Pete Townshend: Pete Townshend im Interview


My Generation" ist mit ihrem Wortführer in die Jahre gekommen. Der einstige Who- Kopf - jenseits der 50 - wehrt sich nicht mehr dagegen, als ernsthafter Künstler auftreten zu müssen. Im Gegensatz zum berufsjugendlichen Mick Jagger etabliert sich Pete Townshend mit seiner „Tommy"-Version am Broadway und dem neuen Hörspiel-Album "Psychoderelict" endgültig als das Hirn des Rock´n´Roll.

ME/SOUNDS: Deine „Tommy“-Inszenierung am Broadway ist von der Kritik nicht gerade begeistert gefeiert worden. Dennoch sind die Vorstellungen ausverkauft. Bangst du dennoch um den Erfolg?

TOWNSHEND: Ich habe keine Angst vor Frank Rich (mächtiger Chef-Kritiker der „New York Times“) oder irgendeinem anderen dieses Schlages. Wie Du vielleicht weißt, bin ich Lektor bei Faber & Faber (angesehener New Yorker Verlag). Und ohne jetzt protzig klingen zu wollen – ich kenne mich mit Kritikern und Kritik aus und ich weiß, wie es funktioniert und ich weiß auch, daß man nicht kontrollieren kann, wie es funktioniert … Ich weiß aber auch etwas, das all die Skeptiker nicht unbedingt bedacht haben: Die Who haben in New York eine ganz schön große Anhängerschaft. Und die wird, glaube ich, „Tommy“ für ein paar Monate zu einem großen Erfolg werden lassen. Und dann, hoffe ich, werden wir ein ernsthaftes Publikum aus dem ganzen Land anziehen. Eine Laufzeit von zwei, drei oder fünf Monaten ist ein großer Erfolg für eine Rock-Band, in jeder Stadt. Am Broadway aber wäre das nichts, ein glatter Mißerfolg. Wir hoffen, für mindestens drei Jahre spielen zu können.

ME/SOUNDS: „Tommy“ ist ja ein sehr bekanntes Werk, fast jeder Rock-Fan kennt die Story. Trotzdem hast du am Bühnen-Manuskript drastische Veränderungen vorgenommen.

TOWNSHEND: Was ich wirklich wollte, war ein echtes Ende für die Geschichte. Ich weiß, daß sich das ziemlich banal anhört — aber das war alles, was ich suchte. Ich will auch immer noch ein Ende für „Quadrophenia“. Eigentlich suche ich nach einem Ende für meine komplette Arbeit! Als ich damals mein Solo-Album „Chinese Eyes“ aufgenommen habe, da hab’ich so eine kurze Phase der Selbst-Analyse durchgemacht, das war wie eine innere Reinigung. Aber ich glaube, daß mich das letztlich in ein seltsames Licht gestellt hat: Die Leute glauben seither, daß das einzige Thema, über das Pete Townshend jemals geschrieben hat, „Pete Townshend“ ist.

ME/SOUNDS: Auf deinem neuen Hörspiel-Album „Psychoderelict“ sagt der Manager zum Rockstar: „Wenn du dich selbst beobachten willst, dann mach‘ das um Himmels willen nicht in der Öffentlichkeit …“

TOWNSHEND: Ja, ja, das stimmt. Danke! Dabei bin ich in Wirklichkeit ein ziemlich objektiver Schreiber. Schreiben war für mich ein inneres Muß, als ich damit anfing. Ich hatte in den 60ern ziemlichen Spaß in der Band – aber meine eigentliche Karriere hab ich schon damals eher als Illustrator oder im Journalismus oder in einer Kombination von beiden, zum Beispiel bei einem Magazin, gesehen. Deswegen habe ich ja auch studiert. Aber als dann „I Can’t Explain“ veröffentlicht wurde, kam eines Tages eine handvoll Kinder zu mir und stotterten: „D—d-d-as ist unser Lied. Du hast das gesagt, was wir die ganze Zeit sagen wollten. “ Und ich sagte: „Na gut, was hab’ich denn gesagt?“ Und sie antworteten: „Du hast gesagt, daß wir nicht erklären können, wie wir uns fühlen.“ Ich erwiderte: „Aha – ich habe also gesagt, daß Ihr nicht erklären könnt, wie Ihr Euch fühlt.“ Und sie strahlten: „Genau. Und deshalb wollen wir, daß Du mehr schreibst.“ Also schrieb ich „Anyway, Anyhow, Anywhere“ und „My Generation“, und ich glaube, da hab ich das gefunden, was ich „die Stimme“ nenne. Ich schreibe immer noch für diese Stimme, für die gleiche Gruppe Leute, wenngleich es aber nicht unbedingt nur diese Jungs sind. Ich glaube, ich habe auch „Tommy“ für diese Stimme geschrieben. Aber das habe ich erst im letzten halben Jahr kapiert …

ME/SOUNDS: Hast du jetzt endlich den definitiven Schluß für die „Tommv“-Geschichte gefunden?

TOWNSHEND: Nein, ich glaube, das Stück ist jetzt beendet. Die Löcher in der Story sind gestopft. Viel schwieriger war es, zu entscheiden, wie das Ende aussehen sollte. Ich finde, daß Geschichten so etwas wie Andeutungen von Enden haben sollten – auch wenn man am Ende nicht ganz auspackt und die Leute ihre eigenen Schlüsse ziehen läßt oder ihnen wenigstens die Möglichkeit dazu läßt. Ich habe in dieser Zeit gerade Somerset Maugham gelesen, „Der bemalte Schleier“. Am Ende dieser Geschichte kehrt ein Mädchen, das in ihrem Leben viel Mist gebaut und ihrem Mann und ihrer Familie viel zugemutet hat, nach Hause zurück und beschließt, den Rest ihres Lebens für ihren Vater da zu sein. An dieser Stelle wirst Du in der Geschichte allein gelassen. Es ist beides: Ein Ende und ein neuer Anfang. Das ist genau die Sorte Ende, die ich immer gesucht habe.

ME/SOUNDS: Was hat denn bei Tommy am Ende wirklich gefehlt?

TOWNSHEND: Man wußte nicht, auf welche Seite man sich schlagen sollte. Ob man zu dem Publikum halten sollte, das eigentlich nur ein Nebenprodukt organisierter Religion war, oder ob man zu „Tommy“ halten sollte, der ja der Motor all dessen war. Ich mußte diese Frage beantworten. Und am Ende lief alles auf eine ziemlich einfache Lösung heraus. Wenn Tommy, warum auch immer, mit all dem Kram um ihn herum weitergemacht hätte, wenn er schließlich von seinen Fans verstoßen worden wäre – was hätte er gemacht? Natürlich – auf der Schallplatte verschwindet er. Aber das ist nicht gut genug. Im Film hat’s nicht funktioniert. Im Film hat Ken (Russell) Roger (Daltrey) ja gewissermaßen einen literarischen Gipfel erklimmen lassen, auf dem er dann stand und die Sonne angeredet hat. Das war bizarr — eher der Anfang eines Films als ein Ende. In der neuen Bühnenversion haben wir uns dafür entschieden, Tommy am Ende zu seiner Familie heimkehren zu lassen. Jetzt am Broadway ist der Schluß nochmal ein bißchen anders — mehr verrate ich aber nicht.

ME/SOUNDS: Glaubst du eigentlich, daß deine Fans mittlerweile lieber in ein Broadway-Theatergehen als in eine Konzerthalle zu den Who?

TOWNSHEND: Ich habe lange auf die Zeit gewartet, in der die Leute, die zu den Who in die Hallen kamen, auch an den Broadway kommen würden – aber es geht hier gar nicht um ein „entweder/oder“. Ich mag diese Hallen nicht, und ich kann mich auch nicht mit der Idee anfreunden, wieder mit den Who auf Welt-Tour zu gehen. Die Gelegenheit dazu haben wir wahrscheinlich eh verpaßt. Einige der großen Bands haben sich doch wirklich selbst kaputtgemacht, weil sie immer wieder losgezogen sind und immer wieder versucht haben, das gleiche, alte Publikum anzusprechen. Die nächsten, die das wieder versuchen, werden die Stones sein. Und ich kann mir vorstellen, daß sie wie die Dire Straits … Ich glaube, für die Dire Straits war es eine ziemliche Erniedrigung, sich 18 Monate Zeit für eine Welt-Tournee zu nehmen und dann festzustellen, daß die Leute sie nur achteinhalb Wochen lang sehen wollten.

ME/SOUNDS: Haben sich die Ansprüche des Publikums verändert?

TOWNSHEND: Ja, das stimmt wohl. Und ich glaube, ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß das Theater-Publikum eines Tages so großzügig sein würde wie es das Rock-Publikum in den 60ern war. Das war die Zeit, in der „Tommy“ geboren wurde und aufwuchs. Er wuchs heran mit einem großzügigen, vergebenden und engagierten Publikum. In anderen Worten – das Publikum war voll auf psychedelischen Drogen. Aber das bedeutete, daß du experimentieren konntest. Du konntest sagen: „Hört zu – ich drehe diese drei Ideen jetzt ineinander und ihr wißt, was ich damit sagen will, oder?“ Und alle antworteten: „Klar, wir wissen, was du meinst!“ Damals konnte man herrlich abstrakt und unspezifisch reden … Als ich mich dann 1986 mit meinem ersten Theaterstück „Iron Man“ herumschlug, fand ich heraus, daß dieser Ansatz im Theater nicht funktioniert. Das wirklich wichtige in einer Theaterpräsentation sind die Details, die klar definierten Details.

ME/SOUNDS: Weil sich das Publikum zwar ändert, im Grunde aber doch das gleiche bleibt: kritisch und Detail-verliebt.. .

TOWNSHEND: Das ist bei meinen ganzen Erfahrungen mit „Tommy“ herausgekommen: Wir sind längst über jenen Punkt hinaus, an dem wir uns Sorgen machen müßten, welche Folgen das Älterwerden im Rock ’n‘ Roll-Prozeß hat. Wir haben doch kapiert, daß wir keine Teenager mehr sind. Wir können diese angstgepeitschten Jahre der Freudentränen ja ruhig immer wieder hochleben lassen – da ist ja nichts gegen zu sagen. Aber wenn wir heute zur neuen Lou-Reed-Platte schwofen, sitzen wir aller Wahrscheinlichkeit nach in einem schicken Sushi-Restaurant im East Village – wir hängen doch nicht mehr mit dem Transistorradio am Ohr draußen auf der Straße rum! Es hat sich alles verändert, und ich glaube, daß es für Leute wie mich, für Leute wie Lou Reed oder Mick Jagger, für Leute wie Iggy Pop und David Bowie und Paul Simon, für Leute die – wenn sie noch nicht 50 sind — auf die 50 zumarschieren und Großvater sind oder es zumindest sein könnten – daß es für solche Leute wichtig ist, diese Aura von Würde, Status und Weisheit zu vermeiden. Zu sagen: Hört zu, Ihr könnt mich „Mr. Townshend“ nennen, wenn Ihr wollt — aber ich fühle mich nicht so.

Kann sein, daß mein Beruf zu einem seriösen Gewerbe geworden ist — aber es ist immer noch eines, das eng mit der Straße verbunden ist. Wobei ich mit „Straße“ jetzt weniger die Leute meine, die an der Ecke herumlungern. „Straße“ ist für mich viel mehr eine Metapher für ein ganz normales Leben, für den ganz normalen täglichen Daseinskampf. Leider teilen wir das Publikum: Auf der einen Seite sind die Kids, die sich im Madison Square Garden Guns N’Roses ansehen. Auf der anderen Seite sind die Älteren, die sich „Cats“ ansehen. Nur – die breite Mittelschicht dazwischen sprechen wir überhaupt nicht mehr an. Du hast nur noch zwei Extreme, die sich am Ende doch wieder treffen: Guns N’Roses sind natürlich in vielerlei Hinsicht interessant, aber sie sind sehr, sehr reaktionär. Und das „Phantom der Oper“ ist erz-reaktionär.

ME/SOUNDS: Und du findest dein Publikum in der Mittelschicht?

TOWNSHEND: Man kann das „Publikum“ ja auf verschiedene Arten definieren. Die Marktforschung fragt: „Wie alt sind diese Leute, wieviel Geld haben sie, für was geben sie ihr Geld aus, wo leben sie und was würden sie gerne im Radio hören?“.

Diese Art der Publikums-Definition war für mich genauso schädlich wie für die komplette Musikindustrie. Aber es wird immer noch so gefragt. Ich glaube, mein Publikum besteht aus Leuten, die mit mir alt geworden sind, aber nicht ausschließlich aus denen. Es gibt eine ganze Menge Leute in meinem Alter, die weder die Who noch die Stones hören – die hören heute Pearl Jam oder Ice-T oder irgendeinen anderen, weil sie in deren Musik genau das wiederfinden, was sie damals in der Musik der Stones oder der Who gefunden haben. Ich glaube noch nicht einmal, daß sie die Nase über das rümpfen, was die Stones oder die Who heute repräsentieren — schließlich gehören sie ja irgendwie dazu, sind ein Teil ihres Lebens, ihres Aufwachsens, Älterwerdens, Verfallens.

Es wird übrigens immer interessanter, wie lange Mick Jagger seine Rolle durchhält. Mick muß wohl ewig der Typ mit dem flachen Bauch sein. Von mir erwarten die Leute dagegen, daß ich der mit dem Grips bin. Und es ist sehr, sehr schwer, das Hirn des Rock ’n‘ Roll zu sein, da ich im Grunde meines Herzens mich eher wie ein Minnesänger fühle. Und es gibt noch eine Menge Minnesänger da draußen. Eine Menge Leute, die momentan unglaublich gute Arbeit machen, sind in meinem Alter. Paul Simon, Lou Reed, Tom Waits … das sind wirklich außergewöhnliche Leute. Auch die, die wirklich auf dem eingefahrenem Gleis sind — wie Leonhard Cohen — werden immer interessanter. Mein Leben dreht sich nicht darum, irgendein spezielles Publikum anzusprechen – mein Leben dreht sich darum, den Rock ’n‘ Roll vorwärtszubringen. Vielleicht ist es ein aussichtsloser Kampf. Wie sagt doch der fiktive Rock-Star Ray in „Psychoderelict“: „Ich bin jetzt 50 und ich hatte einmal einen Traum, und ich bin mir nicht sicher, ob er besser oder schlechter war als der Traum, der jetzt da draußen Wirklichkeil ist. Aber es ist mein Traum, und er wird mit mir älter werden und auch mit mir verschwinden. „

ME/SOUNDS: In anderen Kunstformen ist es ja selbstverständlich, daß ein Autor eine Person oder eine Stimme erfinden kann, die nicht unbedingt autobiographischen Charakter haben muß. Von einem Rock-Songwriter erwartet man dagegen, daß er immer nur über sich selbst schreibt. Experimentierst du deshalb nun mit der Darstellungsform des Radio-Hörspiels ?

TOWNSHEND: Ich habe wirklich für einen Moment gejubelt vor Freude. „Das ist es!“, dachte ich – jetzt muß ich nicht wieder darauf warten, daß meine Arbeit nicht beachtet wird, weil sie zu selbstanalytisch ist. Jetzt kann ich eine Stimme in einem außenstehenden Kontext schaffen, und die Leute müssen sich mit ihr auseinandersetzen. Sie müssen es einfach – ob sie nun glauben, daß ich ein Haufen Scheiße bin oder nicht. Die Wahrheit ist: Ich werde deshalb nicht beachtet, weil 50 bin, einen kleinen Bauch habe und so aussehe, als käme ich aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch.

Es ist ja auch nicht so. daß ich ein ernsthafter Künstler werden wollte. Man wird automatisch ein ernsthafter Künstler, weil die Erwartungen der Leute im Laufe von 40 Jahren „Künstlersein“ immer größer und fordernder werden. Wenn ich versuche, diesem Druck auszuweichen, und versuche, kein ernsthafter Künstler zu sein, dann fühle ich mich schwer und so wie vor einem Selbstmord. Das ist dann der Moment, in dem ich selbstanalytisch werde, mich hinsetze und ein Album schreibe. Und dann kommt dieser stotternde Junge von damals, der heute 50 ist und als Parkwächter arbeitet. Und er sagt: „Das ist Müll, ein Haufen Müll, was du da gemacht hast.“

ME/SOUNDS: Glaubst du, deine Fans wollen wirklich so viel Kunst, wie du ihnen jetzt vorsetzt?

TOWNSHEND: Puuuh, ich weiß nicht. Früher hab‘ ich gedacht, viele wollten einfach nur so „Shut up and dance!“-Sachen. Mittlerweile glaube ich, daß ich selbst so bin wie viele andere in meinem Alter: Ich tanze immer noch ganz toll – aber nur noch zuhause vorm Spiegel. Was ich gerne hätte? Ich will Leute, die meine neue Arbeit genauso mögen wie meine alten Alben und die auch schon die Who geliebt haben. Diese Leute sollen merken, daß sie das sind, was ich „mein Kontinuum“ nenne: das, was immer da ist. Und sie sollen spüren, daß mein Leben und mein Job und meine Aufgabe als Songwriter sich nur um sie dreht, daß ich ihnen dienen will. Doch was sehen sie, wenn sie in meine Augen blicken? Sie sehen einen Versager, der nicht das macht, was Guns N’Roses machen und auch nicht das, was die Who in den alten Tagen gemacht haben. Dabei gehen doch auch sie nicht mehr 15 mal im Monat in die Disco – sie sitzen zuhause vor der Glotze und ziehen ihre Kinder groß.

Mick Jagger hat das in vielen Interviews der letzten Zeit immer wieder gesagt: Die Leute wollen, daß man ihnen ihre Idee der immerwährenden Jugend bewahrt, damit sie nicht mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden. Und ich glaube, daß es einfach meine Pflicht ist, diese Illusion zu zerstören. Du hast Mick auf der einen und mich auf der anderen Seite. Mick sagt ihnen, sie würden für immer leben, und ich sage ihnen ohne Rücksicht auf Verluste ins Gesicht: „Nein, einen Dreck werdet ihr! Ihr werdet ziemlich schnell sterben!“

ME/SOUNDS: Es wäre an der Zeit, endlich herauszufinden, wer von euch beiden recht hat …

TOWNSHEND: Weißt du – eines der merkwürdigsten Dinge in meinem Alter ist, daß du lokker auf die 50 zugehst und irgendwie das Gefühl hast, daß deine mentale Entwicklung irgendwo auf dem Stadium eines Elizabethanischen englisehen Rock ’n‘ Roll-Künstlers stehengeblieben ist: einer aus diesem Haufen, der in den 60ern hier herüber kamen und Amerika half, diese großartige neue Kunstform zu schaffen. Eine Kunstform, die sich immer noch weiterentwickelt, immer noch aufregend ist und immer noch gefährlich. Denk nur an Ice-T und Public Enemy, aber genauso – wenn auch mit geringerem politischen Inhalt – an Leute wie Pearl Jam: Die sagen Sachen auf ihren Alben, die wirklich aufregend sind, die dich herausfordern und bei denen du merkst:

„Hey, die Sache läuft doch noch!“

Als wir zum ersten Mal im Leben allein waren, als wir Teenager wurden und uns von unseren Eltern loslösten — da haben wir uns nicht allein gefühlt. Der Rock ’n‘ Roll hat uns getröstet, er hat uns als einen Teil einer Gemeinschaft empfinden lassen. Wir haben die Frage nach dem Alleinsein einfach auf die Seite geschoben. Was Freundschaften und Beziehungen angeht, war das sicher eine schwere Zeit. Aber sie hat uns auch viel gegeben. Die Musik hielt uns zusammen und machte uns zum Teil eines großen Ganzen. Das war nicht die Aufgabe von Mum und Dad — die waren da. wenn du sie brauchtest. Aber überleben konntest du auch ohne sie.

ME/SOUNDS: Hast du jetzt die Form des Hörspiels gewählt, weil für dich der Rock´n´Roll an seine Grenzen gestoßen ist, weil dieses Gemeinschaftsgefühl ausgedient hat?

TOWNSHEND: Nein, ich glaube immer noch an Musik und Verse, und ich glaube immer noch, daß Musik und Worte in einer kurzen Zeitspanne alles ausdrücken und es auch transportieren und mitteilen können.

ME/SOUNDS: Und jetzt schreibst Du ein langes Hörspiel – ist das nicht irgendwie ein Widerspruch?

TOWNSHEND: Ich sehe da keinen Widerspruch. Ich habe mit dem Hörspiel entdeckt, daß ich in den Jahren, in denen ich mit der Band gespielt habe, einen Kontext hatte, den es nun nicht mehr gibt. Mein Kontext – das waren Pete und Roger und der Verrückte Keith Moon und John Entwistle, das waren alte Schulfreunde, die sich trafen, ausgingen, Rock ´n´Roll spielten – hatten sie nicht viel Spaß? Und auch Guns N’Roses haben ihren Kontext? Wie viele Privat-Jets muß Axl seinem großartigen Model schicken, bevor sie ihm sagt, daß er sich verpissen soll, oder ihm sagt, daß sie ihn heiraten will. Das ist doch genauso interessant wie bei Rod Stewart! Rod hat wenigstens noch einen Kontext! Ich hab‘ meinen verloren. Das hat auch die Leute ziemlich verwirrt.

„Nun ist der Kerl also Lektor in einem Verlagshaus“, haben sie gesagt, „und er schreibt Kurzgeschichten — hat der keine Lust mehr auf Rock? Glaubt er nicht mehr dran?“ In Zeiten, in denen ich mich nicht wohl gefühlt habe, hab‘ ich dann immer behauptet, die Rockmusik sei am Ende.

ME/SOUNDS: Wo wir gerade beim Stichwort „Kontext“ sind – die Songs auf „Psychoderelict“ wirken doch ausschließlich im Zusammenhang mit der gesamten Hörspiel-Handlung. Wie löst ihr denn das Problem mit den Single-Auskoppelungen?

TOWNSHEND: Wir diskutieren noch. Momentan bin ich dabei, ihnen zu sagen: „Hey, ich kann das alles rauskürzen!“ Ich muß nochmal Somerset Maugham zitieren: „‚Wenn du ein Drama geschrieben hast“, sagt er, „und du bist nicht zufrieden damit, dann kürze, kürze, kürze, kürze den Text!“ Ich glaube ernsthaft, die Geschichte von „Psychoderelict“ kann wirklich in einem einzigen Wort erzählt werden, nämlich im Titel. Wirklich!

Ich glaube nicht, daß du viel mehr brauchst, eine Handvoll Songs vielleicht.Ich glaube, daß „Psychoderelict“ beweist, daß die gute alte Art (des Songschreibens) immer noch funktioniert, bloß ist diese neue Art und Weise, diese Songs in einen Hörspiel-Zusammenhang zu stellen, für mich mittlerweile erstrebenswerter. Ich sehe darin auch meine Zukunft als Künstler. Wenn auch momentan jeder nur dieses furchtbare Hackfleisch-Radio zu hören scheint – ich glaube, daß es in Zukunft mehr und mehr Leute geben wird, die längere Produktionen hören wollen. Zum Beispiel wenn sie im Auto sitzen, ihren Walkman aufhaben und am frühen Morgen völlig unausgeschlafen zur Arbeit fahren. Leute, die etwas hören wollen, das sie auf eine Reise schickt. Das ist auch das, was ein guter Roman auslöst: Man „erlebt“ das Leben von Jane Austens „Emma“ zum Beispiel. Und dann vergleicht man es mit seinem eigenen Leben. Manches deckt sich, manches nicht. Aber irgendetwas erfährt man im Endeffekt schon auch über sich selbst…

ME/SOUNDS: So wie man aus deinem Song „Outlive The Dinosaur“ eine Menge über den Prozeß des Älterwerdens erfährt?

TOWNSHEND: Der Mensch ist wahrscheinlich das einzige Lebewesen auf der Erde, das ein Bewußtsein von der Zeit besitzt. Wenn du älter wirst und in den Spiegel schaust, siehst du ganz klar, daß du älter wirst. Aber trotzdem entfernst du dich innerlich von der Person da im Spiegel.

Eines Tages schaust du wieder hinein und siehst, wie die Person im Spiegel langsam verfällt, und du weinst. Aber die Person, die vor dem Spiegel auf dem Stuhl sitzt, sagt dir: „Das ist nur blödes Selbstmitleid!“. Du mußt das einfach akzeptieren. Und du bist immer nur so alt. wie du dich im jeweiligen Moment gerade fühlst. Ich glaube, daß du gar nicht um dich selbst weinst, sondern um das Kind, das du einmal warst und um die Jugend, die du nicht wiederbekommst.