Suzanne Vega


Sie hatte die Initialzündung für eine ganze Heerschar junger Singer/ Songschreiberinnen gegeben. Nach drei Jahren Pause schlägt die Urmutter dieses Genres mit ihrem neuen Album DAYS OF OPEN HAND zurück und verweist die Epigonen mit aufwendigen Keyboard-Arrangements und tiefgehenden Kunst-Songs in ihre Schranken. Wie sie auf den Synthesizer kam, warum sie gerne Soldat geworden wäre und wie sie ihren leiblichen Vater wiederfand, erfuhr ME/Sounds-Mitarbeiter Christoph Becker.

ME/SOUNDS: Fast drei Jahre sind seil deinem letzen Album SOLITUDE STANDIMG vergangen. Inzwischen gibt es Singer/ Songwriter-Kolleginnen wie Sand am Meer. Warum hast du als Markenzeichen dieses Genres so lange mit der Antwort auf deine Plagiatorinnen gewartet?

VEGA: „Oh, es kommt mir gar nicht so lange vor. SOLITUDE STANDING wurde 1987 veröffentlich! und ich war ein ganzes Jahr unterwegs, um die Platte zu promoten. mit Interviews und Konzerten. Gegen Ende fühlte ich mich sehr müde und abgeschafft und hmmm … auch ziemlich durcheinander, weil soviel passiert war. Man hatte mich für drei Grammys nominiert – der Rummel hörte einfach nicht auf. Das ging so bis Mitte ’88. Dann brauchte ich einfach eine Pause, ich wurde immer dünner und blasser, stand kurz vor dem Zusammenbruch. Ich habe mich dann einige Monate ganz ausgeklinkt, bis wir mit der Arbeit für die neue Platte begonnen haben, die etwa ein Jahr gedauert hat. Ich bin, um mich überhaupt auf etwas konzentrieren zu können, für einige Zeit nach London gezogen, wo ich weder Freunde noch Familie besitze, die mich hätten ablenken können. Dieses lächerliche Klischee des abgeschlossenen Raumes, der einen zwingt etwas aufs Papier zu bringen, war in diesem Fall genau das Richtige für mich. Ich mußte mich zwingen, mich disziplinieren.“

ME/SOUNDS: Auf dem neuen Album gibt es im Song „Tired Of Sleeping“ die Zeile „It’s just that there’s so much to do and I’m tired of sleeping.“ – Hast Du das Gefühl erst jetzt aus irgendeinem Lebens-Traum aufzuwachen?

VEGA: „Als ich von der Tour nach Hause kam, war ich ziemlich unsicher, was die Zukunft anging. Ich hatte keine neuen Stücke mehr. Ich stand – kreativ betrachtet – vor dem Nichts. Und ich fühlte mich körperlich schlecht. Die Aussichten waren also nicht besonders rosig. Ich schlief viel und träumte lauter verrückte Dinge. Und ich bekam immer mehr Angst davor, wieder aufzustehen und an die Arbeit gehen zu müssen. Es gab eine Stimme in meinem Ohr, die mir sagte: „Suzanne, du hast keine Verpflichtung eine neue Platte zu machen; mach was anderes.“ Ich hatte genügend Geld und einen Platz zum Leben gefunden. Also wozu weitermachen? Doch dann dachte ich: „Das ist aber nicht besonders tapfer…“

ME/SOUNDS: Ist das wirklich eine Frage von Tapferkeit?

VEGA: „Ja, ich glaube, daß es im Leben drauf ankommt, sich zu entwickeln. Es ist sinnlos, den ganzen Tag nur herumzusitzen und zu warten, was auf einen zukommt. Man muß selbst die Initiative ergreifen. Ich habe dann versucht, eine Art Erfolgs- und Verlustrechnung für mein persönliches Dasein aufzustellen. Habe mir überlegt: Was hast du. was hast du nicht? Und da stellte ich fest, daß sich in den letzten Jahren viele meiner früheren Träume erfüllt hatten. Ich kann finanziell sorgenfrei leben, kann meine Musik ohne Abstriche oder Zugeständnisse machen, habe meinen Freund, meine Familie. Es geht mir gut. Vielleicht kann man diese Erkenntnis als eine Art Erwachen bezeichnen. Vielleicht deshalb dieser Text in ‚Tired Of Sleeping‘. Ich sage vielleicht, denn Einiges verstehe ich selbst noch nicht. Dieses Stück berührt mich sehr, wenn ich es singe, ohne genau zu wissen warum. Ich entdecke meine eigenen Songs mit der Zeit. Lerne sie kennen und verstehen. Das ist wie eine Therapie.“

ME/SOUNDS: DAYS OF OPEN HAND klingt experimenteller als deine bisherigen Platten – du benutzt Streicher, mehr Keyboards, klangliche und rhythmische Effekte und weniger Gitarre. Ist das deine Antwort auf den aktuellen Akustik-Trend?

VEGA: „Als wir noch an SOLITUDE STANDING arbeiteten, hörte ich viel Peter Gabriels SO. Seine Songs bewegten mich sehr. Es sind … naja, es sind keine Folk-Songs. aber es sind persönliche Lieder. Und ich fand sie sehr poetisch. Mir gefiel der Aufbau, der Rhythmus. Ich hörte die Platte oft nachts in meinem Zimmer und tanzte dazu. Irgendwann habe ich mir dann einen Fairlight Synthesizer gekauft, um zu experimentieren. Ich dachte, ich könnte auch wie Peter Gabriel, Sting oder Kate Bush klingen. Aber natürlich klappte es nicht. Und ich merkte, daß ich doch lieber eine echte akustische Gitarre hören wollte als einen Synthesizer, der klingt wie eine akustische Gitarre. Trotzdem war die Erfahrung mit dem Fairlight sehr gut, denn ich denke jetzt musikalisch anders. An den Tasten eines Keyboards lernt man, die Beziehungen zwischen den Noten zu sehen.“

ME/SOUNDS: Du hast als anderen wichtigen Einfluß einmal Lou Reed genannt.

VEGA: „Ja, das war früher so. Musikalisch betrachtet, schwebt mir wohl die Kunst von Peter Gabriel vor. vielleicht auch ein wenig Brian Eno. Aber was die Texte angeht, wollte ich etwas anderes versuchen. Wenn du einen Text schreibst, kannst du dich nehmen, so wie Lou Reed. Er erzählt Geschichten über wahre Personen in einer wahren Welt, die wahre Dinge tun. Und dann gibt es Lieder wie … nimm John Lennon mit seiner sehr surrealistischen Art. Du nimmst Bilder und stellst sie gegenüber, um einen bestimmten Effekt oder eine bestimmte Stimmung zu erreichen. Mein großes Vorbild Leonard Cohen macht das auch so. Ich hatte das Gefühl, daß mich die rein beschreibenden Erzählstrukturen einschränken; ich wollte surrealistischer schreiben, um mehr Gefühl in meine Texte zu legen. Ich habe den Erzähler weggelassen und auf die Wirkung gewartet, die eintritt, wenn man die Bilder einfach losläßt. Meine Texte ergeben so in der Realität keinen Sinn. Nur im Traum, in der Traumwelt des Liedes ist die Intention der Wörter erkennbar.“

ME/SOUNDS: Das heißt, daß viel mehr von dir in den Figuren steckt, von denen du singst?

VEGA: „Ja, genau. Die Charaktere sprechen nicht mehr so stark für sich, sondern eher für mich.“

ME/SOUNDS: Früher hast du in deinen Songs oft die Schwierigkeit besungen, sich mit anderen Menschen auszutauschen, die Probleme, sich so auszudrücken wie man möchte. Kann man sagen, daß es auf DAYS OF OPEN HAND vor allem um Träume geht?

VEGA: „Es ist sicherlich eines der wichtigsten Themen. Obwohl es nicht die Träume an sich sind, vielmehr die Art und Weise, wie Träume Verborgenes ansprechen.“

ME/SOUNDS: Schreibst du deine Träume auf?

VEGA: „Wenn sie mir interessant erscheinen; wenn sie mir etwas erzählen, was ich nicht verstehe.“

ME/SOUNDS: Analysierst du sie?

VEGA: „Manchmal, aber nicht eingehend. Ich weiß nie, was sie wirklich bedeuten. Ich sehe sie mehr, wie ich einen Film sehe, (lacht) Sehr unterhaltsam. Und manchmal anregend.“

ME/SOUNDS: Bist du überhaupt noch daran interessiert, daß der Hörer mit deinen Texten etwas anfangen kann, oder läßt du deine persönliche Musiktherapie als Platte pressen?

VEGA: „Ich will schon, daß mich die Leute verstehen. Egal ist mir das nicht. Doch man muß schon der Perspektive eines Songs ein Stückchen folgen. Ich glaube, daß ist nicht sehr schwer. Ich gebe viele Schlüssel. Nimm das Stück .Institution Green‘. Mir erschien der Text völlig klar. Es ist ein Stück über Bürokratie. Trotzdem fragten mich viele, ob ich die Psychiatrie beschreibe. Die Offenheit dieses Songs für unterschiedliche Interpretationen finde ich faszinierend. Jeder findet seinen eigenen Zugang.“

ME/SOUNDS: Bist du eigentlich stolz, so etwas wie die Initialzündung für die weibliche Singer/Songwriter-Bewegung zu sein ?

VEGA: (lacht) „Hmm, das ist eine seltsame Frage, weil dieser Boom an mir vorbeigegangen ist. Meine Erfahrungen waren anders. Ich spielte Gitarre und sang dazu. Und wenn ich zu den Plattenfinnen ging, sagten die zu mir: ,Wir wollen keine Folk-Sängerinnen. Denn die haben keine kommerziellen Erfolgsaussichten.‘ Ich erhielt zufällig meinen Vertrag bei A&M, nachdem in der „New York Times“ eine tolle Kritik über eines meiner Konzerte gestanden hatte. Eher widerwillig gaben sie mir dann die Möglichkeit eine Platte aufzunehmen. Weil kein Mensch an einen Erfolg glaubte, ließen sie mir völlige Narrenfreiheit, was Sound, Image oder Cover betraf. Auf einmal brach dann mit MARLENE ON THE WALL der große Erfolg über mich ein. Und bis zur zweiten Platte ging es dann rasend schnell weiter. Plötzlich, ich komme von der Solitude Standing-Tour zurück, sehe und höre ich lauter Frauen, die eigene Platten machen. Das war eine Überraschung. Doch ich habe nicht das Gefühl, für all jene Sängerinnen ein Tor aufgestoßen zu haben. Obwohl dieser Gedanke natürlich sehr schmeichelhaft wäre.“

ME/SOUNDS: Möchtest du dich mit DAYS OF OPEN HAND aus der Singer/Songwriter-Ecke verabschieden?

VEGA: „Auf jeden Fall. Ich habe mich auch nie so gesehen. Es waren Journalisten, die mir den Stempel aufgedrückt haben. Immer wurde ich in irgendwelche Schubladen gesteckt; zuerst hieß es, ich sänge wie Joni Mitchell, später wurden andere Kategorien gesucht. Ich frage mich manchmal: Woher wissen die Journalisten das alles? Zum Beispiel, daß ich schüchtern sei… ich glaube nicht, daß ich schüchtern bin, zurückhaltend vielleicht, aber nicht schüchtern. Ich habe auch nie versucht, die Anführerin einer neuen Folk-Bewegung zu sein. Ich möchte einfach eine gute Künstlerin werden.“

ME/SOUNDS: In unserem Gespräch vor drei Jahren sagtest du, daß du eine bessere Performerin werden wolltest VEGA: „Ja, das ist immer noch so. Auf der letzten Tour habe ich gelernt, nie zu vergessen, daß ich auf einer Bühne stehe und eine Show mache. Die Leute kommen, um etwas Außergewöhnliches zu sehen. Es ist Unsinn, so zu tun, als wäre es normal, vor einigen Tausend Menschen zu stehen und Musik zu machen. Ich bin isoliert, bin gezwungen zu unterhalten. Eine Show muß aber Sinn ergeben. Es wäre lächerlich, würde ich über die Bühne hüpfen wie Paula Abdul. Meinen Kontakt zum Publikum bekomme ich anders.“

ME/SOUNDS: Durch Stille?

VEGA: „Ja, das glaube ich. Als ich anfing zu spielen, war es die Zeit des Punk, 1979. Die Musik war schnell und laut und nirgends gab es Stille. In meinen ersten Konzerten bin ich auch durch das Programm gerast, habe kurze Ansagen heruntergehechelt und gehofft, das sei aufregend. Irgendwann habe ich aber gemerkt, daß meine Musik durch Pausen und Stille lebt und nicht durch Lautstärke und Geschwindigkeit.“

ME/SOUNDS: Poltern ist ja auch eher Männersache. Trotzdem – bei dem Song „Men In A War“ war ich sehr überrascht über die Darstellung der Männer, der Soldaten. Keine Anklage oder Bitterkeit.. .

VEGA: „Ich habe viel gelesen über Männer, die in den Krieg ziehen mußten. Komischerweise fasziniert mich die Idee, Soldat zu sein. Deshalb tauchen Soldaten in vielen meiner Texte auf. Es ist vor allem die Idee, daß du dein Leben für die Pflicht, sei es für dein Land oder etwas ähnlich Abstraktes geben mußt. Eine ähnliche Erfahrung wie gegenüber einer übergeordneten Bürokratie. Du bist nicht du selbst. Tusl nur noch deine Pflicht und verlierst deine Individualität. Das ist eine Erfahrung, die ich selbst oft gemacht habe. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich morgens aufwachte und das Gefühl hatte, daß ich meine Pflicht erfülle…“

ME/SOUNDS: Diszipliniert?

VEGA: „Ja genau, diszipliniert. Es ist der Gedanke, nicht tun oder lassen zu können, was man will. Du rechtfertigst dich auf eine Weise, die dir eigentlich fern ist – durch die Pflicht. Als Kind war ich oft für meine beiden kleineren Geschwister verantwortlich, weil meine Eltern beide arbeiten mußten. So habe ich früh erfahren, was es heißt, durch den Tag kommen zu müssen. Ich war zu Hause immer diejenige, die die Dinge in Ordnung bringen mußte. Da war ein ständiges Gefühl wie: ,Ich darf nicht daran denken, wie ich mich fühle. Ich muß tun, was ich tun muß: Wie ein Soldat. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich immer eine Art Uniformjacke an, und darauf war das Bild einer Frau mit Baby unter einem Arm und Gewehr unter dem anderen; eine vietnamesische Frau. Das ist das Symbol meiner Jugend.“

ME/SOUNDS: Ich habe gehört, daß du inzwischen deinen leiblichen Vater getroffen hast?

VEGA: „Ich hatte ihn seit meiner Geburt nicht mehr gesehen. Denn meine Mutter hat einen anderen Mann geheiratet. Seit ich davon wußte, daß mein .Vater‘ nicht der Mann ist, der mich gezeugt hat. wollte ich meinen wahren Vater treffen und kennenlernen. Es war dann eine seltsame Erfahrung, das Gefühl einer grundsätzlichen Anerkennung deines Selbst. Du siehst einen Fremden, sein Gesicht, dein Gesicht… wir haben uns stundenlang angestarrt.“

ME/SOUNDS: Wie hast du ihn gefunden?

VEGA: „Schon 1978 hatte ich einen Detektiv engagiert. Ende letzten Jahres erhielt ich dann endlich eine Adresse. Ich schrieb ihm eine Postkarte. Er rief mich irgendwann an. Und ich fuhr nach Kalifornien, um ihn zu sehen. Ich verbrachte das Wochenende bei ihm. Den ganzen ersten Tag haben wir uns angestarrt, um Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu finden. Ich verstehe meinen Körper jetzt viel besser. Wenn ich weine, bekomme ich immer große, rote Punkte im Gesicht. Endlich verstehe ich meine Haut, denn seine Haut reagiert genauso. Gerade an so kleinen Dingen stellst du dann fest, das ein anderer Mensch auf der Erde so ist wie du. Das ist sehr existentiell. Ich schaue meinen Körper an und sehe die zwei Teile; hier meine Mutter, dort mein Vater. Ich fühle mich jetzt komplett.“

ME/SOUNDS: Und jetzt weißt du endlich, woher du dein Talent geerbt hast?

VEGA: „Ja, es war überraschend, ihn Klavier spielen zu sehen. Er hat eine natürliche Begabung. Obwohl er kein professioneller Musiker ist, sieht und hört er vieles. Das Unglaublichste ist: Seine Mutter, meine Großmutter also, war Schlagzeugerin in einer reinen Frauenband in den 30er Jahren. Als er mir das sagte und Fotos zeigte, alte verblichene Schwarz-Weiß-Abzüge, durchzuckte es mich: „Mein Gott, das ist doch alles ganz klar!“ Kein Wunder, daß ich mit 15 Jahren anfing, auf der Gitarre zu klimpern, Sängerin werden wollte und es tatsächlich geschafft habe, wurde viel selbstverständlicher. Denn mein Vater kann spielen und selbst meine Großmutter war Musikerin. Da muß wohl etwas im Blut liegen.“