Maskiert? Vertauscht? In Rente?


Beatles: nur noch die Hälfte übrig. Small Faces: kaum mehr. MC5, New York Dolls, Gratefut Dead – die Reihen der Rock-Urgesteinsbrocken Lichten sich. Die Rolling Stones dagegen sterben alles andere als aus, und das ist fast noch trauriger. Hätte ich vor 30 Jahren einen Blick in die Zukunft werfen und mitansehen können, wie ein Hartgummi-Greis in Stretch-Verpackung in einem Fußballstadion durch eine geschmacklose Bombast-Kulisse hopst und „Can’t gemmeeno!“ röhrt, während neben ihm ein verschrumpelter Gorilla bizarre Verrenkungen aufführt, um mit den Fingern fünf Gitarrensaiten zu treffen – ich weiß nicht, ob „Exile On Main St.“ heute noch in meinem Plattenschrank stünde. Es waren große Tage mit den Rolling Stones – leider währten sie nicht lange.

Life is (not) live

Stellen wir uns vor: Fünf Männer schießen vor Tausenden ein Feuerwerk ab und rodeln auf einer Bühne herum. Was, wenn das gar nicht die Stones sind? Wenn es die gar nicht mehr gibt? Was ist dann passiert?Hm Gebälk der Stones haben sich in den letzten 30 Jahren mysteriöse Dinge ereignet, die nicht von der Hand zu weisen sind. Zunächst die schlichte Tatsache, dass die Stones seit Jahrzehnten für ihre Produkte [Tickets und Tonträger] nur mit einem einzigen Verkaufsargument hausieren: dass es sie noch gibt. Dieses Argument wird wiedergekäut, bis es keinen mehr interessiert; dann bricht plötzlich ein Streit vom Zaun, und schon wird zur Versöhnung eine neue Tournee plus Album angekündigt und in die Welt posaunt – na was schon: Es gebe die Band noch. Verdächtig genug, wie ein Vergleich mit anderen Behauptungen erweist, die ebenso hartnäckig in die Pop-Welt hineingebetsmühlt werden: dass z. B. Jim Morrison nie gestorben, sondern untergetaucht ist.

– Wäre das Gegenteil nicht längst bewiesen, müsste man solches nicht beharrlich verkünden. Nicht minderverdächtig sind verwandte Äußerungen, etwa Keith Richards‚ Mantra, die Band müsse auf Tournee gehen, denn eine Band, die nicht live spielt, die gebe es nicht. Das ist natürlich Blödsinn (denn die Beatles gab es auch nach 1966) und ein ganz billiger rhetorischer Trick, mit dem der Umkehrschluss provoziert werden soll: Eine Band, die live spielt, die gibt es noch. Wiederum gilt: Was zu oft öffentlich beschworen wird, ist im Regelfall unwahr. Wir halten dagegen: Eine Band, die alles, was ihre Identität ausgemacht hat, auf ein paar schlampig imitierte Gitarrenriffs, heruntergekurbeltes Geklapper und vom Teleprompter abgekrähte Zeilen reduziert, die gibt es ganz bestimmt nicht.

Vom Gott zum Kasperl

Bislang haben wir die Identität derverbliebenen Ur-Mitglieder nicht in Frage gestellt, aber auch die These, es seien immerhin nach wie vor Mick Jagger. Keith Richards und Charlie Watts, die da zu hören und zu sehen sind, ist kaum zu halten. Der elektrisierend coole Bursche, dessen bezaubernd arrogante, zwischen sinistrer Bedrohung und kühl-ironischer Melancholie changierende Stimme lässig Texte über „Mother’s Little Helper“, hysterische Partyziegen und universelle Totalverständigung („We Love You“) sang – dieser junge Gott ist so weit entfernt von dem manierierten Kasperl, dem hoppelnden, glubschäugigen Klappergestell, das in Viagra-Demenz Textzeilen wie „I’m gonna fuck your sweet ass“ in die Stadien bellt, dass 40 Jahre als Erklärung nicht ausreichen. Da mag sich Letzterer, wer immer er ist, noch so anstrengen, ein ähnliches Grinsen hinzukriegen. Und müssen wir den krächzenden Pavian, dessen Fähigkeiten als Gitarrist sich auf ein einziges, nicht sehr originelles Riff beschränken, wirklich für Keith Richards halten, nur weil er den gleichen Namen trägt? Tut er das überhaupt? Stand da nicht früher „Richard“? Hängt da rein zufällig heute ein -s hinten dran oder ist das ein augenzwinkernder Hinweis? Mag sein, dass an der Geschichte vom Blutaustausch was dran ist; bloß andersrum: Irgendwann wurde versehentlich nicht das Blut, sondern der Rest ausgetauscht. Begonnen hat der Vertuschungs-Zinnober wohl 1973. Im April ’73 verkündete die Zeitschrift POP, die anrollende Stones-Tour werde die letzte sein, denn man müsse „langsam ans Abtreten denken“. Schließlich gingen „Jagger und Richard (!) mit Riesenschritten „auf die 30 zu.

Rutling Stones oder Spitting Image?

Was wirklich passiert ist, bleibt der Spekulation überlassen. Hat Eric Idle nach dem großen Erfolg seiner Beatles-Parodie „The Rutles“ beschlossen, beim nächsten Mal aufs Ganze zu gehen, indem er das „Original“ sich selbst lächerlich machen lässt? Möglicherweise hat er; sich gar vom „Spiting Image“-Team Gummimasken anfertigen lassen. Oder haben wir es mit einer perfiden Fortsetzung von Greil Marcus‘ Scherz mit den „Masked Marauders“ zu tun, jener angeblichen Super-Session-Band, an der auch Jagger teilgenommen haben sollte? Deren Album erschien 1969 und tatsächlich klingt der Opener „I Can’t Get No Nookie“ mehr nach Jagger als alles, was seit 1986 unter dessen eigenem Namen erschienen ist.

Jede Hypothese ist der Nachforschung wert. Die Alternative wäre zu akzeptieren, dass es die Stones tatsächlich noch gibt

und dass es wirklich Jagger, Richards, Wood und Watts sind, die sich ab Herbst erneut weltweit zum Narren machen. Und diese Vorstellung ist – zumindest für Menschen, denen die Rolling Stones etwas bedeuten oder einst bedeuteten – einfach zu schrecklich.