Radiohead


Es hat sich gelohnt, zu warten: In der Berliner Wuhlheide spuckt diese Band noch ein paar Puzzleteilchen mehr aus, aus denen sich jeder seinen eigenen Radiohead legen darf.

Ein Open-air Ende September, wer denkt sich denn so etwas aus? Nun, das hatte ja triftige Gründe: Nach dem Unglück in Toronto, bei dem ein Crew-Mitglied von Radiohead ums Leben gekommen war, waren unter anderem auch ihre beiden Konzerte im Berliner Freizeit- und Erholungspark Wuhlheide, die zuerst im Juli stattfinden sollten, verschoben worden. Doch selbst die plausibelsten Umstände machen einen auf dem Thermometer schnell ins Einstellige abknickenden Altweibersommer-Abend, der der Stadt tagsüber noch bis an die 20 Grad gebracht hatte, nicht wärmer.

Natürlich, die Musik, zuvorderst Thom Yorke, wenn er am Klavier sitzt und Balladen wie den bis heute unfassbaren „Pyramid Song“ intoniert (die sich dann aber ja eben doch in Dramaturgien ambivalenterer Bauart auswachsen) – die wärmt die Herzen. Und zu „Idioteque“, dem anerkannten „Dance“-Stück Radioheads, kann man tatsächlich tanzen, das wärmt auch. Und es tanzen am Ende im ausverkauften Rund, über dem inzwischen klar und kalt die Sterne blitzen, auch viele Menschen, die sich sonst offensichtlich nicht öffentlich rhythmisch zu bewegen pflegen.

Doch alles von Anfang an: Von der Verlegung des Konzerts profitiert zuerst einmal Daniel Snaiths Bandprojekt Caribou, das seine pumpende, fließende Musik in die bereits hereingebrochene Dunkelheit tauchen darf. Die erhöht eben nicht nur die Strahlkraft der Lightshow, durch sie breitet sich auch die Musik leichter und weiter aus. Caribou profitieren zudem von einem derart klar definierten, vom Bass regierten, aber nie dominierten Sound, der schließlich den ganzen Abend über so bleiben wird – fast schon zu gut für ein Livekonzert.

In der Umbaupause darf man sich dann noch einmal näher mit dem Bühnenaufbau beschäftigen: Über den großzügig über den weiten Auslauf verteilten Podesten mit dem für experimentierfreudige Kapellen typisch vielteiligen Instrumentarium schweben 18 Projektions-Quadrate in drei Reihen übereinander – schief und krumm, als wäre der kurze Spätsommersturm von vorhin in diese Petersburger Hängung geraten.

Wenn das Licht im Rund gleich ausgeht und das ganze wilde Licht auf der Bühne an, spielen diese Quadrate wie auch die Farben und abstrakte Formen speienden Kulissen eine wichtige Rolle. Sie haben einen Auftritt zu illuminieren und illustrieren, den Radiohead selbst vor einem festivalgroßen Auditorium wie diesem hier ganz bewusst nicht als Greatest-Hits-Show inszenieren – eher als das glatte Gegenteil. Auf der Setlist haben Stücke der letzten beiden Alben, In Rainbows und The King Of Limbs, das Übergewicht, neben Songs wie „The Daily Mail“ oder „Supercollider“, die irgendwann in der Zwischenzeit veröffentlicht wurden. Und eben auch darunter: kein Hit, keine Hooks, sondern noch ein paar Teilchen mehr, aus denen sich jeder seinen eigenen Radiohead zusammenpuzzlen darf.

Die Projektions-Quadrate zeugen aus Perspektiven, die nicht dem Popstar schmeicheln möchten, sondern aus Details des konzentrierten, geradezu introvertierten Musizierens ihre Spannung beziehen, vom Machen und Werden der Musik – und das ist eindrucksvoller und magischer, als es jede Pose des millionenfach rauf und runter deklinierten Ikonen-Kanons des Pop sein könnte. Sie zeigen wackelnde Köpfe, Yorkes zappelnden Zopf, Blicke ins Irgendwo, wirbelnde Sticks (gleich auf zwei Schlagzeugen!), Hände, Tasten, Saiten, einen sehr großen Fuß auf einem sehr großen Effektgerät. TV-Studiobesuche von Krautrock-Größen wurden in den Siebzigern so inszeniert und abgefilmt, die Verfremdungen, Störungen und Einfärbungen des Gezeigten inklusive.

Diese Bilder fesseln das ohnehin sehr dankbare, wie gegen die Kälte immer enthusiastischer werdende Publikum in der Wuhlheide auch an jene Stücke Radioheads, die immer noch ein wenig nach Werden, nach Suchen und Forschen klingen. Man begreift schließlich, was für ein Glücksfall diese Band gerade deshalb für die Popmusik ist: Sie muss sich heute nicht mehr und auch nicht wieder (wie viele andere irgendwann ins Stocken geratene „Supergroups“) damit beschäftigen, wie sie zu einem Meisterwerk wie OK Computer kommen konnte. Und sie weiß auch, dass sie das experimentelle Wagnis von Kid A kein zweites Mal eingehen kann. Und deshalb fährt diese Band weiter und fort.

Wenn dann aber doch „Paranoid Android“ erklingt, so dermaßen zärtlich und zerbrechlich intoniert und umso harscher dort, wo es wehtun soll, ist der Jubel natürlich am größten. Und wenn das ambiente „Everything In Its Right Place“ in die „Idioteque“ hinüber gleitet, in dem Moment, in dem die Band die Bühne eigentlich schon verlassen hat, haut es einem auch einfach mal den Schalter raus. Was es bei Thom Yorke, dem kleinen, drahtigen Derwisch, wie er gerade den 90s-Pop-Bono und Jim Morrison gleichzeitig in den Boden tanzt, wohl schon vor ein paar Minuten getan hat. Oder vielleicht auch schon vor 20, 30 Jahren. Guter Mann.

Setlist

Lotus Flower

Airbag

Bloom

The Daily Mail

Myxomatosis

The Gloaming

Separator

These Are My Twisted Words

Videotape

Nude

Weird Fishes/Arpeggi

Reckoner

There There

The National Anthem

Feral

Paranoid Android

Pyramid Song

Supercollider

Planet Telex

Staircase

Bodysnatchers

Give Up The Ghost

Everything In Its Right Place

Idioteque