Jarvis Cocker In Der Fabrik, Hamburg


Lass uns über Sex und Tod reden: Nach dem erstmal einzigen Deutschland-Gig des Pulpmanns ist die Trennung schwer.

Dieser Jarvis! Kaum lässt man ihn nach dem großen ME-Interview (Juni-Ausgabe) kurz aus den Augen, krempelt er gleich sein ganzes Leben um: verlässt die Ehefrau, verdingt sich für eine Promo-Aktion als Plattenverkäufer, will kochen lernen und hampelt als Aerobic-Vorturner herum. Man ist fast erleichtert, dass der seltsame Religionslehrerbart noch dran ist. Doch der Meister bringt es bei seinem einzigen Deutschlandkonzert auf den Punkt, wenn er sagt: »U» musst dich selbst überraschen, mindestens einmal am Tae!“.

800 Menschen wären wohl nicht hier, wenn sie diesen Ansatz nicht mindestens sympathisch finden würden, hat der Ex-Pulp-Sänger auf seinemzweitenSolo-Albumn’RTHF.R COMI’UCATIONS doch alle mit (ausgerechnet) Rockmusik überrascht. Nicht wenige haben sich darüber ungefähr so gefreut, als würde ein längst verdrängter Urlaubsflirt an der Haustür klingeln. Ihnen gilt „Angela“ als der schlimmste Cocker-Song aller Zeiten, beim „Fuckingsong“ halten sie sich die Ohren zu, und vom Saxophon auf „Homewrecker“ wollen wir erst gar nicht anfangen. Dann lasst uns lieber über Sex und Tod reden, die zwei Seiten der Medaille, die irgendwo in Cockers Anzughose funkelt, schon seit langer Zeit, spätestens aber seit TIMS IS HARDCORE. Alle Lust will ja Ewigkeit. Oder zumindest das kurze Gefühl der Unsterblichkeit. In diesem Geist kündigt Cocker seinen besten neuen Song „Leftovers“ an. In dem braucht es ein Dinosaurier-Museum, um eine Liebe zu entfachen: „Manchmal kann eine Erektion etwas sehr Tiefgründiges sein“, sagt Cocker, und eigenartigerweise nimmt man ihm jedes Wort ab. Man verliebt sich in seinen Tarantelstich-Tanzstil. Man lacht sich schlapp über die Posen, in die er sich für die Handyfotografen wirft. Die Band hält sich fein raus aus den Showteilen, wohlwissend, dass sich ohnehin niemand um sie schert. Zu überwältigend ist Cockers Präsenz: Wenn er mit trauriger Stimme beklagt, dass man die Zeit nicht schockfrosten kann („Hold Still“). Wenn er mit dem ruhigen „Slush“, das ihm auf einer Expedition ins ewige Eis einfiel, Herzen im Sekundentakt abfackelt. Auch zwei Zugaben (u. a. „Black Magic“ und „Don’t Let Hirn Waste YourTime“ vom ersten Soloalbum JARVIS; Pulp-Song gibt’s übrigens den ganzen Abend lang keinen) reichen nicht. Es muss erst der fantastische Disco-Song „You’re In My Eyes“ kommen und ein Blick gen Himmel, ein Winken, ein dahingehauchter Kuss voller Würde, bis man sich endlich trennen kann. Mit 70 wird Cocker in Las Vegas auf einer Glitzerbühne stehen in einem weißen Anzug und uns immer noch überraschen, mindestens einmal am Tag.