Dinosaur Jr. – Dinosaur, You’re Living All Over Me, Bug :: Die Band, die Nirvana erfand

Es ist laut. Ohrenbetäubend laut. Der Gitarrist auf der Bühne scheint außerhalb der Zeit zu existieren. Seine langen Haare, die vor Schweiß triefen, die dreckigen Jeans und das karierte Hemd könnten das perfekte Anti-Statement zur herrschenden Mode sein, zu Stachelfrisuren, Bundfaltenhosen und komischen weißen Hüten. Er sagt kaum einen Ton zum Publikum, er blickt auf den Boden der Bühne, während er die Saiten seiner Gitarre quält. Der Bassist mit seinem lockigen Haar und seiner Hornbrille sieht aus wie ein BWL-Student im ersten Semester. Der Schlagzeuger drischt auf die Trommelfelle ein wie ein Tier. Die Ursache für Jahre später diagnostizierte Hörschäden hat ein Datum: Es ist der 27. Oktober 1988. Die „Manege“ in München, ein dreckiges, kleines, schwitzendes Loch von Auftrittsort. Dinosaur Jr. sind gerade mit dem beschäftigt, was sich als ihr vorletztes Deutschland-Konzert in Originalbesetzung erweisen wird. Wir feiern die Rückkehr der Leadgitarre im Rock, ohne Schnickschnack und Macho-Posen, und die Ohren klingeln noch drei Tage später.

Um die musikalische „Revolution“ zu verstehen, die Gitarrist und Sänger J Mascis, Bassist Lou Barlow und Schlagzeuger Murph mit Dinosaur Jr. ausgelöst haben, muß man sich die Zeit vorstellen, in der sie ausgebrochen ist. Anfang bis M itte der 80er Jahre sind die Fronten zwischen Mainstream und Indie noch stark abgegrenzt. Wer Mainstream hören will, kann zum Beispiel zu Howard Jones greifen. Wer das nicht will, hat keine große Auswahl. Hardcore, die schnellere, härtere, aggressivere Variante des Punk, beherrscht den Untergrund – eine eindimensionale Musik, deren Gefühlsspektrum immerhin von Aggression bis Haß reicht. Daß die Grenzen dermusikalischen Übergangsform Hardcore sehr eng gesteckt sind, müssen Mascis und Barlow erkannt haben, als sie im Sommer 1984 ihre Band Deep Wound auflösen und ein paar Monate später mit Dinosaur wieder auftauchen, einer Band, die zwar anfangs noch stark im Hardcore verwurzelt ist, aber nach und nach das vorwegnimmt, was Nirvana, Soundgarden und Weezer zu den bestimmenden der 90er Jahre werden läßt. Sänger dürfen wieder singen statt schreien. Songs dürfen wieder Dynamik haben. anstatt von vorne bis hinten durchzuballern. Texte dürfen wieder Gefühl transportieren, auch wenn das bestimmende die Traurigkeit ist.

Das Debüt DINOSAUR (Bonus: der Live-Track „Does It Float“) von 1985 ist ein noch ungeschliffener musikalischer Diamant, der soundästhetisch mit dem Hardcore Punk verbunden ist, aber formell schon weit darüber hinausweist. Allein der Opener „Forget The Swan“ (der in der Wiederveröffentlichung aus unerfindlichen Gründen an zweiter Stelle des Tracklistings kommt) hat alles, was den Underground-Hardrockvon Dinosaur Jr. ausmacht: starkes Songwriting, New-Wave-Rhythmik, Barlows prägnanten, melodischen Baß, Mascis‘ weinerlichen Gesang, der an Neil Young erinnert, Tempowechsel und Wah-Wah-getränkte Gitarrensoli. Alles in allem aber ist DINOSAUR noch unausgegoren, hat zuwenig richtige Songs (Ausnahmen: „Repulsion“, das lyrische „Severed Lips“, das gewaltige „Quest“, der vielleicht beste Sehnsucht-nach-Liebe-Song aller Zeiten) , kündigt aber bereits an, was da bald kommen würde.

Was dann zweiJahre später kommt, ist YOU’RE LIVING ALL OVER ME ein Klassiker des Gitarrenrock, der den amerikanischen Indie-Rock der folgenden Jahre maßgeblich beeinflussen wird. Vom ersten Wah-Wah-Zischeln im Opener „Little Fury Things“ bis hin zum manischen Fade-Out von „Lose“ (Lou Barlows Proto-Sebadoh-Song „Poledo“ lassen wir hier mal weg) – das zweite Dinosaur-Album ist eine atemberaubende, knapp 36minütige, furiose, splitternde, krachende, verzerrte Fusion aus Noise und Hard- und Indie-Rock und Metal und Pop-Melodien. Dazu: der beste Übergang zwischen zwei Songs in der Geschichte der Schallplatte („Kracked“, „Sludge Feast“). Hinter all dem Krach verstecken sich wunderbare Songs, deren Lakonie von J Mascis mit der gebotenen Larmoyanz vorgetragen wird. Bonus: das Cure-Cover „Just Like Heaven“ (Audio und Video) plus das Video zu „Little Fury Things“.

Der Nachfolger BUG (Bonus: die Videos „Freak Scene“ und „No Bones“) baut 1988 das musikalische Konzept weiter aus. Songs wie „No Bones“, ein weiterer Klassiker im Songkatalog von Dinosaur Jr., kommen noch eine Spur gewaltiger, härter, krachiger, metallischer. Das eingängige „Freak Scene“ entwickelt sich zum mittleren Indie-Hit. Das Folkrock-beeinflußte „Pond Song“ zeigt Mascis‘ Vorliebe für Gram Parsons, „The Post“ klingt wie eine Verbeugung vor Neil Young & Crazy Horse. Und „Don’t“ greift dasThema von „Quest“ wieder auf: Voreiner Wand aus psychedelisch-splitterndem Noise-Rock schreit Lou Barlow wiederholt: „Why? Why don’t you like me?“ BUG ist der Wendepunkt bei Dinosaur Jr. Zum ersten Mal schreibt Mascis alle Songs allein. Die Spannungen zwischen ihm und Barlow, die auf der Bühne zeitweise zu fantastischen musikalischen Duellen führen, wachsen an. Das Ende der Originalbesetzung von Dinosaur Jr. ist nur noch eine Frage der Zeit.

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