David Bowie


Die Zeit der Maskeraden ist passe. David Bowie das Rock-Chamäleon, das den Glitter-Rock allererst erfand - distanziert sich heute von seiner schillernden Vergangenheit. Im ME/Sounds-Interview gibt der neue, "positive" Bowie erstmals Einblick in seine wundersame Wandlung.

ME/Sounds: Auf der Pressekonferenz gestern nachmittag fiel mir auf, wie häufig du das Wort „positiv“ verwendest: positive Texte, positive Musik, positive Perspektiven. Was ist dran an dem neuen, „positiven“ Bowie?

Bist du etwa Ron £ Hubbards Sekte „Scientology“ beigetreten, die ja auch ständig das Wort „positiv“ auf den Lippen hat?

Bowie: „Nein, um Gottes willen (lacht). Das brauch‘ ich gar nicht; dazu bin ich ja viel zu positiv“ (lacht).

ME/Sounds: Aber was ist denn dran an diesem überraschenden Gesinnungswandel? Was war der Anlaß? Oder ist das nur eine neue Maske, die du dir zugelegt hast?

Bowie: „Ich hatte aufgehört, Musik zu machen. Zwei Jahre lang hatte ich mich aufs Filmen konzentriert und auf Theater-Produktionen wie ,Baal‘ und ,Elephant Man‘. Also hatte ich nach diesen zwei Jahren eine Entscheidung zu treffen; ob ich überhaupt zurück zur Musik wollte – und wenn ja. warum?

Und mir wurde klar, daß ich diesen Schritt nicht hätte machen können, wenn ich nicht wirklich an die Musik geglaubt hätte, die ich von nun an machen wollte; wenn ich nicht davon überzeugt gewesen wäre, mit dieser Musik etwas Sinnvolles zu leisten. Ich wollte keinen nur oberflächlichen. Wirbel.

Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen, wo in der Rockmusik wieder soziale Beobachtungen und Wertungen gemacht werden können. Und zwar in einer ganz einfachen und unkomplizierten Art und Weise.

Und das habe ich mit dem neuen Album begonnen. Ich hoffe, die nächste Platte wird in dieser Hinsicht noch überzeugender ausfallen.

Aber es ist nicht leicht, Musik in dieser Art zu schreiben; zumal für jemanden wie mich, der ein so großer Formalist ist, der es liebt, mit Text-Konstruktionen zu spielen. Das ist harte Arbeit.“

ME/Sounds: Gab es denn vor zwei Jahren einen Punkt in deinem Leben, an dem du dich selbst dazu überreden mußtest, wieder mit Musik anzufangen? Gab es Zweifel, ob du…

Bowie: „Ja. Ja, es gab Zweifel. Ich wollte mich selbst nicht als ständigen Experimenteur sehen. Die Welt ist derzeit in einem so gefährdeten Zustand, daß mir bewußt wurde, daß ich jetzt – wenn überhaupt – etwas Konstruktiveres mit meiner Musik machen sollte.“

ME/Sounds: Mit anderen Worten: Es ist an der Zeit, daß die Rockmusik einen frischen, „positiven“ Neuanfang macht?

Bowie: „Genau, Es ist irgendwie der Zeitgeist, sich heutzutage hinter einem ausgeprägten Nihilismus zu verstecken. Ich selbst fand das jedenfalls immer sehr einfach, in diese Rolle zu schlüpfen. Und das wollte und mußte ich abschütteln.

Einfache und ehrliche Songs zu schreiben schien inzwischen aber ein unglaubliches Klischee geworden zu sein. Ich habe mir gedacht; „Moment, hier ist doch was faul. Solche Songs müssen doch einfach gemacht werden!“

ME/Sounds: Gab es denn konkrete Erfahrungen in deinem Leben, die dieses Verantwortungsbewußtsein ausgelöst haben?

Bowie: „Ich glaube, es entstand dadurch, daß ich meinem Sohn Antworten auf seine Frauen geben mußte, je älter und intelligenter und wahrnehmungsfähiger er wird, desto schwieriger werden seine Fragen. Man muß sich dann schon einiges durch den Kopf gehen lassen.

Und das kann deine Perspektive verdammt verändern. Du kannst nicht mehr der ewige Rock ’n‘ Roller bleiben; du kannst nicht bis an dein Lebensende Teenager spielen. Mein Sohn wird jetzt 12 Jahre alt und ist wirklich auf der Höhe seiner inquisitorischen Fragen …“

ME/Sounds: Um die Frage noch einmal zu wiederholen: Das ist nicht alles ein neues Bowie-Image, das du jetzt genauso kreierst wie m früheren Jahren?

Bowie: „Nein (lacht). Nein. Ich glaube, es fing alles auf meiner letzten Tournee 1978 an. Damals wurde mir klar, daß ich meine Musik natürlicher und realistischer auf die Bühne bringen wollte.

Das war durchaus ein langsamer und fortschreitender Prozeß. Keine radikale Umkehr, wie es heute vielleicht aussehen mag. Das Gefühl wurde stärker, je älter ich mit meinem Sohn wurde.

Das Zusammengehörigkeitsgefühl einer kleinen Familie trägt sicher dazu bei, sich verstärkt Gedanken über die Zukunft zu machen. Und trägt auch dazu bei, positiver zu denken. Negativ zu denken ist einfach zu einfach.“

ME/Sounds: Nun bist du ja derjenige.

wesen, der das extrem Gestylte überhaupt erst in die Rockmusik eingeführt hat. Noch heute gibt es unzählige Bands, die von diesem Erbe zehren. Es ist doch schon ein wunderlicher Vorgang, daß du selbst heute…

Bowie: „Ja, das ist wirklich eine Ironie des Schicksals, das stimmt. Aber ich glaube doch – durchaus mit Stolz – sagen zu können, daß mein früheres Material ebenso stark in seinem Inhalt wie in seiner Präsentation war.

Ich glaube, daß viele der heutigen Bands hohl sind; hinter der Fassade gibt es nichts, was man fassen könnte. Sachen auf LOW oder selbst auf DIAMOND DOGS haben eine Substanz – etwas, was man fest umreißen kann. Aber richtig: Es wurde damals in einer sehr stilisierten Form präsentiert.“

ME/Sounds: Du machst also jetzt wieder eine unorthodoxe Kehrtwendung: Wo andere Musiker nach ausgefallenen Ausdrucksformen suchen, gehst du zurück auf vergleichsweise gängige Ausdrucksmöglichkeiten …

Bowie: „Ja, ich vermute, so muß das von außen aussehen … In meinen neuen Songs liegt die Betonung nicht mehr auf Synthesizern, statt dessen auf dem Optimismus des frühen Rhythm & Blues, durchaus auch auf der Möglichkeit, bei den Aufnahmen technische Fehler zu machen. Das war auch ein Grund dafür, das Album so schnell zu produzieren. Sämtliche Titel wurden mit nur ein oder zwei takes aufgenommen.“

ME/Sounds: Hast du eigentlich verfolgt, welche Entwicklung Leute wie Lou Reed oder Pete Townshend in letzter Zeit genommen haben? Da scheinen doch Veränderungen stattgefunden zu haben, die mit deinen eigenen parallel laufen.

Bowie: „Ja, das stimmt. Einige von uns gingen durch eine sogenannte dekadente Phase und tauchen nun wieder auf. Ich vermute, so etwas passiert, wenn Rock ’n‘ Roll reifer wird und in die Jahre kommt.

Allzu oft ist das ja noch nicht passiert. Die meisten von uns sind tot. Und die, die es überlebt haben, kommen heraus-als … Du mußt irgendwann einmal eine Entscheidung treffen und den Nervenkitzel, die Panik und die Verzweiflung eines Teenagers hinter dir lassen. Du mußt dir im klaren werden, daß es nichts Schlimmes ist, 36 Jahre alt zu sein. Und daß du der Welt noch immer was zu sagen hast. Und zwar für andere 36jährige. Man muß lernen, sich in dieser neuen Situation wohlzufühlen.

Denn wenn du das nicht tust, wirst du dein ganzes Leben lang nach Strohhalmen im Wind greifen. Und wirst dein ganzes Leben lang den zornigen jungen Mann spielen. Natürlich kann man nach wie vor zornig sein, aber vermutlich doch in einem gemäßigteren Ton.“

ME/Sounds: Wenn du von „positiven“ und sozial relevanten Themen redest, die du von nun an in deine Songs aufnehmen willst: Woran denkst du da konkret? In welche Richtung könnte das gehen?

Bowie: „Wenn man älter wird, redet man in allgemeineren Bezügen. Wenn du jünger bist, greifst du dir irgendein Detail heraus. Nehmen wir beispielsweise ,Panic In Detroit‘. Das ist eine Vignette, ein kleiner Ausschnitt einer Wirklichkeit, wie sie sich in eben dieser Gegend abspielt.

Die Suche nach dem Inhalt eines Songs wird heule… humanistischer. Ich schreibe über die Beziehung zwischen zwei Leuten, über emotionale Beziehungen. Was letztlich durch seine umfassendere Perspektive mehr ausdrücken kann als der konkrete Ausschnitt einer Wirklichkeit.“

ME/Sounds: Politik fängt bei dem Zusammenleben von zwei Personen an…

Bowie: „Exakt. Eines meiner Lieblingsstücke auf der neuen LP ist übrigens ein alter Song, den ich zusammen mit Iggy Pop geschrieben habe, ,China Girl‘. Ein Song über die scheinbar angeborenen nationalistischen Gefühle im Kopf eines Engländers, wenn er mit Einwanderern anderer Rassen konfrontiert wird.

Der Song ist durchaus auch zornig, aber er ist es in einer liebevollen Art und Weise. Er will sagen: Wenn sich die Lebensumstände verschlechtern, ist es so verdammt einfach, in eine nationalistische Pose zu fallen.

ME/Sounds: Gestern hast du gesagt, auf deinen Platten würdest du hin und her schwanken zwischen Stilübungen einerseits und emotionaler Substanz andererseits. Heute bist du, wie du selbst sagst, wieder stärker am Inhaltlichen interessiert. Ist das der Schlußpunkt einer Entwicklung – oder kannst du dir vorstellen, daß das Pendel wieder zur anderen Seite ausschlägt?

Bowie: „Ja, ich habe die Angewohnheit, zwischen beiden Polen hin- und herzupendeln. Ich vermute, es kommt daher, daß ich immer interessiert war, wie Kunst gemacht wird, wie sich die Bausteine zusammenfügen:

Manchmal schlägt mein Engagement, meine Leidenschaft in Desinteresse um. Ich frage mich dann: ,Das ist wirklich interessant, wie das funktioniert. Was würde passieren, wenn du das andersherum machst? Wie würde die Musik, wie würde der Text dann klingen?‘ Es besteht bei mir eine tiefsitzende Unsicherheit, wieweit man in die eine oder andere Richtung gehen soll. Zur Zeit aber habe ich mich von der formalen Seite völlig gelöst.

Das ist auch der Grund, warum ich mich von meinen alten Musikern getrennt habe. Sie sind aufgrund meiner früheren Arbeit so konditioniert, daß sie automatisch in Verhaltensweisen fallen würden, die ich im Moment nicht will. Ich will Musiker, die nichts anderes als ihre eigene Musik im Kopf haben.“

ME/Sounds: Eine der schillerndsten Figuren unter deinen neuen Musikern ist sicher Gitarrist Stevie Ray Vaughn, der ja genau die Blues- und R&B-Tradition vertritt, die du in deiner neuen Musik wieder aufleben lassen willst. Wie bist du an ihn gekommen?

Bowie: „Ich sah ihn zum ersten Mal beim Montreux Jazz Festival, wo er, glaube ich, mit Buddy Guy oder einem anderen Blues-Veteranen spielte. Stevie klingt fast genau wie Albert King, er ist der beste Blues-Gitarrist, den ich seit zehn Jahren gehört habe. Er ist genauso überzeugend wie Clapton in seinen Anfangsjahren. Er wird bei vielen Leuten für offene Münder sorgen. Sein älterer Bruder spielt übrigens bei den Fabulous Thunderbirds. Aber dieser Junge hier ist einfach noch eine Klasse besser. Er ist absolut atemberaubend.

Nile Rodgers, der Produzent des Albums, der ja selbst ein ausgezeichneter Gitarrist ist, hatte anfangs seine Bedenken. Ich sagte zu ihm: .Ich möchte noch einen jungen Gitarristen aus Texas mitbringen. Er ist phantastisch!‘ Darauf Nile: ,But will the white kid from Texas play the blues?‘ Und ich sagte ihm: ,You’d better believe it!‘ Als er ihn dann im Studio hörte, haute es Nile glatt um. Wo andere Gitarristen 15 Noten brauchen, macht er es mit zwei. Aber diese zwei Noten treffen auf den Punkt.

Das Gute an Stevie ist auch, daß er mein altes Material spielen kann. Denn auf der Tour bringen wir ja auch Songs von HEROES, LODGER und LOW. Ich freue mich, mit ihm auf die Bühne zu gehen.“

ME/Sounds: Wenn du heute zurückblickst auf die verschiedenen Phasen deiner Karriere, auf die Masken, Verkleidungen, Images wie erlebst du das heute? Gibt es bestimmte Phasen, zu denen du keinen Bezug mehr hast? Gibt es Dinge, derer du dich schämst?

Bowie: „Wenn man davon ausgeht, daß ein Künstler einen Prozeß durchleben muß, um seine Reife zu finden… nicht einmal seine Reife! Um ein Selbstverständnis zu finden, um Widersprüche aus seinem Leben zu schaffen. Wenn man es also so sieht, dann haben meine früheren Platten sicher ihren Wert.

Andererseits sind es keine Erfahrungen, zu denen ich zurückkehren möchte. Die Musik von damals lief eben parallel zu meinem Alter und zu meinen persönlichen Erfahrungen. Und ich möchte nie und nimmer wieder 29 sein. Niemals! Ich bin froh, da raus zu sein. Aber es ist, glaube ich, doch ein interessantes Stück Arbeit, das auf diesem Weg entstand. Allerdings: Meine alten Platten spiele ich nicht mehr oft.“

ME/Sounds: Welche Platten sind es denn, die du noch am ehesten hörst?

Bowie; „LODGER ist einer meiner Favoriten. Ich mag es, weil es das erste Album war, auf dem ich anfing, so etwas wie ,humanistische Statements‘ zu machen. Einen Teil von LOW mag ich auch. Aber wie gesagt, ich höre sie sehr selten.“

ME/Sounds: Was hörst du sonst noch an neuer Musik?

Bowie: „Das einzig Neue, was mir in letzter Zeit gefallen hat, ist ,Satyagraha‘ von Philip Glass. (Eine Gandhi-Oper, bisher auf LP unveröffentlicht. – Red.) Eine außergewöhnliche Musik. Ich habe lange nicht mit Philip gesprochen – aber beim Hören dieser Musik hatte ich den Eindruck, daß auch er in emotionalere, humanistischere Bereiche vorstößt. Und ich frage mich wirklich, ob das zur Zeit nicht viele von uns fühlen.

Vielleicht ist es so, daß die 70er Jahre ein riesiges Versuchsfeld waren – Versuche von Neu-Definitionen und Neu-Einschätzungen. Und falls das der Fall ist, können wir vielleicht in den 80ern das sinnvoll nutzen, was wir gelernt haben. Können vielleicht die Bruchstücke zusammenbekommen, um realistische Statements zu machen, wie wir die Welt gerne haben möchten.

In den 70ern haben wir damit herumgespielt, wie die Welt aussieht ich habe das jedenfalls getan. Gegen Ende der 70er Jahre schaut man sich dann die Songs an, die man damals geschrieben hat – und denkt sich. Mein Gott, die Welt sieht beschissen aus! Und damit kommt man automatisch zur anderen Seite der Münze: ,Wie möchte ich denn, daß die Welt aussieht? Und diese Überlegung führt einen dann dahin, in seiner Musik realitätsbezogener und humanistischer zu werden. Nicht in der Art des frühen Bob Dylan mit seiner glamourösen Mystik! Es sollte heute handwerklicher und simpler sein. So etwas wie die ,Arts & Crafts‘- Bewegung um die Jahrhundertwende …

Puh, das klingt ganz schön geschwollen, aber ich weiß nicht, wie ich es besser ausdrücken sollte. Ich kann nur hoffen, daß meine neue Musik selbst die Erklärungen liefert,“

ME/Sounds: Ist das eigentlich eine Einstellung, die von anderen dir bekannten Musikern oder Künstlern geteilt wird?

Bowie: „Bei einem Mann wie Nile Rodgers trifft das ganz sicher zu. Aber der hat als Schwarzer natürlich eine viel stärkere Motivation, er kommt aus einem anderen kulturellen Background, er hat Sachen auf dem Herzen, die die Situation der Farbigen in den USA betreffen.

Ich kann nur über meine Kultur schreiben, über den Terror und die Ängste, die in der Zukunft liegen. Und das empfinde ich als ein schwieriges Unterfangen.

Bei Philip Glass etwa höre ich diese Einstellung auch aus seiner Musik. Aber ich habe seit langem nicht mehr mit anderen Musikern geredet, seit langem nicht mehr…“

ME/Sounds: Was hat es eigentlich mit der Oper über Abraham Lincoln auf sich, die bei der Olympiade ’84 in Los Angeles aufgeführt werden soll – und bei der neben dir noch Leute wie Philip Class und David Byrne von den Talking Heads mitwirken sollen?

Bowie: „Der Regisseur Robert Wilson ist der Katalysator dieser Geschichte. Er ist ein großer Charmeur, er hat uns alle zu dieser Sache überredet.

Wie weit das Projekt fortgeschritten ist, weiß ich nicht. Robert versucht gerade, einen riesigen Geldbetrag zusammenzubekommen, weil dieses Projekt Millionen kosten und nie einen Gewinn einspielen wird.

Ursprünglich sollte ich einen Teil der Musik schreiben, aber aufgrund der Tour und der nächsten LP war das völlig unmöglich. Also habe ich Philip Glass vorgeschlagen – und David Byrne oder Iggy Pop für die Lyrics. Philip Glass und Iggy Pop – das wäre doch einmal eine ungewöhnliche Kombination!

Iggy ist wahrscheinlich einer der unterbewertetsten Poeten in Amerika. Nicht unterbewertet als Rockmusiker, aber als Texter ist er unglaublich stark.“

ME/Sounds: Hast du eigentlich die freie Entscheidung darüber, wann du dich mit Musik, Film oder Theater beschäftigst? Oder kann es passieren, daß du gerne Musik machen würdest, aber durch einen langfristigen Film-Vertrag gebunden bist?

Bowie: „Doch, ich bin frei in meinen Entscheidungen. Was passierte, war folgendes: Am Ende der Dreharbeiten zu ,The Hunger‘ war ich eigentlich bereit, wieder mit Musik anzufangen. Aber dann kam plötzlich Oshima und sagte, daß er in drei Wochen mit dem Filmen von ,Merry Christmas, Mr. Lawrence‘ anfangen wollte. Er hatte es mir schon vor zwei Jahren angeboten, konnte damals aber das Geld nicht zusammenbekommen, weil er Ärger mit der japanischen Zensur hatte. Dadurch passierte es, daß beide Filme nahtlos ineinander überliefen.“

Er hat sich viele Feinde gemacht – durch „Im Reich der Sinne“ und was er über den japanischen „way of life“ zu sagen hatte. Ich befürchte, er wird auch mit seinem neuen Film anecken – weil er nun mal ein Linker ist, wenn auch inzwischen nicht mehr so extrem wie früher.

Er erzählte mir einmal von einer interessanten Bewegung: Er und Mishima (radikalerjapanischer Schriftsteller, der Selbstmord beging – Red.) machten einmal ein gemeinsames TV-Interview, als sie beide in ihrer radikalsten Phase waren; Oshima extrem links und Mishima extrem rechts. Das Entsetzliche war, daß sie in jedem, aber auch wirklich jedem Punkt übereinstimmten.

Dieses Beispiel zeigt einfach, was passiert, wenn man sich in extreme, gefühllose, inhumane Positionen treiben läßt. Wenn man in extrem „linke“ oder „rechte“ Positionen gerät, kommt die Menschlichkeit, die Liebe einfach zu kurz. Sie wird neutralisiert.

Man denkt sich: O.K., wir kümmern uns wieder um die Menschlichkeit, nachdem wir die gesellschaftlichen Probleme gelöst haben. Aber das ist einfach unmöglich! Das Verständnis, die Liebe zu den Menschen muß in jeder Phase vorhanden sein. Vielleicht könnte ein gesellschaftlicher Wandel sonst schneller ablaufen, aber es wäre eben eine ungesunde Geschwindigkeit.

Oshima ist also in seinem neuen Film durchaus gemäßigter, verständnisvoller als früher. Aber was er über Japan im 2. Weltkrieg zu sagen hat, wird für seine Landsleute nicht so leicht zu schlucken sein. Denn letztlich behauptet er, daß eine gesamte Nation komplett ausgeklinkt ist, verrückt geworden ist.

Ich befürchte nur, daß viele der Zusammenhänge dieses Filmes von einem westlichen Publikum nicht verstanden werden können. Genau wie bei „Mephisto“, den ich als ganz außergewöhnlichen Film empfand, der aber für ein nicht-deutsches Publikum wohl nicht in voller Konsequenz verständlich ist.

ME/Sounds: Dein zweiter Film, ‚der m diesen Tagen in die Kinos kommt („The Hunger“), hat ja nicht nur eine völlig andere Thematik, sondern entstand auch unter anderen Bedingungen, insofern er von einer großen US-Filmfirma produziert wurde.

Es ist schon ein sehr gut gemachter Film, dem aber irgendwie das Gefühl abgeht und in dem es vielleicht auch ein wenig zu blutig zugeht. Einige Szenen sind für mich abstoßend, andere wieder ganz amüsant. Es ist kein allzu substanzieller Film, aber eingedenk des amerikanischen Publikums könnte es trotzdem ein großer Erfolg werden.

Im Gegensatz dazu war die Arbeit mit Oshima so ziemlich die künstlerisch befriedigendste Situation, in der ich je gewesen bin. Es war wie ein Workshop.“

ME/Sounds: Verspürst du eigentlich nicht den Wunsch, einmal selbst Regie zu führen?

Bowie: „Doch. Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen, aber ich habe folgendes vor: Martin Scorcese möchte einen Workshop ms Leben rufen – und zwar für Leute, die seiner Meinung nach gute Regisseure werden könnten. Er hat einige Bekannte aufgefordert, Ideen für 30minütige TV-Filme zu entwickeln. Er schlug beispielsweise vor, wir sollten uns Gedanken über Dichter machen, deren Werk man für Film umsetzen kann. Die zwei Ideen, die ich im Moment habe, war einmal Lou Reed als Delmore Schwartz (Lou Reeds einstiger Lehrer -Red.) oder aber ein Film mit Susan Sarandon als Diane Arbus, der Fotografin, die soviel Einfluß gehabt hat.

Ich möchte also so etwas gerne machen und hoffe, daß Martin Scorcese vielleicht Anfang nächsten Jahres das Geld zusammen hat. Es ist heute unglaublich schwer, Geld für ein Projekt zu bekommen, das nicht ganz offensichtlich ein kommerzieller Erfolg wird. Das ist auch ein Vorteil dieser kurzen TV-Filme: Man hat nicht unbedingt sein ganzes investiertes Vermögen in den Sand gesetzt, wenn sich der Film als Flop erweist.

Außerdem möchte ich unbedingt irgendwann einmal mit Iggy Pop als Schauspieler zusammenarbeiten. Iggy ist einfach der Prototyp des Anti-Helden. In seinem Privatleben ist er sogar noch verletzlicher, auch noch amüsanter als auf der Bühne. Sein Leben ist ein einziger Witz. Das genaue Gegenteil zum typischen Rock ’n‘ Roll-Idol. Es ist ein einziges Chaos. Er ist ständig unterwegs, kein Schwein kauft seine Platten, sein Leben ist ein ständiger Fluß von ,one night Stands‘.

Er ist an einen Punkt gekommen, wo er einfach keinen Überblick mehr hat. Sein Leben ist manchmal ein einziger Horror. Inzwischen sollte er sich eigentlich etwas zurückgelegt haben, um etwas cooler über seine Zukunft nachzudenken, aber er kann es einfach nicht. Der Zustand würde seine Fähigkeiten als Schreiber beeinträchtigen. Es wäre gut, wenn er nicht so oft auf Tour wäre, damit er zu Hause mehr schreiben kann.“

ME/Sounds: Wenn du bei Dreharbeiten zu einem Film bist: Existiert Musik dann für dich in irgendeiner Form, holst du bildlich gesprochen abends manchmal die Gitarre raus?

Bowie: „Ich habe festgestellt, daß ich dadurch, daß ich in diesen Phasen selbst keine Musik mache, verstärkt begonnen habe, Musik zu hören Ich werde dann zum ersten Mal wieder ein Teil des Publikums.

Denn es kann dir als Musiker schnell passieren, daß du allzu analytisch mit deiner Musik umgehst. Wenn du selbst im Prozeß des Musikmachens steckst, fällt es du- sehr schwer, Musik zu hören, ohne sie analytisch auseinanderzunehmen.

Wenn ich filme, werde ich zum Publikum. Ich höre wieder Musik, ohne sie intellektuell analysieren zu müssen. Und das empfinde ich als sehr angenehmen Nebeneffekt der Dreharbeiten.“

ME/Sounds: Kannst du dir vorstellen, wie du in Zukunft deine Zeit einteilen willst zwischen all deinen Ambitionen? Es scheinen mit der Zeit ja immer mehr zu werden.

Bowie: „Nun, dieses Jahr wird wohl mit Tourneen ziemlich ausgefüllt sein. Eine Sache, die ich in Zukunft verstärkt verfolgen werde, ist das Medium des Promotion-Videos. Das ist eine wundervolle Plattform: Du hast vier Minuten Film, der alle paar Tage irgendwo auf der Welt gezeigt wird – und zwar einem viel größeren Publikum, als es reguläre TV-Filme haben.

Man sollte diese Plattform also benutzen und in vier Minuten tatsächlich etwas sagen. Und nicht nur Promotion für die Platte oder den Musiker zu machen. Das ist einfach!

Genauso wie der Protestsong in den 60er Jahren eine Plattform war, genauso könnte es das Promo-Video für die 80er Jahre sein. Man könnte ,Protest-Promos‘ machen, wenn ich mir das recht überlege. Das ist ein Medium, das noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Inwieweit solche Videos ausgestrahlt werden, steht noch auf einem anderen Blatt. Ich bin auf die Reaktion gespannt, wenn das ,Let’s Dance‘-Video in Australien gezeigt wird.

Ich habe – soweit das einem Außenstehenden möglich ist – einen Kommentar gegeben über die Situation in Australien, wo die Eingeborenen völlig außerhalb der Gesellschaft leben. Es ist praktisch eine Apartheid-Situation.

In Queensland passiert es beispielsweise, daß die Eingeborenen ihre Drinks an der Rückseite der Bar kaufen und sich auf die andere Straßenseite setzen müssen. Und das in einem brandneuen Land! Und doch gibt es nicht die Chance einer Koexistenz!“

ME/Sounds: Im „Let’s Dance“-Video, bei dem du ja selbst Regie geführt hast, gibt es eine Szene, in der die beiden jungen Eingeborenen, die ansonsten am Rande der Gesellschaft leben, plötzlich mit Kreditkarten m den teuersten Geschäften einkaufen. Was soll das bedeuten?

Bowie: „Das ist eine Situation, die in Australien einfach nie eintreten könnte. Für die Eingeborenen ist das nichts als ein Traum. Und für die Australier wäre es ein Schock.

Angesichts solcher Umstände ist es leicht, die Hände im Schoß zu falten und nichts zu tun. Aber es ist auch nicht schwer, zumindest ein wenig dagegen zu unternehmen.

Im Moment ist es für mich nur ein Anfang. Wenn ich meiner selbst sicherer geworden bin, kann ich vielleicht mehr tun. Ohne dabei oberflächlich und ignorant zu sein. Sondern human zu bleiben. Das ist das einzige Problem. Und dazu muß man sich zunächst einmal mit sich selbst beschäftigen.“

Nach fünfjähriger Tournee-Pause fair seine Rückkehr ins Rampenlicht in angemessenem Rahmen statt. Im noblen Londoner Clearidge-Hotel empfing Bowie gleich eine ganze Hundertschaft ungeduldiger Journalisten zur Pressekonferenz. Bowie, braungebrannt aus seiner zweiten Wahlheimat Australien zurück, sprach von seinen beiden neuen Filmen, von Tournee-Plänen und den positiven Perspektiven, die er für sein Leben gefunden hat. Im Anschluß an den 30minütigen Smalltalk gab er ME/Sounds als einziger deutschen Musikzeitschrift ein ausführliches Interview, in dem er sich als der aufgeschlossenste und artikulierteste Gesprächspartner erwies, den man sich nur wünschen kann. Selbst auf persönliche Fragen nach seiner Vergangenheit, nach der eigenen Einschätzung seiner früheren Musik und Masken gab Bowie offen und bereitwillig Auskunft.