Die Stunde der Wahrheit


Ja, Josef Winkler kommt uns schon wieder mit seiner Tochter, aber dann sehr massiv mit Bonnie Tyler und einem Geständnis. Besser so, Jenny aus Pankow?

Machen Sie mit beim Flirtmarathon!“, empfiehlt mir mein E-Mail-Anbieter in einer seiner „Info“-Mails. Ja, klar, sonst noch was? Mir steht hier das Wasser bis zum Hals, es brennt an allen Ecken und der Papst steppt, wo soll ich die Zeit hernehmen, jetzt auch noch beim Flirtmarathon mitzumachen? Und überhaupt hab ich grad schon länglich mit meiner niedlichen Tochter geflirtet auf dem Wickeltisch. Einschub: Wenn Sie sich fragen, was muss jetzt der aber wirklich in JEDER Kolumne mit seiner niedlichen Tochter daherkommen? – es hilft leider nichts; I get weak in the presence of beauty. Seien Sie froh, dass ich kein Songschreiber bin. (Seien Sie, mal abgesehen von meiner Tochter, generell SEHR froh, dass ich kein Songschreiber bin; um Himmels willen!) Der Flirt, gleichwie, endete im Fiasko. Sie schimpft und schreit jetzt, weil ich sie angezogen habe. Sie fühlt sich dann wie ein Stück Fleisch behandelt, vermute ich, wenn man sie einfach her- und anzieht. Wie ein kleines Stück Fleisch, das man in Frottee einwickelt.

Schlimm ist der Ohrwurm, der mich plagt, seit ich Wikipedia die mir (peinlicherweise?) neue Information entrang, Conor Oberst habe einst den Namen Bright Eyes nicht etwa dem gleichnamigen Art-Garfunkel-Lied entlehnt, sondern der 80s-Songwuchtbrumme „Total Eclipse Of The Heart“ von Bonnie Tyler. Nun mag man sich lieber vorstellen, wie der Teenager Conor Oberst auf eine hochdramatische, tatsächlich mit kompositorischem Schmackes aufgeladene Powerballade (Jim Steinman!) abfährt als auf so eine windelweiche Kaninchenschnulze. Ich aber habe beim gestrigen Versuch, mir nach Erhalt besagter Information via YouTube Gedächtnisauffrischung über besagte Powerballade zu verschaffen, einen Ästhetik-Unfall erlitten. Mangels eines „official videos“ klickte ich auf eine der angebotenen sonstigen Versionen. Sogleich fing ein bläulich ausgeleuchtetes Pseudostreichorchester an, haltlos Pompöses zu streichen, eine „1“ im Eck verriet den Mitschnitt einer ARD-Show jüngeren Datums. (Was hat es nur auf sich mit der verzweifelten Vorliebe der breiten Masse der deutschen Popkonsumenten, wie sie sich in den Albumcharts darstellt, für haltlos pompös Gestrichenes? Kaum wird wo Klassikpathos verzapft und knödelnd Opernhaftigkeit behauptet, also sozusagen Hochkultur-Ersatzmasse eingespritzt – Bum! Top Ten.) Und während sie ihr Intro strichen und ich auf Bonnie Tyler wartete und mich fragte, ob das bei solchen TV-Orchestern dann immer echte Musiker sind und wie behämmert die sich wohl fühlen, wenn sie vor aller Augen zum Playback das Streichen pompösen Quatsches simulieren – stand plötzlich Florian Silbereisen da. Und fing an zu singen. „Total Eclipse Of The Heart“. Auf Deutsch. Mit einer ganz … abgründigen Stimme, so. Hinzu trat Bonnie Tyler, recht alt und rauschgoldenglisch, fiel mit dem nun in dramatisches Wiegen verfallenen Silbereisen ein, und ein Gefühl von irrationaler Scham überkroch mich: Wer mich jetzt so sähe, könnte zweierlei annehmen. Der schaut sich das an, weil er’s gut findet. Oder der schaut sich das an, weil er’s so schlecht findet, dass es schon wieder gut ist. Beides war mir gleich peinlich, hektisch klickte ich das Fenster weg.

Und nun sitz ich da, ich Tor, und muss mir eingestehen, Silbereisen-Trauma hin oder her, dass ich „Total Eclipse Of The Heart“ eigentlich nicht so schlecht finde. Und dass ich Bonnie Tyler, die ich jahrzehntelang als Proto-Rockröhre verachtete, vielleicht etwas unrecht tat. Da ist schon ein irgendwie delikates Raspeln, hie und da, in dieser Stimme … Was schauen Sie denn so? Ich dachte, jetzt ist 80s-Revival, da geht so was schon mal. Außerdem hab nicht ich mit Bonnie Tyler angefangen. Sondern der Oberst.

P.S.: Und ja, ich kenne das „literal video“ von „Total Eclipse“. Herrlich. Sind wir uns mal wieder einig.