Live-Review: Crystal Castles im Postbahnhof, Berlin


Alles auf Attacke! Die Stars des Abends heißen Lautstärke und Lichtshow. Auf der Kristallburg werden keine Gefangenen gemacht.

Die fernen Sirenen und wabernden Synthies von „Plague“ läuten das Konzert ein. Nebel kriecht über die dunkle Bühne, rote Spotlights tasten unruhig die ersten Zuschauerreihen ab wie Suchscheinwerfer aus einem dystopischen Film. Zu leisen Kickschlägen blitzt alles kurz auf, dann explodiert der Refrain, und Crystal Castles beginnen ihren kompromisslosen Angriff auf Netzhaut, Trommelfell und Magengrube. Schon nach vier Songs nestelt man ein altes Taschentuch hervor, um sich mit zwei Ohropax-Improvisationen ein wenig Linderung zu verschaffen. Vor der letzten Zugabe sägt schließlich ein so brutaler Synthie durch den Saal, dass sich der gesamte Postbahnhof schmerzverzerrt die Ohren zuhält. Immer wieder fliehen im Laufe des Konzerts Pärchen aus den vorderen Reihen mit zusammengezogenen Schultern und geducktem Kopf vor den Bassdrumschlägen und Strobo-Attacken.

Eine mannshohe Batterie LED-Strahler flankiert die Bühne im Halbrund und setzt die Musik des Duos in Licht um. In Momenten der Eskalation wirbeln die Scheinwerfer herum wie ein außer Kontrolle geratenes Kirmeskarussell, bei kühl-melancholischen Crowdpleasern wie „Crimewave“ tauchen sie alles in fahl-gleißende, neonviolette „Bladerunner“-Verlorenheit.

Die beiden Verantwortlichen werden von ihrem eigenen Spektakel beinahe ausgelöscht. Nur als geisterhafte Schatten flackern sie inmitten des Neonlichts auf, den Schlagzeuger sieht man gleich gar nicht. Ethan Kath steht stoisch hinter seinen Maschinen, manchmal wippt der Zipfel seiner Mütze im Takt. Alice Glass tanzt wie ein entrückter Derwisch herum, obwohl sie sich kurz vor dem Konzert eine Kopfwunde zugezogen hat, klammert sich an ihren Mikroständer, ist aber ganz woanders. Verloren schreit sie mit dünner Stimme gegen das gewaltige Nintendo-Chaos von Nummern wie „Alice Practice“ an oder schwebt mit vocodierter Traurigkeit über sphärische Flächen. Oft sieht man sie nicht mehr, und man denkt, sie sei nun endgültig von Licht und Lautstärke gefressen worden, dabei liegt sie nur am Boden. Wenn die Bühne in einer der wenigen Verschnaufpausen völlig dunkel ist, sieht man das Aufglimmen ihrer Zigarette. Direkte Kommunikation mit dem Publikum bleibt aus. Man soll sich in diesem digitalen Sturm verlieren. Nach mitreißenden 60 Minuten muss das Knacken ausgestöpselter Kabel als „Dankeschön“ herhalten.

Setlist

Plague

Baptism

Suffocation

Crimewave

Wrath Of God

Telepath

Black Panther

Alice Practice

Reckless

Cryptocracy (Cover eines Huoratron-Songs)

Sad Eyes

Not In Love

Insulin

Intimate

Yes No