Helden im Hinterland – Der ganz normale Wahnsinn


Nachdem sich gerade Nachwuchs-Regisseur Prince mit seiner Nabelschau "Under The Cherry Moon" reichlich blamiert hat, zieht es nun einen weiteren US-Musiker an die Kino-Front. Mit weitaus größerem Erfolg: David Byrne, Oberhaupt der Talking Heads, nimmt in "TRUE STORIES" den dumpfen amerikanischen Kleinstadt-Alltag aufs Korn. Das Resultat ist ein bunter Mix aus Comedy, Dokumentarfilm und Musical, bei dem natürlich auch avantgardistische Elemente nicht fehlen. Ein neuer Kultstreifen? Peter Jebsen sprach in London mit dem 34jährigen Jungfilmer.

Bisher war eigentlich alles klar in Sachen David Byrne. Er entsprach dem Prototypen des einsamen Künstlers: Aus seinen Songs sprach der grübelnde Intellektuelle, der sich seine neurotischen Phantasien von der Seele schreibt; auf der Konzertbühne erschien er als hyper-nervöser Performer, dem man den „Psycho Killer“ ohne weiteres abnahm —- und als Gesprächspartner schließlich wirkte er schon immer unsicher und zurückhaltend, mühevoll nach Worten ringend.

Sein Debüt als Film-Regisseur paßt da irgendwie nicht so recht ins Bild. Denn wer sich da etwa auf einen bedeutungsschwangeren Experimentalfilm gefaßt machte, hat sich gehörig getäuscht. Mit „True Stories“ ist David Byrne ein lockerer Spielfilm gelungen, der origineller, witziger und streckenweise sogar anrührender ist als die Konfektionsware, die momentan hiesige Kinos verstopft.

Erstes Lob strich Byrne in der „New York Times“ von Jonathan Demme ein, dem mehrfach ausgezeichneten Regisseur des Talking Heads-Konzertfilms „Stop Making Sense“. „Wenn irgendjemand das erzählerische Kino wieder aus dem Sumpf herausholt, in dem es sich zur Zeit befindet, dann ist das David Bvrne!“

Geboren wurde das aktuelle Filmprojekt 1983 aus Langeweile. Um sich während der „Stop Making Sense“-Tournee vom eintönigen Alltag zu entspannen, begann David Byrne, „wahre Geschichten“ aus Magazinen, religiösen Traktaten und anderer „Literatur“ zu sammeln.

Vor allem das hanebüchene amerikanische Sensationsblatt „Weekly World News“ hatte es ihm angetan: „In der Titelgeschichte geht es grundsätzlich um Leute, die UFO’s getroffen haben, oder um Babies mit zwei Köpfen. Aber im Inneren der Zeitung gibt es oft kleinere ‚human-interest‘-Stories, wie zum Beispiel die über eine Familie, die ein sehr merkwürdiges Verhältnis zueinander hatte: Mutter und Vater sprachen nicht mehr miteinander; aber sie hatten das Gefühl, glücklich verheiratet zu sein! Ich fand, daß solche Geschichten einiges über die Menschen an sich ausdrückten …“

Willkommen also zum Kuriositäten-Kabinett des David Byrne! Ort des Geschehens ist Virgil/Texas, ein fiktives Städtchen, dessen Bevölkerung aus ehrenhaften Kleinbürgern und liebenswert-ausgeklinkten Originalen besteht.

Da wäre beispielsweise das seit 31 Jahren „sprachlose“ Ehepaar Culver aus den „Weekly World News“ oder — ebenfalls diesem Blatt entsprungen — die „faulste Frau der Welt“, die den ganzen Tag fernsehenderweise im Bett verbringt und sich von vorn bis hinten bedienen läßt. Selbst die Seiten ihrer Fernsehzeitschrift werden maschinell umgeblättert!

„Ich befasse mich mit Geschichten, die einfach so beknackt sind, daß sich die Leute bisher noch nicht damit abgegeben haben, eine Meinung dazu zu bilden“, beschreibt Byrne seine Zelebration des alltäglichen Wahnsinns. „In meinem Film gibt es keine zusammenkrachenden Autos, keinen echten Sex, keine Monster, worauf es im Kino schon automatische Reaktionen gibt. Bei mir geht es um Dinge, bei denen man sich noch nicht entschieden hat, wie man darauf reagieren soll. Wenn du beispielsweise von der Frau im Bett hörst — ist die nun extrem faul oder hat sie einen Dachschaden ? Ich finde, in diesem Fall ist sie einfach nur sehr erfinderisch!“

Den roten Faden liefert Byrne in seinen „True Stories“ selbst. Als eine Mischung aus Märchenonkel, Fernseh-Reporter und staunendem Besucher von einem fernen Planeten führt er sein Kinopublikum durch die verschrobene Wunderwelt amerikanischer Kleinstädte, in denen hinterwäldlerische Schlichtheit und die moderne Technologie-Gesellschaft zusammenprallen.

„Es ist einfach, sich über solche Orte und ihre Bewohner lustig zu machen. Aber auf ihre Art sind die Charaktere meines Films auch eine Art Avantgarde. Sie passen sich nicht dem an. was alle anderen tun. Man muß ihnen dazu gratulieren, daß sie die Stärke haben, ihr ‚Ding‘ durchzuziehen — egal, wie lächerlich es erscheinen mag!“

Byrne sagt’s und lacht selbst lauthals los, als er ans echte Vorbild seiner Filmfigur „The Cute Woman“ zurückdenkt — eine Malerin aus Los Angeles, die von ihrem eigenen Geld Sendezeit bei einer kleinen Fernsehstation kauft und sich dann eine halbe Stunde lang dabei beobachten läßt, wie sie kitschige Kätzchen und Hunde-Babies auf die Leinwand zaubert. Dabei brabbelt sie mit schriller Stimme vor sich hin, wie „süß“ das alles doch sei. und wie man die Augen der Welpen zum Funkeln bringe.

Um die schräge Kleinstadtwelt auch optisch adäquat umzusetzen, griff Byrne auf seine Erfahrungen als Kunststudent an der Rhode Island School of Design zurück, die er einst gemeinsam mit seinen Band-Gefährten Chris Frantz und Tina Weymouth besucht hatte. Schon während er seine Zeitungs-Stories sammelte, brachte er seine visuellen Ideen zu Papier; er skizzierte mögliche Kamera-Einstellungen, Produktions-Designs und optische Szenenfolgen.

Durch seine Sorgfalt im Detail wirkt sein Film in Bildern, Farben und Ausstattungs-Gimmicks ebenso durchgestylt wie Julien Temples hohles 50er-Jahre-Musical „Absolute Beginners“, bei dem Form vor Inhalt ging. In „True Stories“ dagegen verband Byrne beides zu einer schlüssigen Einheit, die Auge und Kopf anspricht.

Selbst Fashion-Fans kommen dabei voll auf ihre Kosten. Kostümbildnerin Adelle Lutz kreierte für eine Modenschau in Virgils Shopping Mall eine ganze Palette wilder Gewänder, die Mastermind Byrne als „großstädtische Tarnkleidung“ („urban Camouflage“) bezeichnet: Anzüge im Mauer-Look mit Ziegelstern-Muster, Ensembles aus Gras und Eichenblättern und — für die vollschlanke Kundin — eine Stoff-Hochzeitstorte zum Anziehen.

Mit dem Drehort Texas stand Byrne ein wichtiger Nebendarsteller zur Seite. „Zu Anfang hat man mich mit dem Argument hingelockt, daß das Drehen dort billiger sei; aber dann habe ich begonnen, Land und Leute wirklich zu lieben“, berichtet Byrne, der als Erzähler übrigens der einzige ist, der in Virgil/Texas einen Cowboy-Hut trägt.

„Heute gibt es in Texas nicht mehr allzu viele Cowboys, aber es herrscht dort immer noch ein sehr unabhängiger Geist. Auch wenn die Texaner dabei nicht unbedingt überdurchschnittlich tolerant und, gibt es genug Platz für Exzentriker -— der Staat ist so groß, daß auch Außenseiter irgendwo ihre Nische finden. „

Welche Talente in Texas stecken, davon konnte sich David Byrne bei einer gigantischen Talentprobe ein Bild machen. Die „True-Stories“-Produzenten suchten geeignete Performer für den Höhepunkt des Films, des Städtchen Virgils „Celebration of Specialness“ — ihrem Aufruf folgten 130 verschiedene Acts, von denen sich ein jeder drei Minuten lang vorstellen durfte.

„Das war einer der unterhaltsamsten Tage der Dreharbeiten,“ meint Byrne, der unter anderem disco-tanzende Goldfische, mehrere Jodelkünstler und eine Synchrontanzgruppe mit 40 Senioren erleben durfte.

Die Hauptrollen suchte man sich im Sommer ’85 in New York und Los Angeles zusammen, dann wurde in Dallas/Texas das offizielle Headquarter der „True Stories Productions“ aufgeschlagen. Nach mehrwöchigen Proben wurde es dann ernst für die Kino-Debütanten. Mitte September starteten die sechswöchigen Dreharbeiten.

War es eine einfache Entscheidung, die Regie selbst zu übernehmen? „Ja, denn das wollte ich von vornherein. Was mir viel schwerer gefallen ist, war die Performance vor der Kamera — wobei ich das nicht mal Schauspielern nennen würde. Ich sah das eher als die Rolle eines Gastgebers an. Die Regie hat viel mehr Spaß gemacht. „

Haben die Erfahrungen auf den Konzertbühnen und mit den Talking Heads-Videos bei der Filmrolle nicht geholfen?

„Film ist etwas ganz anderes als Live-Shows oder Videos. Ohne Rückendeckung durch Musik und Rhythmus fühle ich mich vor der Kamera nackt. „

Ein ganz so blutiger Anfänger war Byrne allerdings auch auf dem Regiestuhl nicht; in der Vergangenheit hat er schließlich schon bei sieben Talking Heads-Videos Produktion und Regie übernommen. Der Schritt zum Kino-Film war daher nur logisch, zumal sich nach Byrnes Meinung auf der Video-Szene nicht mehr viel Interessantes abspielte. „Man kann heute oft nicht mehr zwischen Werbespots und Musikvideos unterscheiden“, findet Byrne, der mit dem jüngsten Clip zum Talking Heads-Song „Love For Sale“ — enthalten in „True Stories“ — ein Signal setzen will: „Viele Leute meinen, daß sich die heutigen Commercials immer stärker an der Video-Dramaturgie orientieren. Ich wollte es diesmal genau andersherum machen und ein Video aufnehmen, das wie ein Werbespot aussieht. Ich habe also eine Menge ‚Commercial-Images‘ gesammelt, die ich imitieren wollte -— wie zum Beispiel das mit dem Nußriegel, der mit flüssiger Schokolade übergossen wird. Diese Schokolade ließ ich in unserem Video dann eben über die Band kippen. Das war sehr witzig!“

Selbstverständlich gibt es ganz aktuell — wir leben schließlich im Zeitalter des „Cross-Marketings“ — auch eine LP zum Film mit den Talking Heads. Die Scheibe ist allerdings zu einer Art Zwitter geraten, sie ist kein rechter Soundtrack und kein reguläres Talking Heads-Album.

Während nämlich im Film die Schauspieler den größten Teil der von Byrne geschriebenen Stücke singen, werden die gleichen Songs auf der LP TRUE STORIES vom Meister selbst interpretiert. Der wirft dabei den Publikumswunsch in die Debatte: „Ich habe viele Leute befragt. Die meisten sagten mir, sie wären enttäuscht, wenn eine neue Platte der Talking Heads erschiene, auf der die Band nur wenige Stücke selbst singen würde. „

Zumindest beim Filmpublikum wird es da unterschiedliche Meinungen geben. Der Voodoo-Song „Papa Legba“ beispielsweise wird in „True Stories“ vom amerikanischen Soul-Veteranen Roebuck „Pop“ Staples zelebriert; wobei der 70jährige Boß der Staples-Singers mit einer solch seelenvollen Inbrunst dabei ist, daß kaum ein anderer Sänger dem noch Nennenswertes hinzufügen könnte.

David Byrne sieht das genauso. „Dieses Stück habe ich für Pop Staples oder jemanden wie ihn geschrieben, und er hat einen großartigen Job abgeliefert. Ich denke, er hat den Titel besser gesungen als ich. Und auch John Goodman, der im Film einen Country-Song bringt, klingt authentischer als ich.“

Kompromißvorschlag: „Wir werden diese Versionen auf den B-Seiten unserer Singles veröffentlichen. „

Den größten Teil des Soundtracks nahmen die Talking Heads schon im Frühjahr ’85 auf. Zur gleichen Zeit entstand auch ihr Album LITTLE CREATURES, das in seiner stilistischen Vielfalt . von führenden amerikanischen Rock-Kritikern zur LP des Jahres gewählt wurde.

Trotz der musikalischen Mitwirkung der Talking Heads ist „True Stories“ ein Byrne’sches Solo-Projekt. Hat er jemals daran gedacht, die Filmmusik nicht mit seiner Band, sondern mit soundtrack-erfahrenen Studio-Musikern zu produzieren?

„Nein, der Gedanke ist mir nie gekommen. Ich habe schon immer mit den Talking Heads zusammengearbeitet; und solange ich etwas mache, das mit Pop-Musik zu tun hat, wird sich daran nichts ändern!“

(Die deutsch synchronisierte Film-Version soll Ende des Jahres in die Kinos kommen. Byrne selbst möchte auf eine Synchronisation lieber verzichten, wird aber für die englische Version kaum einen deutschen Verleih finden. Ebenfalls ungeklärt ist zur Zeit, ob neben dem Talking Heads-Album TRUE STORIES auch der Original-Soundtrack als LP veröffentlicht werden soll. – Red.)