ME-Helden

So mächtig ist das Vermächtnis von Jimi Hendrix wirklich


Jimi Hendrix brachte die Gitarre, die Lautstärke, die Ekstase in die Musikwelt. Unsere ME-Heldenstory.

Am Anfang waren die Beatles. Sie brachten die Musik. Dann kam Dylan und brachte das Wort. Und dann war Hendrix. Er brachte die Gitarre. Und mit ihr die Lautstärke, das Feedback, die Zärtlichkeit, die Leidenschaft, die Wut, die Ekstase, den Sex, das Universum und die Sterne und die ersten Strahlen der neu aufgehenden Sonne.

Knapp vier Jahre waren Jimi Hendrix vergönnt, seine Vision zu formulieren: von 1966 bis zu seinem beschissen frühen und unnötigen Tod im Alter von 27 Jahren am 18. September 1970 – und wenn man richtig ehrlich ist, reden wir sogar von einem noch knapper bemessenen Zeitraum, nämlich der lächerlich kurzen Spanne von 20 Monaten, in der die Jimi Hendrix Experience ihre drei Alben, ARE YOU EXPERIENCED, AXIS: BOLD AS LOVE und ELECTRIC LADYLAND, erträumte, die einzigen Studioarbeiten von Hendrix, die zu seinen Lebzeiten fertiggestellt werden konnten. Danach mäanderte er in den Untiefen kreativer Konfusion, kämpfte gegen Blockaden, Verunsicherung, innere Dämonen und gegen Drogen, die ihm an allen Ecken und Enden zugesteckt wurden. Er bekam nichts mehr gebacken, kein neues Material wurde veröffentlicht, die Diskrepanz zwischen den Sounds in seinem Kopf und der Musik auf den Bändern war zu groß. Aber die kurze Zeit davor hat ausgereicht, Hendrix zu einem der Unsterblichen werden zu lassen, zum Inbegriff einer ganzen Jugend, die die Gegenkultur als das einzige Vehikelbegriff, um aus der ganzen Scheiße rauszukommen: Vietnam, Unruhen, Unzufriedenheit. Hendrix sollte ihr Retter sein, der die Kinder mit seiner mal betörenden, mal entmenscht aufkreischenden Gitarre aus dem Schlamassel führen sollte.

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Die kurze Zeit hatte ausgereicht, Hendrix zu einem Unsterblichen werden zu lassen

In seiner knappen Zeit definiert Hendrix die Elektrogitarre neu, erweitert das Vokabular und die Möglichkeiten seines Instruments mehr als irgendein Künstler vor oder nach ihm. Er spielt es mit der Inbrunst eines Besessenen und dem Verlangen eines Freiers und der Zärtlichkeit eines Liebenden und der Erfahrung eines Liebhabers. Er versteht es, sein Instrument klingen zu lassen, als würden die Götter sich lieben, als würde in der Entfernung eine Wildkatze fauchen, als würden kleine Sandschlösser ins Meer rieseln. Hendrix’ Musik ist eine höchst sinnliche Erfahrung, eine durch und durch sexuelle Angelegenheit. Bist du erfahren, fragt er, und alle nicken natürlich verständnisvoll, weil, klar, damit kann er doch nur Drogen meinen, den himmlischen Stoff, psychedelische Erfahrung. Aber natürlich geht es auch um Sex, mehr als bei den meisten anderen zumindest. Mehr als bei seinen Vorbildern, den Beatles und Dylan: Wenn die Experience aufdreht, wenn sie anklinkt-einklinkt-ausklinkt, dann ist das eine Experience nicht nur für den Kopf, sondern auch für den Körper. Hendrix küsst seine Gitarre, er leckt sie, er fickt sie, er spritzt auf sie ab. Wir haben die Bilder gesehen. Und tja, wie sollte man ihn sonst beschreiben, diesen zügellosen Akt der Liebe zwischen Hendrix und seinem Instrument, den er mit der Welt geteilt hat?

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Er verbindet Können, Technik, Talent, Feeling und Fantasie. Er ist seiner Zeit entrückt und weit voraus, die Musik ist geerdet in den Traditionen, im Blues, im Jazz, im Rhythm’n’Blues, im Rock, aber sie schert sich nicht darum. Die Experience ist Hier und Jetzt und Morgen und Übermorgen, eine Utopie, ein Versprechen. Die Beatles haben sich längst ins Studio zurückgezogen, wo sie sich zerfleischen, Dylan leckt in der inneren Emigration physische und psychische Wunden. Und so trägt Hendrix das Kreuz, das er nie tragen wollte. Er wird, worum er sich nie gerissen hat: das Gesicht der Gegenkultur, ewiger Headliner der großen Rockfestivals, ein Konterfei auf unzähligen Plakaten und Buchdeckeln, weil den Leuten nichts Besseres einfällt, als sein „broken face with the curly hair“ (Klappentext von AXIS: BOLD AS LOVE) überall da draufzupflastern, wo man rüberbringen will, dass die neue Musik Befreiung und Freiheit bringen soll. Hendrix gehört sich schließlich nicht mehr selbst, ist öffentliches Eigentum, eine Trademark, ein Markenzeichen, das Coca-Cola einer Revolution, die bestimmt bald kommt, aber sich doch nicht einstellen will.

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Von dem schlechten Trip, der kommen wird, ahnt Hendrix noch nichts, als er am 18. Juni 1967 am letzten Abend des Monterey Pop Festivals am Bühnenrand steht und den Who dabei zusieht, wie sie ihre Instrumente zu Kleinholz verarbeiten. Er sollte Schiss davor haben, nach ihnen auf die Bühne zu gehen, aber Jimi steht positiv unter Strom: Nichts und niemand wird ihm diesen Moment vermiesen, den größten Moment seiner Laufbahn, die Heimkehr des verlorenen Sohnes in die Vereinigten Staaten. Nicht einmal ein Jahr ist vergangen, seitdem Chas Chandler ihn auf Anraten von Keith Richards’ Freundin Linda Keith im Cafe Wha?, 115 Macdougal Street in Greenwich Village, gesehen hat, wo er als Jimmy James And The Blue Flames auf sich aufmerksam machen will. Chandler ist Bassist der Animals, ein hemdsärmeliger, trinkfester 27-Jähriger aus dem Norden Englands, ein Geordie, dem bewusst ist, dass Millionenerfolge wie „The House Of The Rising Sun“ gestern waren und es jetzt nur noch abwärtsgeht. Er will in die Produktion einsteigen und sucht nach einem Künstler, den er aufbauen kann. Hendrix weiß, dass er mit seiner Gitarre die Welt in Flammen setzen will, hat aber keine Ahnung, wie er das anstellen soll. Chandler reicht ihm den Brandbeschleuniger. Am 24. September 1966 kommen sie in London an, verlieren keine Zeit: Chandler verpasst seinem Schützling den Namen Jimi Hendrix, stellt ihm mit Noel Redding und Mitch Mitchell zwei junge Musiker an die Seite und lässt sie auf die Menschheit los.

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London ist alles, was Jimi sich jemals gewünscht hat: Niemand weiß, wer er ist. Keiner kennt ihn. Niemanden interessiert, dass er in den Staaten jahrelang durch den Chitlin’ Circuit getourt ist, als letzter Begleitgitarrist hinten links von etablierten Acts wie den Isley Brothers, Little Richard und Ike & Tina Turner. Es nimmt noch nicht einmal jemand Notiz davon, dass er ein Schwarzer ist, dass durch seine Adern schwarzes und indianisches Blut fließen. Die Leute wissen nur, dass dieser Typ echt abgefahren ist. Er spielt Gitarre wie ein junger Gott. Gleich am Tag nach der Ankunft hat Chas Chandler ihn zu einer Jamsession mit Cream geschleppt, der zu dieser Zeit absolut heißesten Combo mit dem besten Gitarristen der Stadt: Eric Clapton, dem Fans mit dem Graffito „Clapton Is God“ längst ein Denkmal gesetzt haben. Man ist jovial – bis Hendrix seine Gitarre einstöpselt und zu spielen beginnt. Das scheppernde Geräusch von Claptons Kinnlade, als sie mit Karacho auf den Boden aufschlägt, hört man noch in den Außenbezirken der Stadt. Die Clubs, in denen die Experience auftritt, sind sofort brechend voll. In der ersten Reihe gehören die Beatles, die Stones und überhaupt der ganze Hochadel der Rockmusik zu den Stammgästen. Keiner kann fassen, was sich da vor ihren Augen abspielt.

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Am 12. Mai 1967 erscheint der erste Longplayer der jungen Band, ARE YOU EXPERIENCED, knapp drei Wochen noch vor SGT. PEPPER’S LONELY HEARTS CLUB BAND. Beide Alben legen das Fundament für psychedelische Musik in Großbritannien – und könnten doch unterschiedlicher kaum sein. Wo die Beatles nach harter Arbeit klingen, nach präziser Bastelei im Studio, nach mühseligem Gefrickel und intellektueller Leistung, nach Gehirnschmalz und zielstrebiger Umsetzung eines Konzepts, wirkt das Debüt der Experience in seiner brachialen Unmittelbarkeit so, als wäre die Musik schon immer da gewesen, als hätte es nur niemanden gegeben, der sie spielte, ach was: hätte spielen können. Man muss nicht erst nachdenken und analysieren, um von der Platte überzeugt zu sein. Sie überrollt einen mit ihrer Wall of Sound, in die die unglaublichsten Gitarrenklänge eingebettet sind, die man links oder rechts vom Saturn oder auf dem Saturn oder auf einem seiner Monde hören kann und die Hendrix’ weggetretenen Gesang und die torkelnden, taumelnden und korkenziehenden Rhythmen umspielen wie in der besten kosmischen Orgie, die das Swinging London hinbekommt. Und jetzt ist Hendrix wieder daheim. Paul McCartney hat sich dafür stark gemacht, dass er in Monterey spielen kann, der „ersten Heerschau der neuen Popmusik“, und Brian Jones sekundiert, indem er die Experience ankündigt. Aber Hendrix braucht keine Hilfe in diesem Moment: Was er auf die 20 000 von Musik und anderen Substanzen berauschten Kinder der Liebe niederfahren lässt, sind die perfektesten 45 Minuten Rock’n’Roll der Musikgeschichte, es ist eine Zurschaustellung absoluter Kontrolle. Keiner hat so etwas jemals gesehen, geschweige denn gehört. Als die Strat im flammenden Inferno von „Wild Thing“ nach dem letzten gepeinigten Jaulen den Geist aufgibt, gehört Jimi Hendrix die Welt.

Die perfektesten 45 Minuten Rock’n’Roll der Musikgeschichte

Schnitt. Schon seit Stunden wartet Jimi Hendrix in Woodstock auf seinen Auftritt. Eigentlich sollte er am letzten Abend des Festivals, dem 18. August 1969, zu dem 500 000 Blumenkinder angereist waren – so viele, dass sich der Rückstau streckenweise fast die kompletten 100 Kilometer bis New York City hinzog –, als Headliner auftreten. Mittlerweile ist es acht Uhr morgens am nächsten Tag, und als Hendrix auf die Bühne tritt und seinen Blick über die von den zahllosen Leibern verwüstete Anlage schweifen lässt, sind vielleicht noch 20 000 versprengte Fans übrig, die sich den Auftritt ihres Idols nicht entgehen lassen wollen. Hendrix ist müde. Im Verlauf der Nacht hat er viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was seit Monterey alles schiefgelaufen ist. Mann, sie hatten doch eine so gute Sache am Laufen! AXIS: BOLD AS LOVE und besonders ELECTRIC LADYLAND hatten der Welt gezeigt, dass seiner Vision keine Grenzen gesetzt waren. Aber dann kam der Streit mit Chas Chandler, dem väterlichen Freund und so wertvollen künstlerischen Leiter, der Hendrix immer genau den richtigen Rahmen für seine Einfälle geliefert hatte, der ihm Grenzen setzte und ihn in die Schranken wies und ihn zu Höchstleistungen antrieb. Die hässliche Sache mit Noel Redding, die Auflösung der Experience. Das kapieren die ganzen Spackos damals ja nicht, die beklagen, dass es anmaßend ist, Hendrix zwei mittelmäßig begabte Kasper an die Seite zu stellen. Aber abgesehen davon, dass Mitchell ein brillanter Drummer ist und Redding ein sauberer Bassist, der mit seinem Spiel erdet, ist ja der Clou genau der, dass Hendrix’ Genialität sich am besten in der Enge eines Powertrios entfalten kann – anstatt im freien Raum zu schweben und zu verpuffen. Genau das passiert jetzt nämlich: die Ziellosigkeit, die Ratlosigkeit, während Manager Michael Jeffery sich zwar ums Geschäft kümmerte, aber eben nicht verstand, dass man eine Zitrone nicht unendlich auspressen kann, dass ein Künstler eine zarte Pflanze ist, die man auch gießen muss, wenn man weiter ernten will.

Und nicht zuletzt war da die Realität, die mit Macht in den Vordergrund drängte. In London war es noch angegangen, sich neu zu erfinden, eigene Wurzeln zu verleugnen, das Sternenkind zu sein, angeklinkt-eingeklinkt-ausgeklinkt zu sein. Aber das Touren durch die Staaten erinnerte Hendrix täglich daran, dass er ein schwarzer Mann war. Rassistische Bemerkungen und Konfrontationen waren an der Tagesordnung bei den Auftritten. Am Tag der Ermordung von Reverend King spielte Jimi kommentarlos eine Improvisation, die alle Anwesenden in Tränen ausbrechen ließ. Und überall waren jetzt Leute, die ihn vereinnahmen, ein Stück von ihm haben wollten, die Black Panthers, Bürgerrechtsorganisationen, weiß Gott wer, während die Schwarze Gemeinde seine Musik noch nicht einmal wahrnahm. Es muss doch einen Weg raus geben aus der Sache, sagte der Narr zum Dieb. Und ja, den suchte auch Hendrix, den die „New York Times“ als „Black Elvis“ bezeichnet: ein Genie, das von den Leuten um ihn herum ausgesaugt wird, ein Missverstandener, dem die Leute auch dann noch zujubeln, wenn er nur rumkaspert und Bockmist spielt. So geht er auch auf die Bühne in Woodstock mit einem zusammengewürfelten Haufen, den er Gypsy Sun And Rainbows nennt und der neben Mitch Mitchell an den Drums und seinem alten Army-Buddy Billy Cox am Bass noch aus einem zusätzlichen Gitarristen und zwei Bongospielern besteht, ein multiethnisches Ensemble, das aber keinen Fuß auf den Boden kriegt. Das Konzert ist bescheiden, uninspiriert, bis Hendrix sich in der letzten halben Stunde am Riemen reißt und kraft seines Willens Geschichte schreibt: Seine Improvisation des „Star-Spangled Banner“, eingerahmt in eine explosive Version von „Purple Haze“, mit einer bittersüßen instrumentalen Coda ganz am Schluss, geht um die Welt. Eine ätzende, schneidende, wütende Abrechnung mit dem Heimatland, an dessen Fahne so viel Blut klebt, dass es einen nach unten zieht, in den Abgrund, und einen verschlingt.

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Ein Jahr später ist Jimi Hendrix wieder Headliner eines Festivals: am 30. August 1970 auf der Isle of Wight. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Bevor er auf die Bühne geht, zieht er sich eine fette Line Koks in die Nase. So klingt das dann auch: kalt, mechanisch, hektisch, ohne Feeling. Ein gruseliger Auftritt. Aber er passt zu den vergangenen zwölf Monaten, in denen nichts gelingen will. Ohne Chas Chandler an seiner Seite ist Hendrix ruderlos und ohne Bodenhaftung. Ein kurzes Intermezzo mit der Band Of Gypsys lässt ihn zwar bei „Machine Gun“ eines der begnadetsten Solos seiner Karriere raushauen, aber die Band geht schnell den Bach runter in einer Lawine aus Missmanagement, uninspirierten Auftritten und mieser Stimmung. Seither greift Hendrix immer mehr zu Drogen und versucht sich wiederzufinden. Er spielt mit John McLaughlin, geplante Sessions mit Miles Davis verlaufen im Sand. Jimi will Jazz machen, sagen die einen. Er will Blues spielen, sagen die anderen. Und wieder andere glauben, dass er an was ganz großem Neuen feilt. Fakt ist wohl, dass Hendrix keinen Schimmer hat, was kommen soll. Er pfeift sich Drogen rein, immer härtere Sachen, ist ratlos und planlos.

Nach dem lauwarmen Gig auf der Isle of Wight spielt Jimi Hendrix noch in Berlin und bei einem chaotischen Festival auf der Insel Fehmarn, dann besucht er Freunde in London. Am 18. September erwischt er zu viele Kopfschmerztabletten und Rotwein und erstickt an seinem Erbrochenen. Jede Hilfe für ihn kommt zu spät. Der beste Gitarrist der Welt lebt nicht mehr.
Er war nur 27 Jahre alt.

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Was bleibt, sind alle diese irren Geschichten, die die Leute erzählen, die Hendrix kannten, die von ihm berührt wurden. Wie Chas Chandler, der nicht vergessen konnte, dass Jimi schon beim Frühstück die Gitarre nicht weglegen konnte. Oder Mick Taylor von den Rolling Stones, der sich erinnert, dass Hendrix als Linkshänder auch für Rechtshänder bespannte Gitarren mühelos spielen konnte. Oder Jack Bruce, der Jahrzehnte später immer noch nicht fassen konnte, dass Hendrix seine Gitarre zum Jammen mit Cream an den Bassverstärker anschloss. Und was natürlich bleibt, ist Hendrix’ Musik, ein Vermächtnis, das so mächtig ist, als stünde man neben einem Berg, den jemand vergeblich mit den Händen abzutragen versucht. Was bleibt, ist die Erinnerung an die Götter, die Liebe machten – und Jimi Hendrix zeugten. Rainy day, dream away.