The Shirts


Bands mit 'ner Sängerin sind derzeit angesagt wie nie, speziell wenn sie aus New York kommen und auch noch zum Stamm der Gruppen gehören, die regelmäßig im berühmten CBGB's-Club auftraten. Die Shirts mit Annie Golden sollen nun auch das europäische Publikum erobern. Die Debut-LP versprach schon eine ganze Menge, doch live waren sie im Londoner Marquee noch ein wenig schwach auf der Brust.

Einem älteren Asterix-1 Heft zufolge griffen Cäsar Legionen die britisehe Insel stets zur lunch-time oder zur tea’time an – weil die Einwohner zu eben diesen Zeiten, unbeirrt vom aktuellen Geschehen, ihre Traditionen zu ( pflegen pflegten. Und heutzu- * tage? Kommt ein unwichtiger Journalist wie ich durch Taxisuche und Verkehrsstauung zehn Minuten zu spät zum verabredeten Interview ins Londoner EMI-Büro, dann hat er Pech, wenn die Uhr 12.10 Uhr anzeigt. Dann nämlich zuckt der Pförtner die Achseln und murmelt: „It’s lunch-time, y’know“ – „Um drei Uhr sind die Herrschaften zurück.“

Auf diese Art durch die Tradition, die unumstößliche, um ein Gespräch mit Annie Golden gebracht, muß ich mich denn auf das beschränken, was am Abend vorher im Londoner Marquee Club geschah: The Shirts live. Zunächst mal hatte ich eigentlich einiges erwartet, denn das Debutalbum „The Shirts“ (siehe ME 9/78) klang abwechslungsreich, ziemlich, eingängig und führte vor allen Dingen mit Annie Golden eine junge, ausbaufähige Sängerin vor.

Doch der Abend im „Marquee“ ließ mich dann doch wieder zweifeln. Abgesehen davon, daß fast die Hafte des Publikums aus deutschen Touristen bestand, von denen einige den gewissen Ferien-Punk-/ Look angelegt hatten, agierte da eine Band, die absolut durchschnittlich wirkte. Artie Lamonica (g), Ronnie Arditio (g), John Cristione (dr), Bob Racioppo (bg) und John Picollo (keyb) spielten adrett und sauber, ließen jedoch genau das vermissen, was das Album auszeichnet: Gelassenheit und Pfiff. Live wirkte die Band verkrampft und ließ nicht besonders viel Dampf ab, obwohl der Schweiß in Strömen floß. Aber das war den Temperaturen im Marquee zuzumessen, die von herkömmlichen Thermometern wohl nicht mehr zu erfassen waren.

Annie Golden, die Sängerin mit einigen Vorschußlorbeeren, mußte sich zeitweise sogar von den mitsingenden Artie Lamonica und Ronnie Arditio in den Hintergrund abdrängen lassen. Was die Vermutung nahelegen könnte, Annie Golden’s Stimme bedürfe hin und wieder einiger Lifts durch die Studiotechnik. Sei’s drum, immerhin hat Annie vor einiger Zeit die Rolle der Jeannie in Milos Forman’s Verfilmung des Hippie-Musicals „Hair“ singen und spielen dürfen – und Forman („Einer flog übers Kuckucksnest“) gilt als Regisseur mit Kennerblick.

Für diese Rolle wurde Annie im New Yorker CBGB’s-Club entdeckt, wo sie mit den übrigen Hemden regelmäßig auftrat. Der legendäre Sampler „Live From The CBGB’s“ enthält denn auch drei Shirts-Songs, und mittlerweile weiß man, daß fast alle auf diesem Album vertretenen Bands was geworden sind. Warum also sollten’s die Shirts nicht schaffen? Das Sextett stammt aus Brooklyn, hat anscheinend hier einige entscheidende Einflüsse aufgesogen und sich in mehreren Clubs die nötige Routine angespielt.

Warum hat gerade London dann so einschüchternd auf sie gewirkt? Nervosität scheint keine unbekannte Größe speziell bei Annie Golden zu sein. Dies hat die Sängerin mit ihrem Idol Judy Garland gemeinsam. Wer Annie nach dem Marquee-Auftritt erlebt hat, muß sich gefragt haben, wann die Dame ihren ersten Kreislaufkollaps erlebt. Das zierliche Persönchen trat von einem Fuß auf den anderen, verschränkte die Arme in dauernd neue Posen und hechelte: „Ich will nicht die Debbie Harry des armen Mannes sein“.

Womit Annie eines der beiden Hauptprobleme der Shirts erkannt hat. Die Band wird derzeit in England und auch bei uns im Kielwasser von Blondie gepusht, und stets muß Annie dabei als Galeonsfigur herhalten. Und mit dieser Rolle ist sie halt noch reichlich überfordert. In Pressetexten wird sie als märchenhafte Kind-Göttin dargestellt, die weit über den pummeligen (?) Runaways, der Plastikschönheit (?) Debbie Harry oder dem „Pferdegesicht“ (?!) Patti Smith stehe… Was tun Presse und Plattenfirmen der Annie da an? Nichts weniger als die frühzeitige Verheizung. Wie das Marquee-Konzert zeigte, hat Annie gesanglich noch einiges zu lernen; ihr Vorteil dabei ist, daß sie genügend Talent dafür besitzt.

Mit ihrem zweiten Problem stehen die Shirts nicht allein da: Jede derzeit auftauchende New Wave-Band muß bereits gegen die erste Generation kämpfen – Blondie kennt man halt schon seit eineinhalb Jahren, aber die Shirts??? Nun, die Shirts haben ein recht schwaches Konzert gegeben, anderswo sollen sie aber auch schon mit Bravour bestanden haben. Und ihre Platte ist wirklich sehr hörenswert. Wenn die Hemden im Konzert vielleicht noch ein wenig zwicken, im Studio sitzen sie bereits prächtig.