Indie


Es kommt eben doch nicht alles wieder. Vieles: ja. Auch Obskures: ja. Gang Of Four, Hüsker Dü: ja. Sogar Suicide. Aber eben nicht alles. Ein Rest geht selbst im Zeitalter universeller Verfügbarkeit unter. Unsere Liste widmet sich diesem Rest – großartiger Indie-Musik, die von der Welt vergessen oder nie angemessen wahrgenommen wurde.

50 Platten ausgewählt und besprochen von: Oliver Götz, Stephan Rehm und Jochen Overbeck

Wir müssen uns hier wohl zuerst wieder einmal mit der Begriffsklärung herumschlagen: Mit dem Terminus „Indie“ belegt man seit den 1930er-Jahren Tonträgererzeugnisse von Plattenfirmen, sogenannter Independent-Labels, die nicht mit Major-Labels assoziiert sind. Major-Labels nannte man zu Zeiten Elvis Presleys jene Firmen, die sowohl die Produktion ihrer Platten als auch deren Vertrieb kontrollierten und über Presswerke verfügten. Die frühen Werke Presleys erschienen z. B. beim Indie-Label Sun Records.

Vor 50 Jahren erfuhr der Begriff allerdings einen Deutungswandel. Seither werden die absatzstärksten Labels als Majors bezeichnet. Analog gelten umsatzschwächere als Indies. Britney Spears‘ Debüt, für das 25 Millionen Menschen zur Kasse liefen, wurde von einem solchen Indie-Label veröffenlicht – Jive Records. Eine Indie-Nacht in einem Club wäre nach dieser industrieorientierten Definition ein eher zweifelhaftes Vergnügen. Aber was heißt schon industrieorientiert? An einer sterbenden Industrie muss man sich nicht orientieren. Seit Jahren schon zerfließen die Grenzen. Kleine lassen ihre Platten über Majors vertreiben und vermarkten. Manche Indies sammeln ein, was den Großen nicht fett genug ist – und wachsen dabei beträchtlich. Von all jenen Veröffentlichungen, die auf 1000 alternativen Wegen ans Licht finden, ganz zu schweigen.

Wir wollen hier Indie als musikalisches Genre auffassen. Ein Genre mit einem Klang, der die vom Mainstream diktierten Hörgewohnheiten immer noch herausfordert, mit Inhalten, die Ecken und Kanten haben, mit einer Herangehensweise, die sich nicht zuletzt auf den „Das kann ich auch“-Ethos des Punk zurückführen lässt. Indie ist also Punk und Postpunk, Psychedelia und Glam, Industrial oder New Wave, Avantgarde, Noisepop, Shoegazing, Manchester-Rave und Britpop, ziemlich elektronisch, aber auch ziemlich folky. Indie kann fast alles sein. Unsere Zeitrechnung beginnt mit dem, was die Punkrevolution von 1977 bewirkte – auch wenn der Independent-Begriff als Genre-Bezeichnung erst in den Achtzigern eingeführt wurde. Dem unkonventionellen Charakter des Indie folgend eröffnen wir jedoch mit einer Platte aus den Sechzigern. Es wäre einfach zu schade, dieses schräge Teil zu ignorieren …

The Shaggs

Philosophy Of The World (1969)

„Besser als die Beatles„, jubelte Frank Zappa. Auch Kurt Cobain nannte dieses Chaos aus auf verstimmten Instrumenten gespielten Songs bar jeden Takts, von jeder Lehre abweichenden Gitarrenakkorden und kindlich aufrichtigen Texten als unschätzbaren Einfluss auf alternative Musik. Seit den nach einer damals angesagten Frisur benannten The Shaggs (drei, später vier Schwestern, deren Vater – darin einer Prophezeiung der Oma folgend, nach der die Mädels als Band zu Superstars werden würden – ihnen Instrumente in die Hände gedrückt hatte) musstest du nichts von Musik verstehen, um Musiker zu werden. Indie war geboren.

The Pop Group

Y (1979)

Die Band aus Bristol, vorschnell ins Ablagefach „geniale Dilletanten“ sortiert, musiziert nicht gegen Konventionen an. Sie ignoriert sie, denn ihre Musik soll ausdrücken, was selbst Punk und Postpunk nicht richtig ausdrücken konnten: Ekel, Angst, Schmerz. Thatcher: krank. Krieg: krank. Die Gesellschaft: krank. Wie hätten sie eine Platte machen können, für die Hoffnung besteht? Y ist ein dubbiges, dadaistisches, vor allem drastisches No-Wave-Manifest, das einem für Momente sogar die Orientierung raubt. Möglicherweise führt hier hindurch aber ein Weg zur Freiheit.

The Slits

Cut (1979)

Die Superstars der Nonstarszene, die Original Riot-Grrrls (trotz des DrummERs Budgie). Produzent Dennis Bovell, damals wichtige Figur der britischen Reggae- und Dubkultur, hatte zwar seine liebe Mühe, den ungestümen Sound der Londoner zu zähmen, doch das Ergebnis heiligte alle Mittel: Ein stark groovendes Meisterwerk, das die Engstirnigkeit des Punk aufhob und Reggae wachrüttelte – und mit „Typical Girls“ noch einen universellen Pophit abwarf.

The Feelies

Rhythms (1980)

Oft wird diese Platte in der Wühlkiste mit Weezer verwechselt und schmunzelnd zurücksteckt. Ein Fehler! Dieser College-Rock vorwegnehmende New Wave darf sehr guten Gewissens eingepackt werden, ist man rockhistorisch am Ursprung etwa von R.E.M. interessiert. Trademark des Albums ist der direkte, klare Gitarrensound, den die Band erreichte, indem sie die Gitarrenspur direkt – ohne Umwege über Mikro oder Verstärker – ins Mischpult laufen ließ.

The Monochrome Set

Love Zombies (1980)

Für ihr zweites Album hatten die Nachfolger der B-Sides (Adam Ants Ex-Band) ihren quirligen Sound zwischen frühen Pink Floyd, „The Munsters“-Theme und ? And The Mysterians geglättet und so eine Art psychedelischen Jazz-Punk geschaffen. John Peel wurde nicht müde, das herausragende Kompositionstalent und den Wortwitz der Band um den indischen Sänger Bid zu huldigen.

Television Personalities

… And Don’t The Kids Just Love It (1981)

Ein sentimentaler kleiner Mann schaut aus dem Fenster auf die Welt und schreibt darüber Lieder. Der Postpunk kommt ihm gerade recht für seine Idee von Popmusik, denn die muss nur perfekt im Herzen sein. Seine große Liebe gehört dem (psychedelischen) Pop und der Popkultur der Sechziger. Es wird später noch einiges über die campen Lyrics und In-Jokes von Dan Treacy zu lesen geben, doch es sind seine Sehnsüchte und wie direkt er sie auf den Punkt, den Pop bringt, was dieses Debüt so einnehmend macht.

Josef K

The Only Fun In Town (1981)

Oft zitiert und als Einfluss von z.B. Franz Ferdinand genannt; angehört hat es sich trotzdem keiner. Oder gleich wieder die Segel gestrichen. Denn dieses Indie ist anders. Funky, aber auch ziemlich nervös. Der Sound dünn, die Songs nicht so vulgär prägnant. Gitarrenpopmusik, die ihren Akzent auf das „Pop“ legt und trotzdem mehrdeutig bleibt – damals, auf dem Postcard-Label, kriegten die das noch hin.

Associates

Sulk (1982)

Wer mit Green Day groß wurde, wechselte irgendwann zu den Sex Pistols. Wer sich seit Jahren fragt, womit man an die frühe Begeisterung für die Sisters Of Mercy niveauvoll anschließen kann: Hier, mit diesem schottischen Postpunk-Duo, dem mit ihrer dritten Platte SULK zumindest ein UK-Top-Ten-Erfolg vergönnt war. Sänger Billy Mackenzie und Soundmann Alan Rankine liefern sich darauf ein wahres Duell an Bombast, Tiefgang und Dramatik. Einmal scheint es, als könne die Opernstimme Mackenzies die Synthesizer-Architektur Rankines zum Einsturz bringen, dann rollt letzterer Mackenzie wieder in einen dicken Klangteppich ein. Der Reiz dieses Albums liegt natürlich im Unentschieden. Seinen eigentlichen Kampf, den gegen das Leben, sollte der unter Depressionen leidende Mackenzie 1997 verlieren. Er beging Selbstmord. Mit ihrer Version von „Gloomy Sunday“, „Ba De La Bap“ und insbesondere „Party Fears Two“ mit seinem markanten Synthieriff hinterließ der auf der Bühne alle Facetten theatralischer Flamboyanz bedienende Performer Kabinettstücke des Dark Wave.

Mission Of Burma

Vs. (1982)

Postpunk sollte weniger als Stilrichtung, sondern als eine Vielzahl von Bemühungen betrachtet werden, aus dem Punk die richtigen Lehren zu ziehen: Wie lässt sich diese Power über längere Distanzen bewahren, wie sich als Widerstandskraft intensivieren über den Moment des In-die-Fresse-Rotzens hinaus? VS., das Debüt des Quartetts aus Boston, gibt Antworten auf diese Fragen, die heute noch Gültigkeit haben.

Three Johns

Atom Drum Bop (1984)

Sänger John Hyatt, Gitarrist Jon Langford (Mitgründer der Mekons) und Bassist Phillip Brennan, den man einfach auch „John“ rief, verstanden sich nicht als „sozialistische Band, alle Bandmitglieder sind allerdings Sozialisten“. Ihr Debüt, geziert vom Zensur umgehenden Slogan „Rock’n’Roll Versus Thaatchiism“, war dennoch ein von linkspolitischen Ideen durchzogenes Punkrockbrett, dessen Ziel es war, dafür zu sorgen, dass Rock’n’Roll „The Devil’s Music“ bleibt.

Felt

Forever Breathes The Lonely Word (1986)

Warum Lloyd Cole und die Smiths Erfolg hatten und selbst die Leidenschaft der Go-Betweens sich eines Tages wenigstens durch Indie-Chart-Spitzenplätze auszahlen sollte, diese Television-Jünger aus Birmingham jedoch während der zehn Jahre ihres Bestehens und bis heute ein Geheimtipp blieben? Ein Rätsel. Dabei ist ein solches hauchdünn-zartbitteres Gitarren-(und Orgel-)Pop-Meisterwerk wie forever breathes … doch gar nicht so schwer zu enträtseln.

Spacemen 3

The Perfect Prescription (1987)

Diese Platte beginnt mit ähnlicher Wucht und Botschaft wie „Break On Through (To The Other Side)“ von den Doors. Allerdings orgelt keine Orgel in „Take Me To The Other Side“ und das Bluesriff droht, unter all dem Getöse erdrückt zu werden. 20 Jahre später, nach Suicide und Velvet Underground, konnte Drogen-/Über-Drogen-Musik eben noch viel rückhaltloser formuliert werden. Jason Pierce und Peter Kember widmeten hiermit dem Rausch ein ganzes Album. Mit bekannten Zutaten (s. o.), aber als eine Mixtur von besonderer Intensität.

Chrysanthemums

Little Flecks Of Foam Around Barking (1989)

Ein großer, ein abendfüllender, ein surrealistischer Spaß ist dieses Meisterwerk britischer Homerecording-Spinner, die den Pop der Sechziger gleich mit dem Soßenlöffel gefressen haben und die daran geschulte Clever- und Catchyness im Songwriting dazu einsetzen, sich über den Schwulst und Fabulierungseifer des Progrock lustig zu machen. Wer in diese Welt reist, braucht erst mal keine andere Welt mehr.

The Blue Nile

Hats (1989)

Auch wenn der schottischen Band gerne Labels wie College Rock, Sophisti/Adult-Pop oder Folk Ambient aufgeklebt werden: Heute klingt ihr zweites, bislang bestes Album mindestens so nach Chris Rea und Simply Red wie nach David Sylvian oder Talk Talk. Die inhaltliche und vor allem gesangliche Intensität, mit der Paul Buchanan die Nacht und ihren Sog zu seiner Nacht und zum Sog seiner Musik macht, braucht allerdings einfach ihre Zeit. Platz ist da auch nur für sieben Songs auf dieser selten elegischen Platte.

Thin White Rope

Sack Full Of Silver (1990)

Von Anfang an war Thin White Ropes Country- und Psychedelic-Rock eigenwillig, stoisch und dank Guy Kysers mit der groben Feile bearbeiteten Stimme und seiner obskuren Texte ziemlich abgründig. Auf SACK FULL OF SILVER, dem vierten von fünf Alben, schuf das Quartett aus Kalifornien eine hoch verdichtete Form dessen, was bald schon Americana genannt werden sollte. Grenzen zum Desert-Rock in der von singenden Feedbacks und tiefem Grollen erfüllten Hitze zerflossen einfach.

Mazzy Star

She Hangs Brightly (1990)

Hatte sich da David Lynch eine psychedelisches Country- und Blues-Kapelle zusammengebaut? Nein, Mazzy Star saßen als Nachfolgeband in den oberen Ästen des Stammbaums der Paisleyunderground-Institution Dream Syndicate. Sie waren jedoch abgründiger als das Syndikat, brachten in der Tradition der Doors und Velvet Undergrounds nie zu viel Licht ins Dunkel – und die göttlich maulende Hope Sandoval war der anmutigste dunkle Engel der ganzen Dekade.

Ultra Vivid Scene

Joy: 1967-1990 (1990)

Vielen wird dieses Album des New Yorker Musikers Kurt Ralske, der an Gitarren, Keyboards, Drum- und anderen Computern nahezu jeden Ton allein einspielte, zu glatt und perfektionistisch sein. 1990 war es das auf jeden Fall, die Pop-80er waren da noch viel zu präsent. Doch wie herrlich geschmeidig und perfekt ist diese Platte tatsächlich, zwölf Songs, ungemein catchy und doch auch so seltsam, lustvoll, wonnig … lasch. Es heißt, man könne Sonntagnachmittage darin einlegen.

Cpt. Kirk &.

Reformhölle (1992)

Zu der Zeit, als Blumfeld L’ETAT ET MOI veröffentlichten, war REFORMHÖLLE die kaum weniger wichtige Veröffentlichung der Bruderband Cpt. Kirk &. Sie waren ebenso politisch, nicht weniger dringlich, doch musikalisch komplexer, weitreichender, kunstvoller. Tobias Levins Band hatte vor allem an den von Band- und Songformat losgelösten Talk Talk einen Narren gefressen. Viel Klavier, fließender Jazz und minimalistische Klassik in loopartigen Tracks und eine den Raum und seinen Klang einbeziehende Aufnahme prägten diese lyrische Musik. An den in seinen Wortspielen fast schwindlig gedrehten, abstrakten Texten darf man verzweifeln – jedoch fordert das Levins heller, rinnender und sprudelnder Gesang nicht ein. Eine der drei besten Platten der sogenanten Hamburger Schule – und denkbar weit weg von ihr.

Moose

… XYZ (1992)

Selbst dieser Tage, in denen aufgrund von Revivalbands wie The Twilight Sad oder The Pains Of Being Pure At Heart Frühneunziger-Gitarrenbands wie Ride und Slowdive wieder Aufmerksamkeit wiederfährt: Moose entdeckt keiner neu, und das ist schade. Das Debüt …XYZ kombiniert verträumten, sich deutlich auf Phil Spectors Wall Of Sound beziehenden Shoegaze mit flottem Noisepop und hat mit „Little Bird (Are You Happy in Your Cage)“ und „Screaming“ zwei veritable Hits in petto. Gut versteckt: ein Cover von Harry Nilssons „Everybody’s Talking“.

Magnapop

Magnapop (1992)

Es sind die späten 70er-Jahre und Kunststudentin Linda Hopper lernt im Unterricht den schüchternen Michael Stipe kennen. Sie gründen eine Band, Tanzplagen, aus der aber nichts wird. Stipe konzentriert sich auf seine neue Band R.E.M. und wird 1992 dank AUTOMATIC FOR THE PEOPLE zum Superstar. Zu dieser Zeit bastelt Hopper am Debüt ihrer Band Magnapop, nachdem sie bis dahin recht erfolglos in diversen Projekten herumgewerkelt hat. Stipe produziert vier der Stücke des Powerpop-Albums, darunter den vom Teufel verhinderten Hit „Favorite Writer“, den R.E.M. Jahre später für die B-Seite von „Bad Day“ covern werden.

Shrimp Boat

Cavale (1993)

Alles war ihnen recht: Bluegrass, Jazz, Countryrock. Doch der Erfolg mied Shrimp Boat ebenso konsequent wie diese den 4/4-Takt, gängige Rhythmen oder konventionelle Songstrukturen. Die (wenigen) Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch: Tortoise, Lambchop. Kurz nach dem Release trennte sich die Band. Sänger Sam Prekop und Schlagzeuger Eric Claridge gründeten anschließend die ihr Talent bündelnden The Sea And Cake.

Superchunk

On The Mouth (1993)

„(…) they are today considered one of indie rock’s definitive bands“, steht bei Wikipedia, verweislos. Solches lässt sich vielleicht über Pavement ohne Quellenangabe behaupten. Aber Superchunk? Da wäre interessant zu erfahren, wer da so considered. Dann wüsste man zumindest, wer diese High-Speed-Version der Pixies überhaupt kennt. ON THE MOUTH, ihr drittes Album, lebt von einer Sorglosigkeit und einem Übermut, wie sie wohl nur majorvertragslosen Menschen möglich sind. Vielleicht ist es also ganz gut, wenn nicht zu viele Leute diese Band als irgend etwas considern.

The Auteurs

New Wave (1993)

Wer Luke Haines‘ Rundumschlag „Bad Vibes – Britpop And My Part In Its Downfall“ gelesen hat, weiß: Zumindest der Auteurs-Frontmann hielt das Debüt seiner Band damals für ein Meisterwerk. Auch wenn es genau diese an Boshaftigkeit grenzende Arroganz war, die in den Folgejahren die Auteurs implodieren ließ: dem glamourös-dramatischen Kammerpop auf NEW WAVE steht sie so was von gut.

Kingmaker

Sleepwalking (1993)

Paul Heaton ist schuld. Der ehemalige Housemartin nannte Kingmaker „Mittelstandsposer“. Das brach der Band aus Heatons Heimatstadt Hull das Herz. Dabei hatte alles so aussichtsreich begonnen: Ihr Debüt EAT YOURSELF WHOLE schürte Hoffnungen, Kingmaker könnten die Band sein, die britische Gitarrenmusik im großen Stil wieder belebt. Der Top-15-Erfolg von SLEEPWALKING mit seiner tollen Mitspring-Leadsingle „Armchair Anarchist“ schien die Hoffnung zu bestätigen. Doch dann kam Paul Heaton und hat alles kaputt gemacht.

Red House Painters

Red House Painters (1993)

Angesichts des ersten Studioalbums seiner Band lief Mark Kozelek beinahe über: 14 Songs in 75 Minuten, die CD randvoll. Dabei schien Enthusiasmus seine erste Regung nicht zu sein. 14 Songs – und alles Balladen. Kozelek, ein Nick-Drake-Jünger und Schützling von Mark Eitzel, fleht um Anerkennung und Liebe. Manche der Balladen wachsen sich in rauschhaften Instrumentalschleifen allmählich zu Rocksongs aus. Am Ende fällt aber doch alles auf das allertraurigste Individuum Kozelek zurück. Ein Meister des Sadcore.

Swell

41 (1994)

Rick Rubin nahm die Band aus San Francisco für American Recordings unter Vertrag. Doch die Welt wollte nichts wissen von dieser Platte. Spinnt die Welt? Nein, sie ruht nur nicht in sich wie es 41 tut. Da kommt jemand die Treppe hoch, greift zur Stahlbesaiteten und dengelt drei Akkorde. Er singt, mit Staub auf der Stimme: „Don’t have a thing to share/ Won’t even comb my hair/ But in our room so nice/ This screwed up life and I – sit down“ Immer weiter schraddert die Stahlbesaitete, eine Slidegitarre malt die Schatten am Boden nach, das Schlagzeug klackert trocken Synkopen. Das hier könnte Noisepop sein. Aber Swell mögen nicht zu dollen Krach. Spaghettiwesternmusik? Alle Pferde lange tot. Und für Neo-Psychedelia meldet sich ihr Dealer zu selten. Später klingelt auf 41 ein Telefon. Sie lassen es klingeln.

Die Time Twisters

Girls, Gurus & Gitarren (1994)

Dass die Beschäftigung mit der Indie-Ursuppe um das Bad Salzuflener Label Fast Weltweit lohnt, dürfte bekannt sein. Neben dem durch Blogs fliegenden Material der Blumfeld-Vorgänger Bienenjäger sind vor allem die Time Twisters einer Betrachtung wert. Die spielen sich auf ihrem einzigen Album krachig und ohne Scheu durch 20 Stücke, irgendwo zwischen Surf, Beat und Powerpop. Durchaus eine Blaupause für das, womit später Superpunk Erfolg hatten.

Die Regierung

Unten (1994)

„Hey Corinna, was ist das für ein Leben/ Wir kriechen im Staub und wir schlafen im Regen. Aber alles was Du machst, ist so elegant“ – „Corinna“ ist der beste Song, den Tilman Rossmy jemals schrieb – und er ist einer der schönsten deutschsprachigen Songs der 90er-Jahre. Es war das vierte und letzte Album der Regierung, die schon während der Aufnahmen mit Chris von Rautenkranz (u.a. Blumfeld und Die Sterne) Auflösungserscheinungen zeig-te. Das ist schade, denn das Krachige und Ratlose, dass Stücke wie „Corinna“ oder „Runterbringer“ eben ausmachte, erreichte Rossmy nie wieder.

Air Miami

Me, Me, Me (1995)

Zehn Jahre überschaubarer Underground-Fame mit seiner Band Unrest, die ihrem minimalistischen Pop gern mit White Noise und allerhand Bleeps und Blops entgegensteuerten, waren dann auch mal gut. Sänger Mark Robinson und Bassistin Bridget Cross entschieden sich mit Air Miami für ein eher auf die Breite abzielendes Outfit. Das flotte „World Cup Fever“ wurde sogar ein kleiner Collegeradio-Hit.

The Olivia Tremor Control

Music From The Unrealized Film Script, Dusk At Cubist Castle (1996) Das Projekt aus dem Elephant-6-Kollektiv biss mit seinem 27-Songs-Debüt nicht nur in den saftigen grünen Apfel, es verputzte ihn mit einem Happs: The Olivia Tremor Control lieferten viel mehr als eine weitere geschmackvolle Beatles-Hommage – sie waren die Beatles, ca. 1967/68. Allerdings mit der Freiheit, bar aller kommerziellen Erwartungen sich noch rückhaltloser in Experimente zu stürzen. Allein zehn krautige, ambiente, spinnerte Stücke über „Green Typewriters“ – wäre das nicht toll gewesen, John?

Longpigs

The Sun Is Often Out (1996)

Das zu frühe Ende dieser Britpop-Band, deren Debüt im Sommer 1996 neben Oasis, Supergrass und Pulp einfach keine Chance gegeben war, hatte zumindest etwas Gutes: die anschließende Solokarriere ihres Gitarristen Richard Hawley. Außerdem sorgte der geringe Erfolg (Platz 26 in den UK-Charts) dafür, dass es heute in praktisch jedem britischen Second-Hand-Plattenladen zu haben ist. Dennoch wäre die Welt eine bessere, gehörte das straighte „She Said“ heute zum Kanon des Britpop und hätte es die Ballade „On And On“ (war sogar auf dem „Mission:Impossible“-Soundtrack) zu mehr als Achtungserfolg in den USA gebracht.

The Brian Jonestown Massacre

Their Satanic Majesties Second Request (1996)

Ein doppeldeutiger Name – die Neo-Psychedelic-Rock-Band ist sowohl nach dem mysteriös verstorbenen Rolling Stone Brian Jones als auch nach dem Massen(selbst)mord in der Jonestown genannten Siedlung der „Volkstempel“-Sekte in Guyana benannt – kann Fluch und Segen sein. Marilyn Manson geriet so ein Name zum Vorteil, vom BJM haben bis heute nur wenige gehört. Mit diesem Album spielte die Band um ihr einziges konstantes Mitglied Anton Newcombe nicht nur erneut auf die Stones an, sondern tauschte ihren einstigen Shoegaze-Sound für 60s-inspirierten Psychedelic-Rock aus.

Black Box Recorder

England Made Me (1998)

Luke Haines, die nächste. Im Titelsong lässt er seine Ehefrau Sarah Nixey ausführlich schildern, wie sie zunächst eine Spinne, dann einen Fremden tötet – im Traum. „Kidnapping An Heiress“ thematisiert Klassenkampf anhand der Entführung von Patty Hearst und der Massentötungen der Volkstempler in Guyana (äh, siehe oben). ENGLAND MADE ME ist trotz einer harmonischen, fast unschuldig wirkenden Instrumentierung ein Monster von einer Platte.

Royal Trux

Accelerator (1998)

Als 1998 ihre beste Platte erschien, hatten Neil Michael Hagerty und seine Freundin Jennifer Herrema bereits fast alles hinter sich: elf Jahre als Band, offen ausgelebte Heroinsucht und einen Plattenvertrag über eine sagenhafte Million Dollar (es war 1991, the year punk broke und die Majors stürzten sich auf rumpelige Indiebands). Aber, wie gesagt: fast alles. Erfolg hatte das Duo mit seinem Brachialblues (Hagerty spielte anfangs noch bei Jon Spencers Pussy Galore) nie. Zumindest dürfen sie sich als Wegbereiter der White Stripes verstehen.

Sparklehorse

Good Morning Spider (1998)

Auch wenn viele der Songs schon vor Mark Linkous‘ aus einer Drogenüberdosis resultierendem Beinahetod geschrieben worden waren, wirkten sich diese Erfahrung und der folgende Krankenhausaufenthalt eindeutig auf den Aufnahmeprozess von Sparklehorses zweitem Album aus. Ein Werk wie das Aufwachen aus einem Alptraum, unschuldig, verletzlich, kindlich. Ein Bild, das die Akustikgitarrenspuren unterwandernden, verspielten Synths und Loops verstärken. Linkous sollte noch zwölf Jahre zwischen Leben und Tod hin- und hergeschleudert werden bis er 2010 aufgab und sich gegen das Aufwachen entschied.

Silver Jews

American Water (1998)

Hat man ja jetzt auch schon mal gehört, den Namen. Doch wo anfangen? Wie einsteigen in das 20 Jahre umfassende Werk einer Band, die in keinem Elektrofachmarkt Deutschlands ein eigenes Fach hat? Mit ihrem dritten Album. Damals gehörte Stephen Malkmus noch zur Besetzung, die außer Sänger David Berman kein weiteres dauerhaftes Mitglied hatte. AMERICAN WATER versprüht vordergründig dieselbe musikalische Unbekümmertheit, man möchte sagen: Gemütlichkeit wie Pavements BRIGHTEN THE CORNERS, doch bei genauerem Hinhören liefert Malkmus hier seine wohl präziseste Gitarrenarbeit ab. Und: Bermans Beobachtungen der prä-millenniaristischen US-Gesellschaft hätten auch in einem Gedichtband erscheinen können.

Make-Up

Save Yourself (1999)

Dass der Ruf von Make-Up, einer der coolsten Bands, die diesen Planeten je betreten hat, kaum Verbreitung gefunden hat, hat sie sich selbst zuzuschreiben. Wer seine Musik ausschließlich bei Labels wie Dischord, K Records oder Southern veröffentlicht und seine (kommunistische wie selbstkreiert befreiungstheologische) Ideologie Tag und Nacht so eng bei sich trägt wie die Gitarrenplektren in seiner Hemdtasche, weiß genau, was er tut. Liveshows abreißen, von denen die Enkel noch reden werden z.B. Und ein Album wie dieses aufnehmen, das wahrer Soul ist, schmutziger Funk, allerfeinste Garage, echter Sex. The (International) Noise Conspiracy? Elende Kopisten! Schlimmer noch: Konformisten!

Gorky’s Zygotic Mynci

Spanish Dance Troupe (1999)

Vielleicht kam SPANISH DANCE TROUPE einfach zehn Jahre zu früh. Die Einflüsse, die die Walliser hier so gut in den Pop mitnahmen, sind schließlich die, auf die sich heute Bands wie Espers oder Midlake berufen. Vaudeville etwa, oder klassischer Folk im Sinne von Fairport Convention. Dabei lauern in den Texten von Euros Childs Abgründe: In psychotischen Kammerstücken wie „Murder Ballad“ oder „Desolation Blues“ arbeitet sich die Band an allerhand Absonderlichem ab. Einziger Ausreißer: das an die Super Furry Animals erinnernde „Poodle Rockin“.

The Microphones

The Glow, Pt. 2 (2001)

Pitchfork sagt: Das beste Album 2001, das in Nerdkreisen einflussreiche Webzine „Tiny Mix Tapes“ sagt: Die fünftbeste Platte der Nullerjahre. Und was sagt die Welt? Die Welt sagt: Hä?! Wir sagen: Hinter den Microphones steckt Phil Elvrum, ein Analogtüftler aus Olympia/Washington. THE GLOW, PT. 2 ist sein siebtes Studioalbum, voll überragendem, mit Konventionen brechendem Songwriting, mit bei aller Lo-Fi-Haftigkeit hoch emotionalen Stücken, deren Instrumentierung Haken schlägt wie ein Karnickel, und mit einem warmen Sound, als sei die Platte in deinem Bauch eingespielt worden.

Pretty Girls Make Graves

The New Romance (2003)

Sängerin Andrea Zollo schreit sich eins – kann aber auch zärtlich sein. Nathan Thelen und Jason Clark spielen ihre Gitarren dissonant, aber auf einem präzisen Rhythmusbett. Mit einer Verbindung widerborstiger Strukturen der Post-Irgendwas-Schule und verblüffender Eingängigkeit begeisterte die Band aus Seattle 2003 die Musikpresse. Es galt als ausgemacht, dass da noch mehr passieren würde. Dem tollen THE NEW ROMANCE folgte drei Jahre später allerdings das nur noch ordentliche Èlan Vital – und die Auflösung.

Stephanie Kirkham

That Girl (2003)

Auch hier ging die Geschichte gut los: Stark von Joni Mitchell und den Beatles beeinflusste britische Songschreiberin, die in Japan schon Modeljobs übernommen hatte, unterschreibt einen Fünfalbumvertrag bei einem Label (Hut), welches umgehend das sommerliche, leicht trippige Debüt der jungen Frau veröffentlicht – und dann pleite geht. Da half auch die mordspositive Resonanz der Kritik nichts, THAT GIRL konnte kaum beworben werden, die Single zum Verlieben „Inappropriate“ blieb im Ablagestapel der Radio-DJs liegen. Letztes Lebenszeichen: Folgealbum SUNLIGHT ON MY SOUL (besser kann man Kirkhams Sound nicht beschreiben) erschien 2006 auf einem eigens dafür gegründeten Minilabel.

Manitoba

Up In Flames (2003)

Unter dem Namen Manitoba rollte der indietronische Kanadier Dan Snaith die Neunziger in den Nullern noch einmal auf. Er kreiste auf dieser leider fast nur von Kritikern geliebten Platte um und loopte sich munter durch die Gärten des Too-Pure-Labels, der Neopsychedelia und des Postrock. Dann zwang ihn ein älterer Manitoba, sein Projekt umzutaufen: zu Caribou. Er fuhr noch mal mit dem Rasenmäher ums Haus und gedieh dann zum Elektro-Liebling der Saison 2010.

Deerhoof

Milk Man (2004)

Fünf Alben lang hat das Indie-Pop-Quartett aus San Francisco bei all experimentellem Getobe gelernt, wie Pop funktioniert. Das Ergebnis präsentieren sie auf einem Konzeptwerk um den Titelhelden und titelgebenden Milk Man – eine Zeichnung des mit der Band befreundeten japanischen Künstlers Ken Kagami. Klingt nach einer ziemlich verkopften Angelegenheit, was? … „gelernt“, … „Konzeptwerk“ … Doch Musik kann kaum unbedarfter und nassforscher klingen als diese hier.

Nick Nicely

Psychotropia (2004)

15 Jahre benötigt Axl Rose für ein Album? Ha! Nick Nicely saß 24 Jahre an seinem. Und hatte dann erst mal sein Debüt im Laden. Der Brite veröffentlichte 1981 die Single „DCT Dreams“, die 60er-Psychedelia mit Früh-80er-Electro-Pop verband. Ein kleiner Hit in Frankreich. Es folgten das ganz im Geiste Syd Barretts stehende „Hilly Fields“ und der ganz im Geist Syd Barretts stehende Rückzug Nicelys von der Musikindustrie. 2004 erschien als Sammlung der beiden Singles und mit einer Auswahl der Musik, an der Nicely über die Jahrzehnte gearbeitet hatte, sein erstes Album.

The Russian Futurists

Our Thickness (2005)

Die Russian Futurists sind eigentlich nur einer, und Matthew Adam Hart ist weder russisch, sondern nordamerikanisch, noch an der Zukunft, sondern an Vergangenem interessiert. Sein zweites Album ist Lo-Fi-Sample-Pop; das auf manchen Handy-Modellen von Samsung befindliche „Paul Simon“ hätte in den Neunzigern Becks größter Hit werden können. Wenigstens Graham Coxon und Peter Buck zeigen sich schwer beeindruckt von Harts Gespür für Melodien.

Lansing-Dreiden

The Dividing Island (2006)

Sind Lansing-Dreiden kaum mehr als heiße Luft? Ein Künsterkollektiv aus NYC, als Liveband nicht präsent, auch sonst gesichtslos, aber fleißig am Kunstformen mischen und enigmatische Manifeste verfassen. Aber diese Musik! Man wollte wortreich über die bis kurz vor dem Kitsch ins Sphärische driftende Synthese von Synthiepop, Prog und Shoegaze schwärmen. Doch dieses Album scheint sich hermetisch abzuriegeln von Zuschreibungen und Verweisen. Als wäre die Musik aus Gas und drohte zu entweichen.

Butcher Boy

Profit In Your Poetry (2007)

Tendenziell sentimentale, gern mit Streichern arbeitende Indie-Popper aus Glasgow, in den späten Neunzigern gegründet, Artverwandtes: The Smiths, Nick Drake, Love. Klingt nach Belle & Sebastian? Richtig. Aber was kann falsch daran sein, solange Anbiederung und Kopistentum die letzten Begriffe sind, die einem bei zeitlos schönen Songs wie „I Know Who You Could Be“ einfallen? Siehe auch, ein paar Plätze zuvor in dieser Liste: The Blue Nile.

Les Savy Fav

Let’s Stay Friends (2007)

Vielleicht müssten sie einfach anders heißen. The Faves oder so. Dann könnte man nach einem der verlässlich hoch unterhaltsamen Konzerte dieser Art-Rock-meets-Post-Hardcore-

Band aus NYC einem Bekannten eine dringende Empfehlung aussprechen. Aber so ist man sich ob der Aussprache unsicher, will sich nicht blamieren und redet stattdessen lieber über die Mühen des Alltags. Auf dass es sich ändern möge: „Lei Sáhwie Fahv“ sprechen die sich aus, und ihr viertes Album LET’S STAY FRIENDS ist ein einwandfreier Pop für Freunde des Lebens.

Grammatics

Grammatics (2009)

Warum kennen wir eigentlich die Grammatics nicht? Wo doch der „NME“ nach dem Ende Oasis‘ und angesichts des Brachliegens der britischen Popszene händeringend nach neuen Titelhelden suchen müsste? Wo die Band aus Leeds doch so vieles in sich vereint, was den „NME“ in den vergangenen Jahren entzücken ließ: Jugend (Arctic Monkeys), Drama (Arcade Fire), Looks (The Drums), Cello (Florence And The Machine)? Selbst ein verspäteter Hype kommt längst nicht mehr in Frage. Nach dem kommerziellen Flop ihres Debüts will sich die Band noch in diesem Jahr trennen.

A Sunny Day In Glasgow

Ashes Grammar (2009)

Der Name führt einen in die ja nicht unbequeme Irre, hier könnte eine Band vom (allerdings schon längst verblichenen) britischen Labels Sarah zu leichtfüßiger Tat schreiten. Tatsächlich kommen diese jungen Menschen aber aus Philadelphia. Sie sind allerdings tatsächlich auch am eher leichten und leicht flüchtigen Musizieren interessiert. ASHES GRAMMAR blühte zwischen all den Shoegaze- und sonst wie wolkigen Atmo-Pop-Wiedergängern der letzten und vorletzten Saison nur als Mauerblümchen. Dabei war sie eine der charmantesten Schwallschallplatten überhaupt.