Berlin Festival


Der lange Arm der Loveparade erreicht Tempelhof und geht Fatboy Slim an die Gurgel.

Zunächst ist kein großer Unterschied zur hier eben noch ausgetragenen Modemesse Bread & Butter festzustellen: Sauber auf chaotisch frisierte Kids im mit Neonaccessoires modernisierten Vagabundenlook von Dexy’s Midnight Runners stolzieren über das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Stichwort: stolzieren. Dieses Festival verfügt über keine angeschlossenen Campingplätze, aus denen mit Tetrapacks fragwürdigen Inhalts beklebte Überlebenskünstler herübertorkeln könnten. Es ist Freitagnachmittag, man kommt eben grade aus der Schule, dem Szenecafé oder hat heute ganz einfach die Boutique früher zugesperrt.

Dementsprechend spät entsteht Stimmung. Vielleicht soll das dem Festival zum Verhängnis werden. Doch der Reihe nach: An dieser sind nach unwürdig frühem Aufwärmprogramm von Blood Red Shoes und Adam Green (mit Spezialgast Macaulay Culkin beim Scorpions-Cover „Wind Of Change“) auf der Mainstage genannten Hauptbühne LCD Soundsystem. James Murphy, erfrischend unstylisch in Polohemd und Jeans, setzt auf die Hits – „Drunk Girls“, „Daft Punk Is Playing At My House“, „All My Friends“. Was bleibt ihm bei einer Stunde Spielzeit auch anderes übrig? Hätte er nicht eben noch gestanden, seine Band sei trotz aller anders lautenden, die Promotion zum aktuellen Album begünstigenden, Aussagen keinesfalls am Ende, dieser Auftritt hätte einen effektvollen Abschluss abgegeben.

Danach ein weiterer Abschied auf Zeit – diesmal von den Editors, die nach dem Berlin Festival erst mal pausieren wollen. Die wohl dauerhaft als düster wahrgenommene Band, deren einzig düsteres Element aus dem Bariton von Sänger Tom Smith besteht, feiert und feuert die große Rockshow mit Pyroeffekten und gewaltigem Lichteinsatz ab.

Gewaltig und gewalttätig präsentieren sich danach die seit Beginn des Jahres wieder live auftretenden Atari Teenage Riot. Elf Jahre sind seit ihrem letzten Gastspiel in Berlin vergangen – elf Jahre, in denen sich ihre Digital-Hardcore-Anhängerschaft wohl großteils beruhigt hat und aufs Land gezogen ist. Außer den offensichtlichen, weil zumindest bei „Hits“ wie „Destroy 2000 Years Of Culture“ und „Deutschland (Has Gotta Die!)“ springenden Fans in den ersten beiden Reihen zeigt sich das Publikum in der halbvollen Seitenhalle Hangar-4-Stage unkundig ob dieses nie nennenswerte Nachahmer gefunden habenden Spektakels. Das ultraaggressive, fast bis ins Übersinnliche verzerrte Breakbeat-Geknalle verursacht Überwältigung, die sich teils in Belustigung, mehrheitlich aber in Schockstarre ausdrückt. In einer der wenigen Sekunden Ruhe stammelt ein Besucher: „Das … das ist die Zukunft“. Er ist offenbar kein Kind der Neunziger. Mit der Ansage „Unser nächster Track ist von 1993“ macht Alec Empire denn auch deutlich, dass die Musik nicht mehr ganz neu ist. Später hält er noch die Klischeerede des in die Jahre gekommenen Rockstars: „Wenn man uns damals erzählt hätte, dass wir 2010 auf dieser Bühne stehen würden … Dieses Konzert ist für uns supersuperwichtig … “ Immerhin bricht die Ansprache irgendwann: Es gehe ATR nicht darum, mit ihrer Botschaft die „hippen Arschlöcher in irgendwelchen Clubs“ zu erreichen. Mit Verlaub, viele Besucher dieses Konzerts dürften sich – bei ausreichendem Reflexionsvermögen jedenfalls – jetzt etwas beleidigt fühlen.

Dennoch kippt die Laune erst eine Stunde später, als gegen 2.30 Uhr sowohl der Auftritt von 2 Many DJs als auch die restliche Festivalnacht abgebrochen werden. Der mit Sicherheitsschleusen versehene Zugang zur Hangar-4-Stage droht bei einem Ansturm von über 10.000 Menschen erwartungsgemäß zu verstopfen. 2 Many DJs müssen von dort verschwinden, Fatboy Slim braucht gar nicht erst zu kommen. Duisburg-Paranoia und übertriebene Vorsicht vermutende Besucher werfen mit Flaschen, beschimpfen das Sicherheitspersonal, räumen enttäuscht das Gelände. Vielen von ihnen bleiben dem zweiten Tag der Veranstaltung fern.

Ihnen entgehen die spannendste Neuentdeckung des Festivals, die mit drei Gitarristen ausgestattete PowerProg-Band Fang Island aus Brooklyn Überraschend energetisch gibt sich die Band des wohl zu Unrecht längst abgeschriebenen Tricky, obwohl der meist kiffend im Hintergrund herumlungert, während vorne die Sängerin Franky Riley stark agiert. Die als schweineunantastbar geltenden Gang Of Four irritieren ihre Fans, die sich von den geistigen Vätern Franz Ferdinands möglicherweise Lektionen in Coolness erhofft hatten, mit einem rockismusstrotzenden, mikrowellensmashenden Auftritt voll großer Gesten und mit weit aufgeknöpftem Lederblouson.

Soulwax versuchen erfolgreich, ihr verloren gegangenes DJ-Set als 2 Many DJs mit einem Zwitterkonzert aus Indierock und Electrobeats zu kompensieren. Chilly Gonzales, diesmal in schwarzem Bademantel gekleidet, besteigt wie gewohnt zum Zuschauerplaisir sein Klavier. An einer Stelle bittet er eine junge Frau aus dem Publikum zu sich, sie soll einfach nur immer wieder zwei Töne auf dem Klavier spielen. Die junge Frau erweist sich als klavierfit und führt die Anweisung des Meisters feherfrei aus. Auch auf die Ablenkungsversuche Gonzos (immer wieder herrscht und schwitzt er sie an: „Bist du denn kein bisschen nervös? Macht dich ein verrückter, haariger, schwitzender Jude wie ich etwa nicht nervös?“) reagiert sie vorbidlich, nämlich nicht. Ach ja, und Hot Chip. Die sind ja so gut wie immer, auch hier. Nach ihnen, bald nach 23 Uhr wird das Festival, wie schon am Vortag angekündigt, der Sicherheit zuliebe beendet.

Was bleibt sind die Aussicht auf ein bereits diskutiertes Ersatz-Event mit vielen der Acts, die hier nicht zum Zuge kamen, und der Rat an die Veranstalter: Wenn man den Besuchern schon so viel von dem Line-up nimmt, wofür diese gezahlt haben, dann möge man ihnen doch bitte nach Anbruch der Nacht auch die Sonnenbrillen nehmen.

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