Die Beatles unserer Generation


Es waren nur fünf Jahre in den Achtzigern. Die Phase zwischen Punk und Techno. In dieser kurzen Zeit haben The Smiths aus Manchester die britische Gitarrenmusik geprägt wie keine andere Band. Bis heute schwebt das geniale Songwriter-Duo Morrissey und Johnny Marr über dem Sound der Indie-Generation. Ihr Vermächtnis: Melodien, Melancholie und ein neuer Typ Mann

Natürlich hatte er sich sofort in das Mädchen verliebt. Dafür brauchte es nur einen einzigen Augenblick. Sie hatte dem Chef an ihrem ersten Arbeitstag als Assistentin eine Telefonnachricht in den Konferenzraum gebracht, wo alle beieinander saßen. Schon bevor der Chef sie auch nur vorgestellt hatte, war Tom Hansen in Summer Finn verliebt. Es fehlte nur noch ein echter Wink des Schicksals, den man unmöglich missdeuten konnte, weil er so total und vollkommen wäre. Tom Hansen, der schon als Teenager traurige, englische Popmusik gehört hatte, würde nicht glücklich werden im Leben, bis er die eine träfe, seine große Liebe.

Später im Aufzug sagte das Mädchen: „I love The Smiths.“ Er aber verstand nicht, was sie sagte. Weil er die dicken Kopfhörer noch aufhatte. Klassischer Idiotenmoment. Er zerrte sich die Muscheln von den Ohren und fragte: „Sorry?““I said I love The Smiths“, wiederholte sie. Aus seinen Kopfhörern schallte es leise krächzend: „And if a double-decker bus crashes into us, to die by your side is such a heavenly way to die …““You have good taste in music“, sagte sie nun, und zur Sicherheit fragte er noch mal nach: „You like The Smiths?“ „Yeah.“

Jetzt sang sie mit, ein bisschen schief oder eben: genau richtig schief. „,To die by your side is such a heavenly way to die …‘ – I love ‚em.“ Dann machte es ping, die Aufzugtür ging auf, sie trat ganz selbstverständlich und sehr schnell heraus aus dem Lift, während er wie vom Donner gerührt stehen blieb, regungslos. Da war er also, der göttliche Fingerzeig: The Smiths.

Summer Finn würde Tom Hansen zum glücklichen Mann machen, endlich. Aber nur für 500 Tage. Denn jeder Kinozuschauer weiß in diesem Moment bereits, wo „(500) Days of Summer“ aus dem Jahre 2009 erst zehn Minuten läuft: Es wird nicht gut gehen, Summer wird Tom verlassen. Dabei ist „(500) Days of Summer“ der perfekte Liebesfilm. Weil er die Liebe von Summer Finn und Tom Hansen vom Anfang und vom Ende zugleich her denkt und als die Erinnerung erzählt, zu denen fast alle Beziehungen heute irgendwann werden. So sehr Verliebte das auch zu verdrängen imstande sind, nur die wenigsten scheidet der Tod, sondern das Leben. So sind sie halt, die Menschen, und kaum irgendwo wurde die Vergeblichkeit ihrer Existenzen so schön und trist besungen wie in Smiths-Songs.

The Smiths: gegründet Anfang des heiligen Popjahres 1982 in der heiligen Popstadt Manchester von Steven Patrick Morrissey, Gesang, und Johnny Marr (eigentlich John Maher), Gitarre; das, wie es später hieß, womöglich talentierteste, bestimmt aber produktivste Songwriterduo nach Lennon/McCartney, was aber schon etwas übertrieben war, doch was wurde nicht übertrieben bei den Smiths. Das Manchester in jenen Tagen war eine graue, heruntergekommene Ex-Industriestadt, die auf bessere Zeiten wartete. Als Morrissey viele Jahre später für eine britische TV-Dokumentation die alten Stätten seiner Kindheit abschreitet, verfällt er in eine tiefe Melancholie, spricht von sadistischen Schulen und seiner Flucht in die Literatur.

Zu Morrissey und Marr gesellten sich im Herbst 1982 als Rhythmusmusiker Mike Joyce, Schlagzeug, und Andy Rourke, Bass, die wichtig waren für das Bandgefüge und den speziellen Sound. Ansonsten eher unspektakulär, sieht man von Rourkes Drogen-Eskapaden ab.

Auch die zuvor mal engagierten Simon Wolstencroft und Dale Hibbert sowie der zwischenzeitliche Rourke-Ersatz Craig Gannon gingen nicht in die Geschichte ein als fünfter, sechster, siebter Smith, dafür waren ihre Rollen einfach zu undramatisch.

Vier reguläre Studioalben und erstaunliche 18 Singles erschienen während der Existenzzeit der Band (und zwei danach), Welthits gab es keine, noch nicht mal eine Single-Nummer-eins in Großbritannien; danach kamen noch ein Livealbum und bis heute neun offizielle Best-of-Alben. Aufgelöst hatten sich die Smiths im Spätsommer 1987, nachdem es zwischen Marr und Morrissey zum Zerwürfnis gekommen war, dem letzten in einer offenbar ganzen Kette von Streitereien, und Marr im Juli 1987 die Gruppe offiziell verlassen hatte. Ende, nach ziemlich genau 2 000 Tagen Smiths. Warum beschäftigen sie uns dann noch heute?

Songtitel für die Ewigkeit

In einer Rückblende von „(500) Days of Summer“ sieht man in die Kinderzimmer von Tom und Summer, da muss es etwa Mitte der neunziger Jahre sein; bei Tom hängt das Cover des Debütalbums The Smiths von 1984 an der Wand, bei Summer das des zweiten Albums Meat Is Murder von 1985; sie haben gemäß der Filmhandlung The Smiths also erst viele Jahre nach deren Split 1987 zum ersten Mal gehört. Dass die Anfangs-, ja Erkennungsmelodie ihrer Liebe später „There Is A Light That Never Goes Out“ sein wird – das ist vielleicht kein göttlicher, aber schon ein popkultureller Fingerzeig. Besitzen die Smiths also tatsächlich eine bleibende überzeitliche Bedeutung, auch für Nachgeborene, die Nachwelt?

Man konnte da lange Zweifel hegen. Besonders als jemand, der in den Jahren zwischen 1982 und 1987 selbst ein Teenager war, der traurige englische Popmusik hörte; der Zeuge geworden war der immensen Wirkung der Smiths auf einen begrenzten Fan-Kreis, in Deutschland verkauften sie im Gegensatz zu Großbritannien ja nur in Independent-Kreisen ihre Platten; und wie plötzlich diese Wirkung verpufft schien danach.

Es war, als hätten die Smiths nichts hinterlassen, was andere musikalisch fortführen hätten wollen; als hätten sie nicht mal ein Testament gemacht, das andere hätten vollstrecken können; als hätte sich nicht nur die Band, sondern mit ihr auch all ihre Musik aufgelöst, spurlos. Was sichtbar blieb, waren die unendlich vielen Schlagzeilen in englischsprachigen Magazinen, die sich der Songtitel und Lyrics der Smiths später bedienten, sie zitierten und parodierten, „This Charming Man“, „How Soon Is Now?“, „That Joke Isn’t Funny Anymore“, „Bigmouth Strikes Again“, „Some Girls Are Bigger Than Others“ und immer so weiter. Eine Weile noch hörte man auf Tanzflächen, wenn irgendwem die Musik nicht gefiel, wie der dann den Schlachtruf aus „Panic“ skandierte, „Hang the DJ! Hang the DJ! Hang the DJ!“, aber auch das hörte bald auf, und es dauerte dann bis 1996, bis es eine erste neue Band gab, die sich ungebrochen und ganz offensichtlich auf das Smiths-Erbe bezog, Belle and Sebastian.

Nach dem Epochenbruch

Diese zunächst ungeheure Verpuffung der Smiths nach ihrem Ableben hatte wohl nicht nur, aber zunächst vor allem mit dem Epochenbruch zu tun, der sich schon knapp ein Jahr nach dem Smiths-Split ankündigte mit dem „Second Summer of Love“ in Großbritannien. „Madchester“ und Rave: Gerade aus der Heimatstadt der Smiths kamen plötzlich Gitarrenmusik und Indie-Pop mit richtigen Dance Beats, die Songs von Morrissey/Marr klangen 1988 mit einem Schlag unendlich altmodisch, und als der Hype um „Madchester“ und Rave von dem um Acid House gleich überholt wurde, klangen auch Gitarrenmusik und Indie-Pop mit richtigen Dance Beats bald unendlich altmodisch.

Am Beispiel der Stone Roses und ihres Frontmanns Ian Brown konnte man spekulieren, was mit den Smiths hätte passieren können, wenn es sie nach 1987 weiter gegeben hätte und sie in den Rave-Sog gezogen worden wären: Aus einer relativen Smiths-Kopie wurde mit „Fool’s Gold“ aus den Stone Roses kurz die Tanzband der Stunde, bevor sie rasch wieder in der Obskurität verschwand. Auch dezidierteren Popgruppen wie The Style Council, ABC und The Blow Monkeys, die House um 1988 und 1989 für sich entdeckten, weil dies da tatsächlich als unbedingter Nachweis der eigenen Zeitgenossenschaft galt, bekam das nicht sonderlich gut; sie wurden bald von einer noch viel gewaltigeren Welle fortgespült, man nannte sie: Techno.

Den Schock, den erst Rave und dann Techno auslösten, musste man auf dem Dancefloor selbst erlebt haben, sonst hätte man es nicht geglaubt, bis heute nicht: Wie ein Großteil der kontinentaleuropäischen Clubs, in denen zuvor im Prinzip alles und nichts zusammen lief, Indie-Gitarrenmusik wie die der Smiths, New-Wave-Ausläufer, Electronic Body Music, HipHop, House, plötzlich mit Nebel und Stroboskoplicht geflutet wurden und eine Art Massenpanik einsetzte, die das Clubpublikum binnen weniger Monate zu großen Teilen austauschte. Eine halbe Ausgehgeneration floh vor Techno und kam nie wieder. Während draußen, in der Welt, sich die politische Zeitenwende ereignete und der Kalte Krieg zu Ende ging, vollzog sich drinnen, in den Clubs, eine in dieser Totalität bis heute letzte Revolution der Popkultur. Techno fragte: „Bist du für mich oder gegen mich? Kommst du mit in die Zukunft oder bleibst du zurück?“ Niemand konnte diesen Fragen ausweichen. Techno zwang einen, sich zu ihm zu verhalten.

Erst Mitte der Neunzigerjahre, mit dem Aufkommen des Brit-Pop-Hypes, konnte man die Smiths ansatzweise wieder hören, ohne gleich zu denken: Das ist alles so irre überholt. Im Jauchzen von Jarvis Cocker und Damon Albarn konnte man die Spuren suchen, die Morrisseys Gesangsstil womöglich doch hinterlassen hatte, und in den leiseren Momenten des Gitarrenspiels von Noel Gallagher das von Johnny Marr nachhallen merken. Und doch blieb der Hauptvorwurf gegen den Brit-Pop, er sei bloß restaurativ; das laue Aufwärmen des eben doch Vergangenen. Auch das war ein mittelbarer Kollateralschaden von Techno, denn ungebrochen war damals noch die popkulturelle Fortschrittsgläubigkeit, die sich Techno als die vermeintlich modernstmögliche Musikform der Gegenwart und Zukunft vorstellte.

Der Wimp und die schönen Mädchen

Um die Überzeitlichkeit der Smiths zu verstehen, muss man paradoxerweise noch viel weiter zurückspringen in der Zeit, nicht nur in den popästhetischen, sondern auch den politischen und den zeitgeistlichen Kontext Mitte der Achtzigerjahre. In Großbritannien regierte seit 1979 Margaret Thatcher, in den USA seit 1981 Ronald Reagan, in Westdeutschland seit 1982 Helmut Kohl; drei konservative Regierungen, die ersten beiden davon mit einer marktradikalen Reformagenda, produzierten als Nebenwirkung diverse neue kulturelle Stereotypen wie etwa den Yuppie. Der young urban professional war geschlechtsübergreifend ein hedonistisches, heterosexuelles Wesen, dessen Lebensinhalt in beruflichem Aufstieg und exzessivem Konsumverhalten bestehen sollte; seine eher jugendkulturellen Unterstereotypen waren der da bereits revivalte Preppie und, in Deutschland, der Popper, wobei diese beiden im Gegensatz zum Yuppie von seinen ursprünglichen Vertretern mal ironisch gedacht waren, sie aber allgemein anders verstanden wurden – alle drei wurden so zu ausgemachten Hassfiguren, weil sie vermeintlich die ganze hohle Kaufrausch-Obszönität des Zeitgeistes repräsentierten.

Nun war es aber so, dass zu jener Zeit um 1982, 1983 auch die jugend- und subkulturellen Widerstandsgesten dagegen hohl geworden oder missverständlich waren: Punk war wirklich schon tot, der linke Terrorismus tötete ganz real, die Anzug-Marxisten des Pop-Jahrgangs ’82, Heaven 17 und ABC etwa, wurden – ob sie’s wollten oder nicht – auch von Yuppies gehört (die ihre Texte überhörten und Posen als solche nicht verstanden), und alles, was es sonst noch gab, Öko-Bewegung und Heavy Metal vor allem, war bloß geschmacklos. Wer um 1982, 1983 jung war, richtig jung und voller Sehnsucht und Abgrenzungsbedürfnis, suchte einen dritten Weg. Die Smiths erst beschritten ihn.

Die Musik und die Texte waren, manchmal auch nur auf der Oberfläche: zutiefst romantisch, zutiefst innerlich, zutiefst verträumt, zutiefst traurig, zutiefst literarisch, zutiefst individualistisch, zutiefst weltabgewandt, zutiefst eskapistisch. Man konnte plötzlich gegen alles sein, indem man nirgendwo mitmachte, sich nicht scherte, sich verabschiedete, sich nicht stellte, nicht dem Wettbewerb um die beste Weltrettungsidee, nicht dem Wettbewerb um die coolsten Klamotten, nicht dem Wettbewerb um den zukünftig besten Job. Denn man konnte ja Oscar Wilde zitieren.

Der Ich-Erzähler in Morrissey-Texten, so jedenfalls war die wahrscheinlichste jugendliche Lesart, hatte sich selbst sozusagen schon vorm Start ins Rattenrennen Leben verloren gegeben und zurückgezogen – in die Welt seiner romantischen Gefühle, die selbstverständlich von niemandem erwidert wurden, von dem er es erhoffte: dem schönen Mädchen, dem dünnen Jungen. Selbst wenn dieser Rückzug nur symbolisch war und aus Angst vorm Verlieren geschah, konnte man darin doch einen Märtyrer-Akt erkennen. Morrissey gab sich für uns Teenager hin, sein existenzieller Ruf nach Rettung war unserer, doch die Liebe, die uns alle hätte retten können, gab es nicht. Seinen Welthass würzte Morrisseys Ich-Erzähler mit Arroganz und manchmal auch nur mit Ironie, er war ein Bescheidwisser, ohne dass ihm das Bescheidwissen was nutzte, er es nutzte; er war ein Danebensteher, der sich mit Tränen panzerte. Und wir durften mitweinen. Um uns selbst.

Im zeitlichen Kontext der Mittachtziger nannte man die Smiths-Affinen unter ihnen Wimps, ein jugendkultureller Stereotyp, der sich so wenig durchsetzte wie die Smiths letztlich als kommerzielle Band. Er bekam aber doch schon damals eine ikonische Filmfigur geschenkt, von John Hughes, dem wohl größten aller Jugendfilmmacher: Cameron Frye, der traurige beste Freund von Ferris Bueller, dem Jungen, dem alles gelingt und alles zufliegt, das schönste Mädchen, die größte Beliebtheit.

Eine der schönsten, traurigsten Szenen von „Ferris Bueller’s Day Off“ („Ferris macht blau“, 1986, die ultimative Jungsfantasie als Kinofilm) spielt im Art Institute of Chicago. Hughes war als Junge selbst oft in diesem Museum gewesen, um seine einsamen Tage zu verträumen. Da wäre er natürlich gern ein Ferris Bueller gewesen, doch er war ebenso natürlich: ein Cameron Frye.

Letzteren also stellt John Hughes nun allein vor das drei mal zwei Meter große Gemälde „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“ des Pointillisten Georges Seurat aus dem Jahr 1884. Im Film folgt nun Schuss auf Gegenschuss, Cameron und das Gemälde, das immer näher herangezoomt wird, und weil es eben in pointillistischer Technik gemalt wurde, verschwimmt es immer mehr vor den Augen des Betrachters, je näher es herangezoomt wird – bis nichts als undeutliche Farbtupfer übrig bleiben. Und genau das ist die größte Angst des Teenagers Cameron Frye in diesem Moment: dass er wie dieses Mädchen auf dem Bild sei, je genauer man ihn betrachte, umso undeutlicher werde er. Bis man sehe, dass da in Wirklichkeit gar nichts ist. Dass Cameron Frye, der Romantiker seiner eigenen Traurigkeit, tatsächlich eine Leerstelle ist.

Und auf der Tonspur dieser Filmszene läuft, während gleich nebenan Ferris das schöne Mädchen Sloane Peterson küsst, in einer Instrumentalversion von The Dream Academy: „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“ von den Smiths.

Cameron Frye ist ein ganz normaler Teenager auf der Schwelle zum Postadoleszenten, der unter den in diesem Alter typischen Symptomen leidet; und unter der Nichtbeachtung durch seine finanziell begüterten Eltern; und unter der Abwesenheit von Liebe durch ein Mädchen, eine Frau. Sein Leid ist ein ganz ähnliches wie das des um einiges älteren Tom Hansen aus „(500) Days Of Summer“. Er wartet darauf, dass jemand ihn erkennt; er wartet auf seine Rettung. Dieses Leid in Musik übersetzt zu haben: darin genau besteht das Überzeitliche, die bleibende Wirkung der Smiths. So einfach ist das. Auch wenn es so schwer zu erklären ist.

Mann ohne Geschlecht

Dass die Wirkung der buchstäblichen Selbstwiedererkennung in Smiths-Songs sich nicht nur auf Jungen und Männer beschränkt, sondern auch auf Mädchen und Frauen, dass es also auch eine Summer Finn geben kann: Das hat vermutlich am wesentlichsten mit der Figur Morrissey zu tun und ihrer zumindest zu Smiths-Zeiten höchst ambivalenten sexuellen Aufladung. Morrissey, der ja, das war die wohl berühmteste Anekdote, mal als erwachsener Mann behauptet hat, er sei noch Jungfrau, hat sich allen geschlechtlichen Zuschreibungen entzogen. Beziehungsweise: fast alle möglichen irgendwann mal benutzt. Gesang, Performance, Selbstinszenierung forderten den weiblichen Teil seines Publikums nicht bloß zur üblichen Anhimmelung auf und den männlichen Teil nicht bloß zum üblichen Kumpeln. Alle und niemand konnte Morrissey sein.

Nicht nur in der Beziehung führt eine halbwegs gerade Linie von David Bowie über Steven Morrissey und Brett Anderson bis zu Pete Doherty (und immer weiter): Sie gehören keinem Geschlecht an und allen zugleich, sie legen sich da nicht fest, nur in ihrer demonstrativen Uneindeutigkeit. Deshalb sind sie vergleichsweise emanzipative Popstarfiguren schon deshalb, weil sie jeden zur Identifizierung mit sich einladen und niemanden ausschließen, außer vielleicht diejenigen heterosexuellen Männer, die sich nicht vorstellen können, jemals einen anderen Mann begehren oder lieben zu können.

„Weinerlichkeit“ war denn auch der wiederkehrende Hauptvorwurf an die Smiths, der ihrer Musik und ihrem Frontmann so implizit Unmännlichkeit unterstellte; ein Vierteljahrhundert und ein paar Männlichkeitsbilder später wirkt er fast lächerlich. Doch damals, gleichsam in heterosexuelleren Zeiten, trug er womöglich dazu bei, dass viele Jungen sich lieber nicht von anderen Jungen beim Smiths-Hören erwischen ließen.

Umso uninteressanter war dann später, was der Solokünstler Morrissey als Rockabilly-Darsteller, Crooner-Darsteller und weiß der Teufel was sonst noch anstellte und bis heute anstellt, seine gelegentlichen Interviewaussagen zu Gott und Vaterland eh beiseitegelassen. Dass Johnny Marr musikalisch experimentierfreudiger sein würde, war schon beim Split der Smiths absehbar, da beklagte er sich bereits öffentlich über den seiner Meinung nach eklatanten künstlerischen Starrsinn Morrisseys.

Doch das alles kam eigentlich nicht überraschend. Es ist bloß ein weiterer göttlicher Fingerzeig für die ewige Annahme, dass auch die größten Bands, zudem wenn sie vom kongenialen Zusammenwirken zweier eigensinniger Köpfe abhängen, nur eine begrenzte Zeit haben, zu sagen, was sie zu sagen haben; danach folgt bestenfalls nur Wiederholung, schlimmstenfalls Selbstdemontage. Was für ein Glück also, dass Steven Morrissey und Johnny Marr sich überhaupt fanden; was für ein Glück, dass sie es fünf Jahre miteinander aushielten; was für ein Glück, dass sie bis heute nie mit einer Smiths-Reunion drohten.

Was für ein Glück zuletzt auch, dass mehr als zwei Jahrzehnte später ein Mädchen wie Zooey Deschannel eines wie Summer Finn spielen kann in einem so schönen Film, in dem ein Mädchen wenigsten einen von all den traurigen Jungs mal erhört, und sei es nur für 500 Tage. Und am Ende des Soundtracks singt dieses Mädchen, Zooey Deschannel, so wie es sich gehört, ein letztes Lied: „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“.

Was denn sonst.

5 songzitate für die ewigkeit

„Scratch my name on your arm with a fountain pen. This means: You really love me.“ (Rusholme Ruffians)

„And if a double decker bus crashes into us, to die by your side is such a heavenly way to die. And if a ten-ton truck kills the both of us, to die by your side, well, the pleasure – the privilege is mine“ (There Is A Light That Never Goes Out)

„What she read, all heady books, she’d sit and prophesise (It took a tattooed boy from Birkenhead to really really open her eyes).“ (What She Said)

„He was a sweet and tender hooligan, hooligan. And he said that he’d never never do it again. And of course he won’t (not until the next time).“

(Sweet And Tender Hooligan)

„Hand in glove. The sun shines out of our behinds. No, it’s not like any other love. This one is different – because it’s us.“

(Hand In Glove)

Beste Coverversion

„Please Please Please Let Me Get What I Want“ The Halo Benders

Die hohe Stimme von Doug Martsch (Built To Spill) und der grummelige Calvin Johnson (Ex Beat Happening, K-Records-Labelchef) im quasi nebeneinander her singenden Duett. Marrs Mandolinen-Part am Ende wird durch eine verzerrte, quälende E-Gitarre ersetzt. Wie bei fast allen guten Coverversionen wird gar nicht erst versucht, sich mit dem Original zu messen.

The Smiths für Dummies

Am 31.12.1983 spielten die Smiths zum ersten Mal in New York. Support-Act war eine unbekannte Sängerin, die sich Madonna nannte.

Die Rickenbacker-Gitarre, mit der Johnny Marr viele Songs aufnahm, stammte von Phil Manzanera (Roxy Music), der sie von Roger McGuinn (Byrds) hatte. Johnny Marr wiederum verlieh gleich zwei Gibson Les Paul an Noel Gallagher (Oasis). Die erste stammte von Pete Townshend (The Who), die zweite war nötig, nachdem die erste bei einer Show zu Bruch ging.

Mit der 60er-Jahre-Sängerin Sandie Shaw (die mit „Puppet On A String“ einst den Grand Prix D’Eurovision gewann) nahmen die Smiths drei Songs auf: „Hand In Glove“, „I Don’t Owe You Anything“ und „Jeane“. Auf Youtube ist ein TV-Auftritt von Shaw, Marr, Rourke und Joyce zu bestaunen. Shaw musste von Morrissey und Marr erst hartnäckig überredet werden, doch dann entwickelte sich eine langjährige Freundschaft. Morrissey schrieb später für sie „Please Help The Cause Against Loneliness“.

Es gibt nur zwei reguläre Coverversionen der Smiths. Eine ist das unter vielen Fans meistgehasste Stück „Golden Lights“, das von der Sixties-Teenie-Queen Twinkle stammt. „Work Is A Four Letter Word“ wurde im Original von Cilla Black gesungen. Morrisseys Obsession für Sechziger-Schlager soll Johnny Marr mitunter in den Wahnsinn getrieben haben. Beide Songs finden sich auf B-Seiten und auf verschiedenen Compilations-Ausgaben.

Johnny Marr sorgte für den Split der Band. Vor allem musikalische Differenzen trieben ihn dazu. Morrissey soll zudem nicht glücklich über verschiedene Nebenprojekte von Marr gewesen sein. Versuche, ihn durch Roddy Frame (Aztec Camera) oder Ivor Perry (Easterhouse) zu ersetzen, scheiterten. Mit Perry nahmen die drei restlichen Smiths „Bengali On Platforms“ und „Margaret On The Guillotine“ auf. Die Sessions landeten jedoch in den Archiven. Beide Songs finden sich neu aufgenommen auf Morrisseys Solo-Debüt Viva Hate.

Zu jung und zu dumm. Als die Smiths ihre Karriere starteten, ging vieles wohl zu schnell. Einen juristisch wasserdichten Band-Vertrag gab es nicht. Das führte zu einem langen Tantiemen-Prozess in den Neunzigern. Bassist Andy Rourke und Drummer Mike Joyce klagten, weil sie sich nicht mit mickrigen zehn Prozent pro Nase zufriedengeben wollten. Rourke stieg wegen akuter Geldsorgen aus dem Prozess aus und ließ sich auf einen Vergleich ein. Joyce beharrte auf mehr Kohle und ging als Sieger – und um eine Million Britische Pfund reicher – aus dem Prozess hervor. Viele Morrissey-Fans nehmen ihm das heute übel. Viele Experten stimmten dem Gericht zu.

Die Smiths heute: Morrisseys Solo-Karriere sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Die drei anderen Mitstreiter gehen eher unauffällig vor. Marr spielte mit den Pretenders, bei The The, feierte mit Electronic Charts-Erfolge und ist vielbeschäftigter Studio-Gitarrist (u.a. Oasis, Bryan Ferry). Das Projekt Modest Mouse ruht gerade, er spielt bei The Cribs. Andy Rourke und Mike Joyce waren 1988 in der Live-Band von Sinèad O’Connor. Mit Brix Smith (The Fall) und dem fünften Smiths-Mitglied Craig Gannon spielten sie zudem bei The Adult Net. Rourke verließ voriges Jahr die Band Freebass und lebt nun in New York. Joyce arbeitete in den Neunzigern u.a. mit P.I.L., Suede, The Buzzcocks. Zuletzt spielte er aktiv mit der Manchester-Band Autokat.

Größte Fans

Andy Rourke und Mike Joyce

Als sie 2007 die DVD-Dokumentation „Inside The Smiths“ herausbrachten, ließen sie keine Gelegenheit aus zu betonen, dass sie es kaum glauben können, bei dieser tollen Band mitgespielt zu haben. Joyce war schon als Band-Mitglied fast immer mit einem Smiths-T-Shirt unterwegs.

Unbeliebtester Fan

David Cameron

Der britische Premier wurde von Fans abgehalten, ein Foto von sich vor dem Salford Lads Club machen zu lassen. Der Ort ist heute wegen dem Innencover-Foto von The Queen Is Dead eine beliebte Pilgerstätte. Johnny Marr ließ auf Twitter verlauten, dass er es dem Tory-Politiker verbieten würde, die Smiths zu mögen.

Buyer’s Guide

The Smiths (1984)

Kaum zu glauben, aber es gab auch enttäuschte Reaktionen über das Debüt. Der klare, fast spröde Sound und die unspektakuläre, zeitlos und unmodische Produktion von John Porter (Roxy Music) ließen aus dem Album dennoch einen Klassiker werden. „What Difference Does It Make?“, „Hand In Glove“ und „Still Ill“ sind modellhafte Indie-Hits voller Drive und Melodiösität. Wer bei „You’ve Got Everything Now“ gut zuhört, dem wird offenbar, dass die hervorragende Rhythmus-Sektion der Band nicht unwesentlich zum Ruhm der vier Mancunians beigetragen hat. Die Ballade „Suffer Little Children“ ist genauso dramatisch wie sein Sujet: ein Serien-Verbrechen, das als die Moor-Morde in die Geschichte von Manchester eingegangen ist.

Meat Is Murder (1985)

Der neue Produzent Stephen Street sorgte für einen dichteren Sound – was besonders auffällt, wenn man sich im Vergleich die luftige John-Peel- Session-Aufnahme von „Rusholme Ruffians“ anhört (als B-Seite von „Last Night I Dreamt That Somebody Loves Me“ veröffentlicht). Der Mangel an eingängigen Pop-Melodien und die mitunter komplexen Arrangements fordern den Zuhörer. Besonders das Schlussstück „Meat Is Murder“ lässt selbst härtesten Fleisch-Fans das Blut in den Adern gefrieren. Highlights sind das funkieste Smiths-Stück aller Zeiten: „Barbarism Begins At Home“, das furiose rockabilly-artige „Rusholme Ruffians“ und das atmosphärische „Well I Wonder“. Ihr einziges Nummer-1-Album hat keine Hits, aber auch keine Schwächen.

The Queen Is Dead (1986)

Für viele DAS Smiths-Album schlechthin. Die Pop-Qualitäten des Debüts verbinden sich mit dem hohen Produktions-Standart von „Meat Is Murder“. Johnny Marr glänzt als Ausnahme-Gitarrist und Morrissey ist in der Form seines Lebens. Wie eine wilde Büffelhorde stürmt eine fantastisch eingespielte Band mit dem Titelsong los. Rollender Beat, böser Text. Dann als komplettes Gegenstück ein lockeres „Frankly, Mr. Shankly“. Damit sind die Pole für die Hits abgesteckt: Etwa die Single-Auskopplung „Bigmouth Strikes Again“, deren hymnische Eröffnungsakkorde jede Indie-Party zum Kochen bringt. Das überromantische „There Is A Light That Never Goes Out“ bekehrte selbst Smiths-Skeptiker. „The Queen Is Dead“ ist ein perfekt austariertes Album, bei dem jeder Ton an der richtigen Stelle sitzt. Musikgeschichte.

Strangeways, Here We Come (1987)

Das erklärte Lieblingsalbum von Marr und Morrissey erschien erst nach dem Split. Das hohe Niveau der besten Band der Achtziger wird gehalten. Noch intensiver und harmonischer als der Vorgänger. Selbst Marr als knarziger Rock- Gitarrist bei „Death Of A Disco Dancer“ wirkt nicht verstörend. Die melodisch und textlich interessantesten Stücke wie „A Rush And A Push And The Land Is Ours“, „Stop Me If You Think You’ve Heard This One Before“ sind Mid-Tempo. Ecken und Kanten sind genauso selten wie ironische Albernheiten. Mit „Girlfriend In A Coma“ findet sich sogar ein radiotauglicher Hit und mit „Paint A Vulgar Picture“ eine äußerst gerechte Abrechnung mit den Strategien der Musikkonzerne. Es ist über weite Strecken ein schönes, aber auch ernstes Album, dass die Smiths zum ersten Mal erwachsen scheinen lässt. Für sie der beste Zeitpunkt sich aufzulösen. Auch wenn das ein unverzeihlicher Fehler war.

Hatful Of Hollow (1984)

The World Won’t Listen (1986)

Louder Than Bombs (1987)

Die Smiths waren eine fantastische Singles-Band. Sie veröffentlichten viel Material, das nie auf Alben erschien. Allein schon die B-Seiten hatten ein atemberaubendes Niveau: „How Soon Is Now?“, „Is It Really So Strange?“, „Back To The Old House“, „Jeane“, „Half A Person“, „Handsome Devil“, „Please Please Please Let Me Get What I Want“, „London“, „Sweet And Tender Hooligan“. Aus dieser Sammlung hätten andere Bands ihr Meisterwerk geschnitzt. Die Reaktionen auf „How Soon Is Now?“ als B-Seite von „William, It Was Really Nothing“ waren so überwältigend, dass Rough Trade den düsteren Song mit dem wabernden Gitarren-Riff noch mal als Single-A-Seite herausbrachte. Die anderen Non-Album-Singles wie „This Charming Man“, „Ask“, „Panic“, „Shoplifters Of The World Unite“,“Sheila Take A Bow“ oder „Shakespeare’s Sister“ waren kurze und griffige Popsongs, deren Hitpotenzial sich kaum in Verkäufen widerspiegelte. Die Band verweigerte ihrer Plattenfirma MTV-taugliche Videos und war deswegen allein auf Radio-Einsätze angewiesen. Die Release-Strategie führte dazu, dass selbst treueste Fans Mühe hatten, sich eine lückenlose Sammlung zuzulegen. Deswegen sind gerade die beiden Compilations Hatful Of Hollow, die auch die begehrten BBC-Sessions enthielt und The World Won’t Listen eine unverzichtbare Ergänzung zu den regulären Studio-Alben. Louder Than Bombs ist ein merkwürdiger Hybride, der ursprünglich für den amerikanischen Markt konzipiert war. Fantastische Songs allemal, aber verzichtbar, wenn man die anderen beiden Kopplungen hat.

Rank (1988)

Zeitzeugen sind sich einigermaßen einig, dass die kurze Zeit als Craig Gannon (vormals Aztec Camera, später The Colourfield u.a.) The Smiths zu einem Quintett machte und mit ihnen die Singles „Panic“ und „Ask“ aufnahm, ihre beste Live-Phase war. Logisch, dass das einzige autorisierte Live-Album aus dieser Band-Epoche stammt, denn gerade die zweite Gitarre trägt zum volleren Band-Sound bei. Rourke und Joyce bilden eine tighte Rhythmus-Sektion. Allein schon das Medley aus dem Elvis-Presley-Cover „Mary Is The Name (Of His Latest Flame)“ und „Rusholme Ruffians“ ist die Anschaffung dieser Platte wert. Spektakulär die Versionen von „What She Said“ und „I Know It’s Over“. Das Album ist nicht aus mehreren Shows compiliert sondern eine BBC-Aufzeichnung einer Show aus dem Jahr 1986. Schöne Sache und macht die Sammlung komplett.