Crash Test Dummies


Zuerst waren Travis tot, dann brach sich der Drummer das Genick, und nun sind sie wieder quicklebendig. Klingt seltsam? Ist es auch. Aber dennoch die reine Wahrheit.

Es ist eine tragische und komische Geschichte zugleich: An einem sonnigen Nachmittag im Juli des letzten Jahres schlurfte Neil Primrose zum Pool seines Hotels in Frankreich, das Handtuch über die Schulter gelegt. Er stieg auf den Startblock. Ging in die Hocke. Faltete seinen Körper zusammen wie eine Feder, um ihn ins Wasser schnellen zu lassen. Dann stieß er sich ab. Tauchte ein. Tauchte zu steil ins Wasser, sein Kopf prallte mit voller Wucht auf den Boden des Beckens – und so brach sich der Schlagzeuger von Travis das Genick.

Nach seiner Bergung diagnostizierten die bestürzten Ärzte drei zertrümmerte Halswirbel und prognostizierten dem Musiker, er würde nie wieder trommeln können. Er solle sich freuen, nicht querschnittsgelähmt und überhaupt noch am Leben zu sein. „Bevor Neil in diesen beschissenen Pool sprang, war Travis faktisch tot“, sagt Fran Healy: „Die Tour, der Stress, wir hatten keinen Sprit mehr und waren völlig ausgebrannt. Der Unfall kam, und wir waren wieder da. Wir haben gelernt, dass Travis nicht die Marke ist, die die Plattenfirma daraus gemacht hat. Travis sind vier Freunde, Punkt.“ So weit die Katastrophe. Und die Komik?

Nun, wenn man Neil Primrose und Sänger Fran Healy heute, mehr als ein Jahr nach dem Unfall, in ihrem Kölner Hotelzimmer trifft, scheint es nichts Besseres als diesen Unfall und nichts Lustigeres als Neils Rekonvaleszenz zu geben. Fran Healy springt sogar, die langen Haare unter einer Baseballmütze verborgen, auf und torkelt, die Hände weit von sich gestreckt, durchs Hotelzimmer: „Am Tag nach der Operation kam Neily an und konnte seine Arme nicht bewegen. Seine Hände sahen aus, als hätten sie mit dem Körper nichts zu tun – wie geschwollene Würste. Wir sagten: ,Verdammt, setz’dich hin‘, aber er meinte nur: .Nein, nein, irgendwann muss es ja weitergehen – warum also nicht jetzt?'“. Neil lächelt milde über Frans komödiantische Einlage und sagt: „Natürlich hätte ich mich auch für ein Jahr auf die Couch setzen und mich durchs TV-Programm zappen können. Aber ich glaube nicht, dass ich dann so schnell genesen wäre. Ich habe zwar manchmal Flashbacks, meistens nachts. Das ist nicht schön. Aber das einzige, was mich heute noch körperlich an den Unfall erinnert, ist dieses Kribbeln in den Handspitzen.“

Der Unfall bescherte der Band die erste echte Pause seit vier Jahren, seit sie mit the man who I1999I zu Stars und mit the invisible band {2001) zu Superstars geworden waren: beide Alben auf Platz 1, Singles wie „Sing“ oder „Side“ mindestens in den Top 20. Das macht, neben der Freude, eben auch eine Menge Arbeit. Sechs Monate verbrachte Neil in der Rehabilitation. Sechs Monate, in denen die Gruppe zu sich selbst kommen konnte. „Es war einfach zu viel“, sagt Fran, „Wir hatten zuletzt 400, vielleicht 500 Konzerte gegeben. Irgendwann kommst du an einen Punkt, wo du es einfach nicht mehr packst, wo der Kuchen zu groß wird. Anfangs freust du dich noch, ober irgendwann hast du dich überfressen. Plattenfirmen wissen nicht, wann man aufhören muss. Daran wären wir um ein Haar zerbrochen“.

Aus Freunden waren inzwischen Geschäftspartner geworden, aus der Kunst ein lukratives Geschäft. Dann sprang Neil in den Pool, und von einem Tag auf den anderen brachen alle Kontakte zu Presse und Plattenindustrie ab. „Es war ideal, erzählt Fran, „denn es wirkte auf alle wie ein Befehl, sich zu verpissen. Es brauchte sowas Schreckliches wie diesen Unfall, um uns die Meute vom Hals zu schaffen. Doch selbst dann kamen sie an und forderten: .Sucht euch einen neuen Drummer, nehmt einen Produzenten, schreibt Hitsingles ‚ – solche Sachen. Wir sagten nur: fuck off, losst uns wir selbst sein. Denn dos ist es, weshalb wir einst eingekauft wurden Und das ist es, was wir verloren hatten, weil die Industrie sich ständig einmischt.“

Ein verteufeltes Paradoxon: Travis sind berühmt für ihren flockigen, unbeschwerten und hochharmonischen Pop. Für Hits, die sie einfach so aus dem Ärmel zu schütteln scheinen. So melodisch und schön, dass es manchem Kritiker fast zu viel des Guten ist. Aber sobald diese Gabe zum Kapital wird, muss sie ausgebeutet und zu Markte getragen werden was wiederum an die Wurzel des Phänomens rührt. Weil der Kommerz den Zauber korrumpiert, der die Hits erst möglieh gemacht hat: „In einer Band sein, das ist wie eine Ehe“, räsoniert Fran: „Du hast eine Beziehung, du hast Kinder-die Songs. Dann werden die Kinder älter, du wirst älter, und die Leidenschaft schwindet. Wenn du dann nicht genau aufpasst, wirst du die Magie vielleicht nie wiedergewinnen. Wir gingen noch Muli, um zu sehen, ob diese Magie noch da ist. Und sie war noch da, Gott sei Dank.“

Um Ruhe ZU haben, quartierten sich Travis Ende 2002 in einem alten Bauernhof auf der schottischen Halbinsel Mull ein. Im März erst sollte die Arbeit am neuen Album beginnen. Ferien sollten es werden, eine Auszeit, um zu sich selbst zu finden. Einserseits. „Andererseits“, erzählt Fran, „wollten wir nach acht Monaten unbedingt wissen, ob es noch geht, ob wir noch zusammen spielen können.“ Sie konnten, und so nahmen sie eine alte Scheune in Beschlag: „Wir mussten lange Stoffbahnen aufhängen, weil die Akustik mies war. Aber ständig haben wir komponiert und gebastelt. Es lief so gut, dass wir im Februar zurückkehrten, um dort das ganze Album einzuspielen.“ Und zwar ohne Nigel Godrich, den viel gepriesenen Produzenten, der nicht nur Radiohead und Beckauf die Beine geholfen, sondern auch the invisible band den letzten Schliff verpasst hatte. Zuletzt hatten Travis und God-rich in Los Angeles gearbeitet, und eigentlich hätte der Mann auch 12 memories produzieren sollen. Aber die produktiven Ferien in Schottland änderten alles:“.Es ist ja eigentlich völlig egal, wo du deine Platte aufnimmst. Wenn wir im Studio sind, arbeiten wir konzentriert an der Musik. Der größte Unterschied zwischen Los Angeles und Schottland war, dass wir in L.A. Nigel hatten und in Schottland nur uns selbst.“ Ein Nachteil, den Travis ins Positive wendeten: „Du kannst sagen: „Lass es uns mal so versuchen“, ohne dass der Produzent kommt und sagt: „Das habe ich schon auf kid a probiert und es hat nicht geklappt“. Produzenten sind Hebammen. Wir hoben jedoch im Laufe der Zeit genug gelernt, um es selbst zu versuchen.“

Selbstermächtigung ist das Zauberwort. Nicht tun, wozu andere drängen. Sondern das Geschick in die eigenen Hände nehmen. Und dafür dann auch die Verantwortung übernehmen. Was, bei Licht betrachtet, schrecklich nach Erwachsenwerden klingt. „Erwachsen “ aber ist eine Kategorie, die im Kosmos von Travis schlicht nicht vorgesehen ist. Nicht, dass die Schotten „um die 30“ dem Jugendwahn verfallen wären aber ein schlichter Song ist nun mal zugänglicher als ein vertrackter. „Wir sind naiv!“, meint Fran Healy fröhlich, und Neil Primrose sekundiert: „Auf Naivität blickt man gerne herab, als sei sie gleichbedeutend mit Dummheit. Ist sie nicht. Wir sind einfach nur unvoreingenommen und vertrauen dabei auf unser Gefühl, auch auf Zeichen und Omen, mehr nicht.“

Im Pyjama wollen Travis die meisten Songs des neuen Albums komponiert haben. Ein besonders gemütliches Gefühl stellt sich ein, wenn bei Demo-Aufnahmen am Kaminfeuer eine schnurrende Katze auf dem Schoß sitzt. Fran Healy konnte sich der Akustik des Tieres nicht entziehen, als er gerade „Walking Down The Hill“ einspielte:. .Ichmusste nur noch dos Mikrophon ein bisschen nach unten drehen, um dieses herrliche Schnurren aufzunehmen. Das ist etwas anderes, als wenn du dir extra eine Katze ins Studio holst, um sie aufzunehmen…“ – „… und ihr Kopfhörer aufsetzt!“, bemerkt Neil, und beide lachen herzlich über diese skurrile Vorstellung. „Achte mal drauf“, sagt Fran, „wenn ich singe ,Go to sleep‘, dann kommt rechts dieses chrrrrr, das ist meine Katze“.

Nicht auszudenken, was Nigel Godnch von diesem Einfall gehalten hätte.

Überhaupt ist 12 memories die reinste Tier- und Naturschau. „Paperclips“ etwa ist ein trauriger Song, der durch das sublime Gewinsel eines Hundes noch trauriger wird. „Es war der Köter eines Freundes, der einfach den ganzen Tag lang Geräusche von sich gegeben hat“, sagt Fran: „Als wir endlich auf den Trichter gekommen waren, das mal aufzunehmen, gab er keinen Ton mehr von sich. Totale Funkstille. Stundenlang haben wir versucht, ihn zum Sprechen zu bringen, und am Ende mussten wir winzige Stücke zusammenschneiden, damit es reichte“. Das Ergebnis ist bezaubernd und erinnert an den jaulenden „Seamus“ auf meddle von Pink Floyd. Während aber „Seamus von dem Hund selbst handelt, erzählt „Paperclips“ von einer verfehlten Liebe. Während Fran tapfer davon singt, er wolle das Gesicht der Verflossenen nie wieder sehen, sekundiert und präzisiert dieses tierische Winseln die menschlichen Gefühle besserals alles, was sich mit Instrumenten oder Stimmen herstellen ließe. Es spricht für Travis, dass solche smarten Details nicht kalkuliert sind, sondern dem selben Zufall entspringen wie das ganze Album. Sympathisch, dass sogar der schottische Landregen, mit dem der Hidden Track unterlegt ist, nicht aus der Konserve kommt: „Wir hatten ein Mikro mit langem Stativ, das ich nur nach oben halten musste, um den Regen aufzunehmen. Original schottischer Landregen. Wir dachten, dass es passen könnte. „

Es passt, sitzt, wackelt und hat Luft. Und ist doch von einer Schönheit, die misstrauisch machen kann. Denn während Radiohead mit elektronischen Exkursen sozusagen die Ringe des Saturn erforschen, während Coldplay alle Rekorde brechen, da spielen Travis mit ihren Haustieren und nehmen das schlechte Wetter auf. Nett und liebenswert mag das ja alles sein. Cool ist es aber nicht. „Die Musikpresse findet uns auch nicht cool“, sagt Fran: „Vielleicht, weil es eine englische Presse ist und wir eine schottische Band sind – Schotten und Engländer sind eben sehr verschieden.“ Was aber noch nicht das Problem mit der Coolness aus dem Weg räumt.

Dass Travis zwar als nett, nimmer aber als besonders clever gelten, scheint ihnen einmal viel Kopfzerbrechen bereitet zu haben: „Was Leute an uns nicht mögen, das ist die Ehrlichkeit. Das mag vielen einfach zu viel sein, das kann ich verstehen.“ Inzwischen haben sie ihren Frieden mit der öffentlichen oder zumindest veröffentlichten Meinung gemacht. Und eine eigene Meinung ertauben sie sich auch darüber, was wirklich cool ist und was nur „cool“, wie Fran enthusiastisch erläutert; „Pass auf, es gibt für mich zwei Arten von Coolness. Mein Großvater, der war richtig cool. Er trug immer einen Anzug, wie ein Gentleman, und hatte einen Haufen Schrullen. Im Bus machte er immer Gleichaltrigen den Platz frei-da worer schon weit über70. Er mochte mich, er mochte die Band, er besuchte mich auf der Art School und wir konnten zusammen Billard spielen. Er liebte einfach junge Leute, er war offen und stolz und ehrlich und witzig. Eine andere Form von Coolness ist das, was du in Lifestyle-Magazinen beobachten kannst. Leute, die irgendwas anziehen und irgendein Gesicht machen, um ihre eigentliche Gewöhnlichkeit zu verbergen. Da geht es ständig: .Schau, was ich kann!‘ und .Schau, was ich weiß‘. Ich meine, wen interessiert’s? Es ist langweilig. Denn diese .coolen‘ Leute kommen meistens aus privilegiertem Elternhaus und betasten die Welt mit weichen Handschuhen, durch die du die Kälte nicht spürst. Du weißt nicht, was Schnee ist, wenn dich dein reicher Voter in einem beschissenen Geländewagen zur Schule chauffiert. Es geht nicht um Dinge, die Geld kosten. Es geht um Wahrheit.“ „Why Is It Always Raining‘ von the man who war für Fran Healy ein Schlüsselerlebnis. Als er diesen entwaffnend eingängigen Song 1999 den anderen vorstellte, waren sich alle schnell einig: „Scheiße, jeder wird dieses Lied lieben“. Und sofort meldete sich ein schlechtes Gewissen zu Wort: Vorsicht, das ist zu zugänglich, zu süß:

„Also haben wir s ein bisschen langsamer gemacht und daran herumgebastelt“, erinnert er sich: „Dabei war es einfach ein guter Song. Neulich habe ich ihn wieder im Radio gehört. Und ich dachte, verdammt, wir hätten ihn in der ursprünglichen, flotten Version einspielen sollen“. Einerseits.

Andererseits war „Why Is It Always Raining“ nicht nur Travis‘ erster Hit-die Woche, als die Single veröffentlicht wurde, war die regenreichste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Britannien. Zeichen und Omen.

„Du kannst natürlich‘ . meint Fran Healy, während er aufsteht und die Kaffeekanne holt, „auch vertrackte, komplizierte Musik machen wie Rodiohead. Wir können das nicht. Wir können nicht aus unserer Haut und wollen uns nicht verstellen“, sagt er und gießt dem ME-Reporter nebenbei und ungefragt frischen schwarzen Kaffee nach. Es ist die unausgesprochene, zentrale Botschaft dieses Interviews: Diese Leute sind von einerungeschminkten, beschämenden Bescheidenheit. Und deswegen nehmen wir es Fran Healy gerne ab, wenn er sagt, Travis seien noch für zehn, zwölf Platten gut. Hoffentlich ohne Genickbruch. Und, danke, ohne Zucker.