Die 70er


Blättert man durch diese ersten, noch in Den Haag produzierten Jahrgänge des „Musik Express“ (zwei-Wort-Schreibweise bis in die späten 70er), erlebt man ein Popheft mit Wurzeln im Teeniegeschäft, das erst dabei ist, eine Identität als Musikmagazin mit kritischem Anspruch zu finden. Der augenfälligste Unterschied zum späteren ME ist die Bildlastigkeit in den frühen Jahren. Vom passfotogroßen Schwarzweißbild über die „Mittelposter“-Doppelseite bis zu mehrseitigen Strecken: Fotos sind in Zeiten, da die meisten anderen Medien Pop und Rock noch ignorieren, die heiße Währung unter Fans; Texte und Interviews fassen sich kurz, das Gros der aktuellen Information findet auf den „Neues aus der Popwelt“-Seiten statt.

Die Riege an Heftlieblingen in dieser Frühphase – viele begleitet der ME mitunter bis heute – kann sich freilich sehen lassen. Da sind die Recken der 60er: die (bald Ex-)Beatles, Rolling Stones, Beach Boys, Who, Hendrix, Jethro Tüll, Halbgott Clapton, Wunderkind Winwood, Pink Floyd, diese neue Band des John-Mayall-Schülers Jimmy Page. Da sind die Woodstock-Newcomer Joe Cocker, Santana, Ten Years After und Crosby. Stills, Nash & Neil Young, kommende Stars wie Rod Stewart und David Bowie (klar der König der Dekade), Pop-Acts wie Bee Gees, Elton John und Melanie, der aufkommende Deutschrock sowie die „harte Welle“ ä la Deep Purple, dazu die unvermeidlichen „holländische Topformationen“ wieShocking Blue, die den Rekord der meisten Homestorys in der ME-Geschichte halten dürften. Noch tungiert die Leserbriefseite „Leser Express“ als Forum für Autogrammadrcss wünsche, Fanfragen und Präsentationsfläche für Selbstgezeichnetes, im September 1969 schickt Leser Michael Strubel gar ein selbst geführtes Interview mit Roger Waters ein. Doch zwischen Fotos, Songtexten, der monatlichen Kurzgeschichte, einei Witzeseitc etc. regt sich allmählich der „moderne“ ME. Der erste Schritt dorthin ist die Einführung einer Rubrik, die die Kernkompetenz eines Musikmagazmes darstellt: Im Januar 1971 erscheint der ME erstmals mit einem Plattenteil, „Long Play-Look“ genannt, der aber erst ab 1976 über drei Seiten wächst (Höchstwertung: fünf Sterne; die „******“ gibt’s erst seit 1980). Immer mehr berichten Reporter direkt von der Rockszene. Die Texte werden gehaltvoller, der Zugang zu Bands direkter, nicht zuletzt, weil die heimische Szene immer wichtiger wird.

Bereits Mitte der 70er beginnt die historisierende Aufarbeitung des Rock, seit Ende 1973 gibt’s im ME eine regelmäßige „Special Story“ über eine Band oder ein Thema. 1975 wird das Heft an einen deutschen Verlag verkauft und ab jetzt in Deutschland gemacht – und immer „erwachsener“ und journalistischer. Es wird vermehrt mit musikunabhängigen Geschichten experimentiert: In Reportagen {„Ausländerviertel -Kulturelle Gegensätze auf engstem Raum“, „Hauptschulabschlitss was nun?“) werden die politisch bewegten 70er spürbar. Andere solche Storys wiederum hinterlassen einen noch heute so ratlos wie schätzungsweise die Leser damals: Man nehme etwa das dreiteilige Special über Charlie Chaplin und die wohl in der ME-Historie einzigartig deplatzierte Blechspielzeug-Story (!?) „Spielzeug von gestern – heute hoch im Kurs“ im Oktober 1975. Die „naive Phase“ des ME ist Ende 1975 vorbei, die Texte sind gewürzt mit einem gesunden, manchmal ins Paranoide spielenden Misstrauen gegenüber den „Plattenkonzernen“. Und als ab 1976 Punk die Spielregeln im Rock durchschüttelt, verfolgt der ME erfrischt, aufund angeregt die Entwicklung – freilich ohne sich die bilderstürmerische Wut im Herzen der „neuen Rockwelle“ zueigen zu machen: Manfred Mann, Wishbone Ash, die McCartneys, Bryan Ferrys und Stones stehen in diesen Heften ganz natürlich neben Stranglers, Television und Sex Pistols. Ende des Jahrzehnts liegt schließlich ein ME vor, der von dem der Früh-70er Lichtjahre weiter entfernt scheint als von einem Heft der OOer-Jahre.