König, Kaiser, Kanye


Sechs Alben, das ist gar nichts im HipHop. 70, vielleicht 80 Songs. 80-mal Bumm, 80-mal Tschack, 200 Strophen, das schreibt sich ja quasi von selbst.

Andererseits sind sechs Alben im HipHop eine riesige, beinahe unvorstellbar große Menge. Man muss lange überlegen und auch ein bisschen großzügig in der Auslegung sein, um auf einen HipHop-Act zu kommen, der sechs gute Alben gemacht hat. Gang Starr vielleicht? Q-Tip, wenn man alles dazuzählt? Die Roots? Aber das ist eine andere Liga, vielleicht ein anderer Sport.

Kanye West hat in der Tat sechs supersaugute Alben gemacht. Nur eines war nicht so gut. Aber das war immerhin mit Jay-Z, hat sich millionenfach verkauft und den Riesenhit „Niggas In Paris“ hervorgebracht. Das müsste eigentlich alles sagen. Tut es aber nicht. Und auch das spricht bei genauerer Betrachtung eher für Kanye als gegen ihn.

Für die meisten Menschen ist Kanye West längst kein gewöhnlicher Musiker mehr. Sie kennen ihn nicht als den Autor von Zeilen wie „What’s a black Beatle anyway? A fucking roach? I guess that’s why they got me sitting in fucking coach“ oder „Enter the kingdom, but watch who you bring home. They see a black man with a white woman. At the top floor, they goin‘ come to kill King Kong“. Sie kennen ihn nicht als den Produzenten hinter Hits von Ludacris, Jay-Z und Alicia Keys. Sie kennen ihn vor allem als Ehemann, Mannequin und Skandalnudel, als wandelndes meme. Sie laben sich an seinem Talent zum großen Auftritt und zerreißen sich das Maul, wenn er sich mal wieder danebenbenommen hat. Fast immer verfehlen sie dabei den Punkt.

Kanye West hat sich mit Malcolm X verglichen und sich als Steve Jobs seiner Generation bezeichnet. Das ist vermutlich anmaßend. Ziemlich sicher ist es falsch: Die Nike Air Yeezys haben die Welt nicht verändert wie das iPhone und ein bisschen gegen George W. Bush wettern macht noch keinen Revolutionsführer. Aber man darf nie vergessen, warum Kanye solche vermeintlich ungebührlichen Dinge sagt, warum er auch mal einem verschüchterten Starlet den großen Moment ruiniert, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Mit den üblichen Erklärungsschemata der Aufmerksamkeitsökonomie Pop kommt man ihm nicht bei. Seine Selbstdarstellung erwächst nicht aus Berechnung, sondern aus tiefer Überzeugung. Er hält sich tatsächlich für einen der wichtigsten kulturellen und gesellschaftlichen Antreiber unserer Zeit, und genau das macht ihn zu einem. Er hat beschlossen, sich nicht in die für ihn reservierte Rolle als Rebellendarsteller in Diensten des Systems zu fügen, und genau das lässt sein Tun über HipHop hinauswachsen. Wer sagt, dass ich sagen darf, wo ich herkomme, aber nicht wo ich hinwill? Wer sagt, dass meine Musik nur deswegen gut ist, weil sie deinen Vorstellungen von guter Musik entspricht? Wer sagt, dass ich Entertainer sein darf, aber kein Künstler? Wer sagt, dass ich T-Shirts bedrucken darf, aber keinen Anzug schneidern? Und wer sagt, dass ich Konzernen dienen soll, aber nicht meinen eigenen aufb auen kann? Wer -und mit welchem Recht?

Ein kleiner Gedanke: Wäre es ohne Kanye West denkbar, dass sich jemand mit der Biografie eines Jay-Z im Abglanz der Performancekünstlerin Marina Abramović sonnt (und sie sich in seinem)? Wäre es denkbar, dass der beste junge Gangstarapper offen von Selbstzweifeln und Identitätskrisen berichtet und der beste junge Intellektuellenrapper von der Sehnsucht nach Ficken und Ferraris? Dass überhaupt niemand mehr auf die Idee käme, da eine klare Grenze zu ziehen (außer vielleicht die Spießer in den deutschen Feuilletons, die in Casper und Marteria nicht mehr erkennen als eine Antithese zum vermeintlich „prolligen“ Gehabe der „Rüpelrapper“). Natürlich wäre es denkbar. Wenn nicht Kanye, wäre halt ein anderer gekommen. Aber es ist nun mal kein anderer gekommen. Kanye ist gekommen. Und er hat beschlossen, zu bleiben.

Noch ein kleiner Gedanke: Bekäme West den Respekt, den, sagen wir, „New Slaves“ verdient, wenn er nicht parallel unverblümt seine Liaison mit Kim Kardashian öffentlich auswälzte? Wenn er nicht ab und zu einen Journalisten fräße, einen Paparazzi verkloppte oder eine ungezügelte Brandrede hielte? Sicher nicht. Natürlich nicht. Er wäre ein ganz normaler guter Rapper und Produzent. So ist er ein Weltstar und ein Sinnbild.

Ein Beispiel: In einem viel beachteten Leitartikel über mächtige Fußballtrainer wurde José Mourinho unlängst als „der Kanye West des Fußballs“ bezeichnet. Normalerweise werden Rapper mit Fußballgrößen verglichen, damit sich der Leser etwas darunter vorstellen kann. Hier war der Rapper der Gradmesser. Dabei gilt das Umgekehrte auch. Kanye West ist der José Mourinho des Rap: kalkuliert in seinen Ausfällen und brillant in seinem Wirken, öffentlich selbstverliebt und insgeheim selbstkritisch, rastlos, akribisch und stets wahnsinnig erfolgreich, egal ob früher als Underdog oder heute als Aushängeschild seines Berufsstandes. Und noch etwas eint die Provokateure aus Chicago und Setúbal. Beide brauchen die Skepsis ihrer Umwelt wie Brot zum Leben. Sie müssen sich unterschätzt fühlen, um sich selbst zu schätzen. Missverstanden, um sich selbst zu verstehen. Gehasst, um ihren Job zu lieben. Wenn das dazu führt, dass sie sich in ihrer Selbsteinschätzung ab und an ein wenig vergaloppieren, ist das allemal zu verschmerzen. Denn wenn allen egal ist, was sie tun, dann wird alles gleichgültig und grau und Mittelmaß.

Kanye West hasst gleichgültig und grau und Mittelmaß. Nach seinem Debüt hätte er sich locker eine Zeitlang ausruhen können auf seinem Festgeldkonto und seinem patentierten Konsens-Sound. Stattdessen holte er für sein zweites Album den Studiomagier und Komponisten Jon Brion ins Team, weil er dessen Streicherarrangements so liebt, und erfand sich mit dem dritten gleich noch einmal neu, als Stadionrockstar für eine neue Generation. Auf seinem vierten Album 808S &HEARTBREAK begann er ohne jede Vorwarnung zu singen, ohne einen Hehl daraus zu machen, dass er das weder kann noch für besonders wichtig hält. Für sein fünftes Album MY BEAUTIFUL DARK TWISTED FANTASY bestellte er über Wochen hinweg die Helden seiner Jugend sowie aktuelle Superstars in einen Aufnahmekomplex auf Hawaii ein, um sie rund um die Uhr am perfekten HipHop-Album feilen zu lassen. Unterbrochen wurden die Sessions nur von Basketball-und Frühstückspausen -bei denen dann über das perfekte HipHop-Album diskutiert wurde. Bei YEEZUS schließlich ließ er 2013, als er eigentlich schon fertig war, den großen Rick Rubin die Songs noch einmal radikal reduzieren und damit de facto neu denken. Die letzten vier Tage vor der Master-Abgabe wurden praktisch durchgearbeitet. All diese Episoden sind gründlich verklärt worden, mediale Mythen längst, der Stoff, aus dem die Titelgeschichten sind. Aber die, die dabei waren, berichten tatsächlich mit der Inbrunst der Erleuchteten von den Aufnahmen. Kanye West hat die seltene Gabe, nicht nur sein Publikum, sondern auch seine Kollegen in den Bann zu ziehen. Er macht sie besser, indem er ihnen Selbstvertrauen vermittelt und Selbstzufriedenheit nimmt.

Das Bild vom exzentrischen Egomanen jedenfalls lässt sich kaum aufrechterhalten, wenn man sich ansieht, wie West Musik macht. Sein jüngster Song, „God Level“, ist produziert von 88 Keys, Kanye West, Hudson Mohawke, Mike Dean und Noah Goldstein. Wie üblich haben sich diverse Kritiker darüber amüsiert. Er vermisse in den Credits J.S. Bach, Miles Davis, 2Pac und Gott, twitterte einer sinngemäß. Aber wenn sich einer von vier Leuten einen Rap-Beat zimmern lässt und den ganzen Prozess selbst begleitet, ist das vor allem ein Zeichen von Streben nach Perfektion und Ehrlichkeit in der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. West weiß, dass seine Drums nicht knallen wie die von DJ Mustard, seine Basslines nicht dröhnen wie die von Mike Will Made It, seine Skizzen nicht so abseitig grooven wie die von Evian Christ oder Arca. Er hat es selbst immer wieder offen gesagt. Also nimmt er den Hörer in die Hand, outet sich ungeniert als Fan und macht mit den Besten Musik. Egos müssen dabei an der Garderobe bleiben. Wenn er etwas scheiße findet, dann sagt er das. Und wenn er etwas geil findet, dann sagt er das auch. Das Gleiche erwartet er von den Menschen um sich herum. Kanye West mag sich für den Größten halten, aber er ist eben auch der größte Fan.

Und haben Fans nicht immer recht, selbst wenn sie manchmal ganz schrecklich danebenliegen?

Als Fan reiste der junge Kanye Omari einst nach New York. Er war auf der Suche nach dem Sound, den er so sehr liebte, den Sound von Q-Tip und Pete Rock, den Klang der großen Stadt und auch des großen Geldes. Er ist übel auf die Schnauze geflogen damals. Die Industriemenschen waren zwar leise fasziniert von seinem forschen Auftreten und seinen klaren Vorstellungen. Aber einen Gig hatten sie nicht für diesen seltsamen Jungen aus Chicago, von dem sie nicht genau wussten, ob er unfassbar arrogant war oder einfach nur unsicher, ein Streber oder ein Irrer. Rapmusik bedeutete damals so zu sein wie 50 Cent; sie roch nach Schießpulver und Testosteron. Kanye roch noch nicht mal nach einer klaren Alternative. Also schickten sie ihn heim: Capitol, Rawkus, Columbia, alle. Seine Band Go-Getters war gefloppt, auch seine freundschaftliche Beziehung zum Produzenten No I.D. und seine Arbeit als Studiolakai für den in der Industrie bestens vernetzten Deric „D-Dot“ Angelettie brachten ihn zunächst nicht weiter. Aber aufgeben: keine Option. Nicht für jemanden, der immer wusste, dass er einmal der größte Rapper der Welt sein würde.

Das wusste er übrigens auch, als ihm Jay-Z (also jemand, den viele für den allergrößten Rapper der Welt halten) erklärte, dass er überhaupt kein Rapper sei. Nach diversen Produktionsjobs für unter anderem Foxy Brown, den Goodie Mob um Cee-Lo Green und diverse Acts aus dem Dunstkreis von Puff Daddy und Jermaine Dupri war West 2000 an Jay-Zs Roc-A-Fella Records geraten. Der dort verpflichtete Rapper Beanie Sigel wählte einen von Kanye Wests Beats für sein Album THE TRUTH aus. Wenig später folgten vier Songs auf Jay-Zs THE BLUEPRINT. Darunter waren die erste Single „I. Z. Z.O.“ und der heimliche Schlüsseltrack „Takeover“. Diese Generalabrechnung mit des Meisters stichelnden Erzfeinden Nas und Mobb Deep hatte die Stammtische bereits aufgeheizt. Doch es waren die Beats von Kanye West, die die Stadt schließlich mitten ins Herz trafen. Ihr blutendes Herz. THE BLUEPRINT erschien just am 11. September 2001 und die Menschen in New York schienen Trost finden zu wollen in diesem Sound, der sie angenehm an früher erinnerte, als noch nicht diese schreckliche Wunde in ihrer Mitte klaffte, und doch voll Hoffnung in die Zukunft wies. Nichts von all dem war geplant. Es war alles ein großer , tragischer Zufall. Aber es ist wohl so: Jay-Z wurde dank Kanye West zur Ikone. Und Kanye West konnte dank Jay-Z erstmals zeigen, dass mehr in ihm steckte als ein talentierter Tastenklopfer.

Es gibt bis heute diese Diskussion unter HipHop-Quartettspielern: Wer hat die besseren Beats auf THE BLUEPRINT, Kanye West oder Just Blaze? Beide gelten als Väter der Sample-Renaissance von 2001, als begnadete Brückenbauer zwischen Underground und Mainstream. Sie selbst aber haben sich nie in derselben Kategorie gesehen. Just Blaze ist immer der Nerd geblieben, der sich am liebsten hinter seinem Laptop versteckt. West dagegen liebt die große Bühne. Er hat sie immer geliebt und herbeigesehnt. Ohne sie kippt sein Pathos ins Peinliche, seine Leidenschaft ins Lächerliche. Das Produzieren war für ihn nur ein Mittel zum Zweck, eine Art, sich auszudrücken unter sehr, sehr vielen. Jeder Journalist, der ihn vor seinem Durchbruch als Solokünstler im Jahr 2004 interviewt hat, weiß davon zu erzählen. Ich selbst musste einmal ein halbstündiges A-cappella-Konzert in einem Turnschuhladen durchstehen, weil ich es gewagt hatte, ihn auf seine Sample-Technik anzusprechen.

Es ist davon auszugehen, dass ein solches Konzert auch Jay-Z bekommen hat. Auf seinem Label aber wollte er West nicht, trotz der gemeinsamen Erfolge. Sah ihn nicht dort. So gar nicht. Erst als West im Alleingang den Song „Through The Wire“ aufnahm, auf eigene Kosten ein Video abdrehte und den Chefs ein fertig geschnürtes Gesamtpaket samt amtlichem Aufruhr in der Szene präsentierte, gab Jay-Z dem Drängen seiner Geschäftspartner Damon Dash und Kareem „Biggs“ Burke nach und nahm Kanye West für ein Soloalbum bei Roc-A-Fella Records unter Vertrag. Das verkaufte sich alleine in den USA mehr als drei Millionen Mal und bekam den Grammy als beste Rap-Scheibe des Jahres. Jay-Z zumindest hat diesen quengelnden Akademikersohn aus Chicago nicht mehr unterschätzt.

Die beiden Männer haben sich längst angenähert. Man schätzt und gönnt sich, gerne in Paris, gerne beim Pärchenabend mit den Ehefrauen Kim und Beyoncé. Zwischen den Zeilen schimmern zwar immer mal wieder kleine Spannungen durch, aber meist wird gekleinerdreit wie selten in dem von Misstrauen und Wettbewerb geprägten Geschäft: Hier der ausgeglichene, besonnene, manchmal verschlossene Veteran mit dem Habitus eines Staatsmannes, dort der hyperaktive, unnachgiebige, aufb rausende Herrscher der Jetztzeit, vereint in ihrer Liebe zu den schönen Dingen und dem herrlich irrationalen Anspruch, auch mit knapp 40 kumulierten Karrierejahren auf dem Buckel noch brillante, aufregende, im besten Fall sogar revolutionäre Musik zu machen.

Es war der Frühsommer 2013. Kanye West war bei „Saturday Night Live“ zu Gast. Comedy und Musik, ein Flaggschiff der amerikanischen Fernsehunterhaltung. Kanye West hätte ganz einfach brillieren können: ein bisschen parlieren, ein Medley mit seinen größten Hits, Referenzen an Curtis Mayfield und Ray Charles. Stattdessen crashte er die Party auf seine ganz eigene Weise. Verzerrte Gitarren, übersteuerte Drums, brummende Basslines, quälend monoton wie das Einpeitschen eines Sklaventreibers. Im Hintergrund Kampfhunde, Parolen. „There’s leaders and there’s followers, but I’d rather be a dick than a swallower“, schrie West. Es klang nicht wie eine Rechtfertigung. Es klang eher wie eine Drohung.

2004, zwei Jahre nach dem Turnschuhkonzert, traf ich Kanye West in New York wieder. THE COLLEGE DROPOUT war inzwischen erschienen. Er war ein Star, er hatte gewonnen. Sein Gedächtnis aber schien ihm den Triumph nicht zu gönnen. „Hey, ich erinnere mich an dich. Du hast mir damals mein erstes Cover gegeben. Aber wieso hatte mein Album in deinem Magazin nur 5,5 und nicht alle sechs Kronen? Du weißt, dass das ein Fehler war, oder?“ Er zumindest wusste es ganz sicher.

Irgendwie wusste ich es in dem Moment auch. Ich weiß es bis heute.