine Ahnung. Erstmal drehen wir die Videos zur Platte. Dann gehen wir auf Tournee. Und danach? Wer weiß das schon? Immer wenn wir in der letzten Zeit dachten, daß alles geregelt sei, kam wieder irgendwas Neues und hat uns in den Arsch gebissen. Ich plane nicht mehr lange im voraus – wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann erzähl ihm deine Pläne.

Ihr schreibt gerade an eurer Biographie. Könnt ihr euch denn überhaupt noch an alle Einzelheiten aus eurer wilden Zeit erinnern? Oder sind die Details im Drogennebel verschwunden?

Perry: Ich kann mich an so viele Details erinnern, daß ich mich manchmal am liebsten betrinken würde, um mich bloß nicht mehr daran erinnern zu müssen. Aber selbst Bier ist ja tabu, denn nach dem ersten Glas käme das zweite, dann das dritte und vierte – und dann ruf ich meinen Dealer an. Und genau das kann ich mir nicht leisten.