Die Augenzeugen


Bernd Gockel war von 1981 bis 1994 Chefredakteur und steuerte den ME vom Mittelalter in die -politisch korrekte - Neuzeit.

Du bist ja heute noch „in der Branche“ – als Chef des Rolling Stone. Was sind die fühlbarsten Unterschiede beim Musikheftmachen damals und heute? Die Einführung von Computern und Desktop-Publishing war eine Wasserscheide. Nicht zu glauben, dass man noch vor gut 15 Jahren Letra-Set rubbelte und an der Reprokamera drehte, bis eine Headline auf, sagen wir, 77 Prozent runtervergrößert war. Der Sprung vom Mittelalter in die Neuzeit. Und damals war jeder Morgen wie Weihnachten: In der Post waren T-Shirts, Sweat-Shirts, Regenschirme, Sonnenschirme, Badetücher und noch absurdere Nettigkeiten, mit denen die Musikindustrie das Wohlwollen auf ihre Produkte lenken wollte. Heute freut man sich ja schon, wenn man mal eine richtige CD bekommt.

Aus heutiger Sicht verwundert etwas die Häufung von nackter Haut und Ausdrücken wie „Neger“ in den 80er-Heften. War das in der

Prä-Political-CorrectnessÄra normal, oder wart ihr „frech“? Unvergessen die Worte des damaligen Verlegers: „Herr Gockel, die jungen Leute denken zunächst mit dem Schwanz, erst dann mit dem Kopf.“ Deshalb gab es damals das „Promo-Girl“ im nassen T-Shirt und viel Appolonias und Samantha Foxes. Ich kann mich dunkel erinnern, dass ein Mitarbeiter gegen den Gebrauch des Wortes „Neger“ protestierte – worauf ich antwortete, dass besagte Zeitgenossen sich doch selbst als „niggaz“ bezeichneten. Dann sagte man stattdessen „Black/Schwarzer/ Farbiger“, aber nach ein paar Jahren war das auch nicht mehr PC, bis man sich – vorläufig – auf „Afroamerikaner“ einigte. O Wunder der politischen Korrektheit! Was waren so deine musikalischen Steckenpferde, und konntest du die auch ein bisschen reiten? Meine missionarischen Ideale sind eher unterentwickelt.

Mein privater Musikgeschmack hat sich nur bedingt mit den Inhalten des Hefts überschnitten.

Hast du irgendwelche Lieblingsanekdoten, die du mit uns teilen magst?

Alle meine Lieblingsanekdoten sind nicht druckreif: zu viel Sex und Drugs. Aber schön bizarr war das vierstündige Interview mit Keith Richards 1986. Leider hatte ich nur eine C-60 Cassette dabei, die ich immer wieder umdrehte – was Keith aber nicht im Geringsten irritierte.

Kannst du dich an redaktio- nelle Katastrophen erinnern?

Eine Story über den damaligen Spliff- und Nena-Manager Jim Rakete – Headline: “ Rakete explodiert“ – machten wir 1986 mit einem doppelseitigen Foto des kurz vorher explodierten „Challenger“-Space Shuttles auf. War wohl keine gute Idee. Gab auch gleich eine Rüge vom Presserat.

Tessas. Noch mehr Skandale?

Thomas Anders von Modern Talking hatten wir als „höhensonnengegerbte Sangesschwuchtel“ bezeichnet. Er zog vor Gericht und bekam zunächst 70.000, in zweiter Instanz dann 10.000 Mark Schmerzensgeld zugesprochen. Wäre der Richter Germanist gewesen, hatte er eigentlich schnallen müssen, dass „Sangesschwuchtel“ nichts anderes als „die Schwuchtel des Gesangs“ war – also völlig zutreffend und in keiner Weise ehrenrührig. Hast du je Weises fürs Leben von einem Musiker gelernt? Oder umgekehrt? Nee.