Simple Minds: Jim Kerr – Sprachrohr einer neuen Musiker-Generation


Die Parallelen zu Bono Vox und U 2 sind unübersehbar. In Jim Kerr besitzen die Simple Minds einen Frontmann, der sich zum Sprachrohr einer neuen, selbstbewußten Musiker-Generation entwickelt hat. Tim De Lisle sprach mit ihm in New York.

ME/SOUNDS: Mit euerem Album scheint ihr etwas näher an den Mainstream heranzurücken – oder der Mainstream an euch.

KERR: „Sowohl als auch, vermute ich.“

ME/SOUNDS: Vor vier oder fünf Jahren konnte man euch ja noch getrost zur Avantgarde zählen.

KERR: „Ja.“

ME/SOUNDS: Ihr wart mehr oder weniger eine Außenseiter-Band, wie wohl auch U2 zu jener Zeit?

KERR: „Ja, ich glaube schon.“

ME/SOUNDS: War und ist euch diese Entwicklung eigentlich bewußt oder ist das ein Mechanismus, über den ihr keine Kontrolle habt?

KERR: „Sie war uns insofern bewußt, als wir verdammt hart gearbeitet haben. Wir haben jedes Jahr ich weiß nicht wieviele Gigs gespielt, aber sowohl bei uns als auch bei U2 hat sich die weitere Entwicklung auf eine sehr… ich weiß nicht… ja, geradezu klassische Weise vollzogen. Jeder Schritt war ein drastischer Schub nach vorne.

Wir gehörten schon immer zu der Art von Bands, die einfach von der Musik überwältigt, mitgerissen werden…weißt du, wenn man zum Ende eines Gigs hin das Gefühl hat, nicht mehr aufhören zu können, wenn sich die Musik so konzentriert, die ganze Atmosphäre so aufgeladen ist, daß man das Gefühl hat, nichts mehr zurückhalten zu können, einfach überrollt zu werden…

Und uns war auch bewußt, daß unsere Musik nicht länger als Geheimtip gehandelt werden sollte wie vielleicht vor vier, fünf Jahren. Das soll jetzt kein Kriterium sein für besondere Qualität; ob unsere Musik gut oder schlecht war, lassen wir mal dahingestellt. Aber sie war jedenfalls nur Insidern bekannt. Und warum – wenn’s schon sowas wie Radio gibt?! Wenn man ’ne Platte macht, dann sollte sie auch ein gewisses Maß an Airplay bekommen. Und wenn das der Fall ist, dann wird sie auch mehr oder weniger populär.

Das hängt nicht nur von einer gelungenen Produktion ab; ich glaube, manche Platten heben sich durch ein ganz bestimmtes positives Etwas vom Einheitsbrei ab. Wir waren immer auf eine nette Weise arrogant: Wir hatten das Gefühl, wenn all die anderen Bands erfolgreich waren, dann stand es auch uns zu, daß unsere Musik gespielt wurde, daß unsere Platten gekauft wurden.“

ME/SOUNDS: Und jetzt steht ihr an der Schwelle zum ganz großen Erfolg. Ist euch das eigentlich in voller Tragweite bewußt?

KERR: „Würd‘ ich schon sagen. Und wir werden uns sicher nicht ins Hemd machen deswegen. Außer, was völlig Unerwartetes würde passieren. Aber im Moment scheinen sich die Umstände, also diese Platte, die Aufmerksamkeit, das Timing und das ganze Drumherum in eine Richtung zu entwickeln, die uns langsam aber sicher weg vom Underground führt.

Und jetzt ist auch der richtige Zeitpunkt dafür! Vor fünf, sechs oder gar zehn Jahren gab es Bands, die nur redeten, nur Sprüche klopften, ein paar Platten machten und wieder spurlos von der Bildfläche verschwanden.“

ME/SOUNDS: Du meinst Punk und New Wave?

KERR: „Ja, wie ich gerade gesagt habe: reden, ein paar Platten und weg vom Fenster! Im Gegensatz zu ihnen sind wir uns bewußt, was es heißen könnte, wirklich groß zu werden, wir sind uns klar über die potentiellen Konsequenzen, die sich auftun können, wenn der Erfolg sich einstellt. Und wir hoffen, diese Situation mit einem gewissen Stil meistern zu können – was in der ‚Dinosaurier-Epoche‘ der Popmusik nicht immer der Fall war.

Ich kann es vielleicht am besten so resümieren: Ich hoffe, daß wir uns diesen Stil und vielleicht auch eine gewisse Würde bewahren werden – aber weiß man’s?“

ME/SOUNDS: Was für ein Gefühl war es, als ihr plötzlich mit einem Song, der ausnahmsweise nicht aus eurer Feder stammte, nämlich „Don’t You Forget About Me“, solchen Erfolg hattet?

KERR: „Wir betrachteten es als Ironie des Schicksals, fanden es aber gleichzeitig auch faszinierend, in England an neuen Songs zu arbeiten und beobachten zu können, wie dieser Song unaufhörlich die Charts nach oben kletterte. Er war ein Geschenk des Himmels für uns, das war uns klar.

Wären wir eine dieser 08/15-Bands gewesen, hätte er uns in Windeseile ganz groß machen können, aber genauso schnell wären wir auf Nimmerwiedersehen in der Versenkung verschwunden. Wir wären eine der zahllosen Eintagsfliegen im Musikgeschäft gewesen, aber so haben wir genug Material parat, das wir jetzt nachschieben können, und zwar weitaus besseres.

‚Don’t You Forget About Me‘ wird auf keinem Album erscheinen, was die Plattenbosse natürlich zu Sprüchen veranlaßt wie ‚Whaaat? Das ist das allererste Mal, daß ein Nr.l-Song auf keinem Album erscheint! Ihr tickt wohl nicht ganz richtig!?!‘ Aber er ist im Grunde genommen einfach nicht gut genug für unser Album.“

ME/SOUNDS: Er gefällt dir also gar nicht?

KERR: „Ich halte ihn für einen netten, gestylten Popsong, aber unsere eigenen Songs haben mehr Tiefe, vor allem, was die Texte angeht. Wie soll ich das jetzt ausdrücken, ohne …. nee, lieber nicht. Den Leuten gefällt er, und ich finde ihn, wie gesagt, wirklich nett und eingängig, aber Soul hat er keinen.

ME/SOUNDS: Wie geht ihr vor, wenn ihr eine Platte macht? Entstehen zuerst die Texte und dann die Musik oder umgekehrt? Wer macht was und wie kommt dann generell alles zustande?

KERR: „Ich schreibe eigentlich jeden Tag etwas, na ja, ich versuche, es mir zur Gewohnheit zu machen, jeden Tag so 20 Minuten abzuzwacken, in denen ich einfach alles mögliche niederschreibe; das kann eine innere Eingebung sein, eine Zeitungsüberschrift, Wortfetzen, ein Satz, den ich in einem Buch, in einem Kino oder am Flughafen aufgeschnappt habe.

Unser Gitarrist Charlie, Keyboarder Michael und ich mieteten dann ein Haus und begannen, an den Melodien zu arbeiten. Sobald wir das Gefühl hatten, ein halbwegs annehmbares Ergebnis zusammengebastelt zu haben, holten wir Bassist und Drummer und machten neun, zehn Tracks. Danach fuhr ich für einen Monat nach Frankreich, nur mit den Tapes, ohne die anderen, hörte sie jeden Tag durch und schrieb die Lyrics. So funktioniert das bei uns. Bei einem guten Song ergänzt sich alles wie bei einem Riesenpuzzle.“

ME/SOUNDS: Diesmal arbeitet ihr auch mit neuen Produzenten.

KERR: „Ja, zum ersten Mal sind es Amerikaner, Jimmy Iovine und Bob Clearmountain. Wir wollten Clearmountain, weil er ein Spitzen-Toningenieur und einfach der Mixer ist. Auf sein Konto gehen „Let’s Dance“ und „Born In The USA“, außerdem „Avalon“, die letzte annehmbare Stones-LP mit ‚Start Me Up‘ und so weiter und so fort. Und er hat exzellente Arbeit für Chic und Nile Rodgers geleistet und ist für mich wirklich die Kapazität in seinem Fach.

Bei uns unkte natürlich alles von vornherein: ‚Den könnt ihr abschreiben! Der ist ’ne Nummer zu groß für euch! Und außerdem steht er nicht auf eure Art von Musik, die ist ihm viel zu esoterisch.‘ Ich habe ihn trotzdem getroffen; zu dem Zeitpunkt hatte er gerade ein Projekt mit Hall & Oates hinter sich – und die ganze Angelegenheit mußte anscheinend in ein gewaltiges Chaos ausgeartet sein, so daß er eigentlich kein besonderes Interesse bekundete, gleich wieder eine Produktion zu übernehmen. Er schlug mir aber vor, noch einen Co-Produzenten aufzutreiben.

Also machte ich mich auf die Socken und ging zu Jimmy Iovine, der hauptsächlich mit exzellenten Songwritern wie Lennon, Springsteen oder auch Tom Petty zusammengearbeitet hatte, also alles Leute mit recht traditionellem Background.

Und wir dachten, daß er uns ein bißchen zur Arbeit animieren würde, dazu, uns vor den Aufnahmen besser vorzubereiten – was wir bis dahin nie so richtig gemacht hatten. Und tatsächlich nahm uns Jimmy so hart an die Kandare, daß wir diesmal mit mehr oder weniger perfekt ausgearbeiteten Songs im Studio erschienen. Wir waren echt enthusiastisch drauf, denn wir wußten genau, daß wir wenigstens zwei, drei Supersongs im Ärmel hatten.

Jimmy hat uns auch ’ne Menge Selbstvertrauen gegeben, er hat in mir die Metamorphose vom potentiell guten Songschreiber zum tatsächlich guten Songschreiber ausgelöst.“

ME/SOUNDS: Wie lange braucht ihr im Schnitt für ein Album?

KERR: „Dieses Album hat am meisten Zeit erfordert: zehn Wochen zum Einspielen und Mixen. Aber die ‚Dinosaurier-Bands‘, von denen wir vorhin gesprochen haben, brauchten meistens ein Jahr.“

ME/SOUNDS: Die Lyrics scheinen oft schwer verständlich – oder anders gesagt: mysteriös und dunkel zu sein…

KERR: „Ja, im Vergleich zu Paul McCartney schon, da hast du recht. Das ist nicht beabsichtigt, es hat bestimmt nichts mit Effekthascherei zu tun. Es zieht mich einfach in diese Richtung, ich habe das Gefühl, daß wir es kaum anders machen könnten.“

ME/SOUNDS: Aber z. B. die neue Single: Was passiert da, worum geht’s in diesem Song?

KERR: „Dieser Song bedeutet mir… nein, laß mich anders anfangen: Als wir im Studio waren und mit den Aufnahmen beginnen wollten, fragten mich beide Produzenten: ‚Erklär‘ uns diesen Song, damit wir uns besser reinversetzen können.‘ Und ich versuchte angestrengt, eine halbwegs plausible Antwort zusammenzubekommen.

Also…. ich … dachte dabei irgendwie an meine Kindheit in Schottland, an die Zeit, als ich noch sehr klein war. In diesem Alter bist du so naiv, du staunst über alles mit offenem Mund, über die Weite des Himmels und des Meeres und so weiter. Du staunst und denkst ’ne Menge nach, bei mir war’s jedenfalls so.

Als kleines Kind hast du deine eigenen Wertvorstellungen – und wenn du in die Schule kommst und älter wirst, werden dir diese Werte zerstört, Realismus um jeden Preis ist angesagt. Als Träumer bezeichnet zu werden, das ist ja fast ein Schimpfwort, ein Träumer, das ist ein Narr.

Ich hatte mich auch angepaßt, aber dann… Ich glaube fast, ich erlebe im Moment so etwas wie eine zweite Kindheit. Die Dinge, die mir als Kind wichtig waren und später dann naiv oder lächerlich erschienen, sind mir plötzlich wieder sehr nah, z. B. die Naturkräfte im Vergleich zur Macht der Städte, z. B. die Freundschaft mit meinen Eltern und Geschwistern, die für eine Weile ziemlich angeknackst war, jetzt aber wieder so intensiv wie in meiner Kindheit geworden ist.

Und dieser Song drückt diese Gefühle aus: Meine Träume, von denen ich angenommen hatte, daß sie mir längst ganz verlorengegangen waren, sind plötzlich wieder lebendiger denn je. Die Essenz des Songs ist einfach: ‚Bewahr‘ dir deine Träume!‘ Denn diese Fähigkeit halte ich für immens wichtig.“

ME/SOUNDS: Gilt das für dich oder für alle Menschen?

KERR: „Ich glaube, das gilt für alle. Das ist kein Song der Ich-Generation. Die Entwicklung, von der ich gerade erzählt habe, hat zwar in meinem Leben stattgefunden, aber dieselbe Erfahrung haben ’ne Menge anderer Leute auch gemacht: Wir sehen Dinge, die wir lange für unwichtig hielten, endlich wieder in einem ganz anderen, positiven Licht. Und dieses Wiederentdecken möchte ich irgendwie besingen, aber… es ist verdammt schwer für mich, das zum jetzigen Zeitpunkt zu analysieren oder zu erklären.“

ME/SOUNDS: Hat die Tatsache, daß du jetzt Ehemann und Vater bist, deine Arbeit beeinflußt?

KERR: „Hmmm….nein. Es war mir immer sehr bewußt, Teil einer Familie zu sein, meine Eltern und Geschwister und Chrissie und die Kinder sind alle wie eine einzige große Familie für mich.

Ja, aber ich glaube, du hast doch recht, wenn ich’s mir so überlege: Es hat mich beeinflußt. Vor kurzem habe ich ein zwei, drei Jahre altes Interview mit der Frau von Lech Walesa gelesen; es war während Walesas Arrest gemacht worden. Und als ich so ihre Anschauungen las, fing ich an, mir über die Rolle der Frau Gedanken zu machen, auch über die Bergarbeiterfrauen, die Familien, die Kinder. Ich habe mir überlegt, wie es wäre, wenn ich aus irgendeinem Grund meine Tochter nicht sehen könnte.

Letztes Jahr zur selben Zeit wäre ich nicht im Traum auf solche Ideen gekommen. Das hat mich zu ‚All The Things She Said‘ inspiriert. Mir ist der Ursprung meiner Songs immer ganz klar, aber ich schätze, alle anderen kriegen immer nur die allgemeine Aussage mit. Das ist wohl auch besser so, denn ein Song wie dieser hätte genausogut auch von Nelson Mandela inspiriert werden können; also ist es für mich sinnvoller, in meinen Texten nicht zu konkret zu werden, weil…“

ME/SOUNDS: …es besser ist, den Sinn einer Sache nur anzudeuten, als den Leuten um jeden Preis Fakten reinzudrücken?

KERR: „Ja, glaub‘ ich schon. Und das erfordert ein gewisses Talent, vielleicht reizt es mich auch deshalb, so zu arbeiten.“

ME/SOUNDS: Glaubst du, die Leute liegen richtig, wenn sie eure Musik für besonders aufrecht und ernsthaft halten – und euch gleich mit?

KERR: „Nein. Es gibt da ein Zitat, das auch voll und ganz auf uns zutrifft: ‚Wir nehmen unsere Musik sehr ernst, aber nicht uns selbst.‘ Und da ist was dran. Unsere Musik ist uns verdammt wichtig; halbherzig geht es meiner Meinung nach sowieso nicht. Aber ich hoffe sehr, daß sie trotz ihrer vorhandenen Tiefe auch andere Verwendung findet, sie soll unterhalten oder meinetwegen sogar im Background säuseln, wenn’s den Leuten Spaß macht.“

ME/SOUNDS: Und was ist mit Tanzen? Legt ihr Wert darauf daß eure Musik tanzbar ist?

KERR: „Klar! Vielleicht ist s nicht gerade lebenswichtig, aber es ist ein tolles Gefühl, wenn du ausgehst und feststellst, daß deine Platten in den Clubs laufen. Das ist einfach geil, es bedeutet, daß deine Musik lebt.“

ME/SOUNDS: Du wirst häufig mit Bono verglichen. Kennst du ihn, findest du den Vergleich berechtigt und was hältst du von U2s Musik?

KERR: „Bis zu einem gewissen Grad trifft der Vergleich zu; wir glauben letztendlich an dieselbe Sache, wir versuchen, dieselben Visionen zu verwirklichen, sind beide ein bißchen schwerfällig – irgendwie sind wir Geisteszwillinge.

Ich habe U2 zum ersten Mal im Fernsehen gesehen, als sie längst in aller Munde waren. Es hatte einfach nie geklappt, wir sind uns oft über den Weg gelaufen, spielten aber immer an denselben Abenden – und dann, als ich sie endlich sah, war ich total baff: Ihr Ausdruck, ihre Ausstrahlung war wie ein Spiegelbild von uns. Wir sind Freunde geworden, Bono verbrachte Silvester bei uns in Schottland, wir blieben in Kontakt.

Doch da sind auch große Unterschiede: Ihre Musik ist viel maskuliner, unsere hat eine gewisse Femininität – und darüber bin ich sehr froh.“

ME/SOUNDS: Ihre Musik könnte vielleicht auch den hirnlosen Macho-Rock-Fan ansprechen, obwohl U2 ja weder hirnlos noch macho sind…

KERR: „Nein, nicht im geringsten. Aber, hmmm, ich bewundere sie wirklich. In Edge haben sie ein wirkliches Genie, sie sind eine großartige Band und haben etwas ganz Spezielles, das man nicht vortäuschen oder künstlich aufbauen kann; die Schwingungen innerhalb der Band funktionieren wie ein ausgeklügeltes System, ganz reibungslos – unbeschreiblich. Sie sind, wie auch wir auf unsere Weise, ein Phänomen. Sie sind ein gutes Beispiel für die Theorie, daß das Ganze größer als die Summe seiner Teile ist.“

ME/SOUNDS: Hättet ihr eigentlich Angst davor, eines Tages die größte Band der Welt zu werden?

KERR: „Ich hoffe, daß das nicht passiert, aber nicht weil ich Schiß davor habe, sondern weil es unwichtig für mich wäre. Was ich möchte, ist konstante Weiterentwicklung. Und spielen, nichts als spielen … Es gibt kein vergleichbares Gefühl dafür, wenn eine Riesenmenge Leute für ein Konzert zusammenströmt und der Funke zum Publikum überspringt – das ist durch nichts zu schlagen, sei’s nun Compact Disc oder Video oder weiß der Geier was. Ich liebe dieses Gefühl.“

ME/SOUNDS: Entschädigt dich das für den Tourstreß, das Leben aus dem Koffer, rein ins Flugzeug, raus aus dem Flugzeug?

KERR: „Ich glaube, du hast mich nicht ganz verstanden: Den sogenannten Tourstreß empfinde ich, wenn überhaupt, nur ganz minimal. Ich halte uns für die glücklichsten Knaben der Welt! Und falls der Streß doch zu nagen beginnen sollte, halt‘ ich mir das vor Augen.“

ME/SOUNDS: Man kann sowas auch schnell vergessen, oder nicht?

KERR: „Okay, ‚glücklichste Typen auf Erden‘ klingt vielleicht etwas hochtrabend, aber es kommt der Wahrheit ziemlich nahe. Wir haben unwahrscheinliches Glück mit dem, was wir tun, mit den Leuten um uns rum, mit den Freundschaften, die wir so schließen konnten. Das sollte man nicht für selbstverständlich ansehen.“

ME/SOUNDS: Hat sich euer Lebensstil verändert im Vergleich zu, sagen wir mal, vor fünf Jahren?

KERR: „Ja, ich glaube schon. Zumindest, was seinen ästhetischen Aspekt anbelangt.“

ME/SOUNDS: Wie meinst du das?

KERR: „Wir wohnen besser, essen wahrscheinlich ausgefallener – und wenn ich zwei Wochen nichts zu tun habe und mir in den Kopf setze, nach Jamaica oder Moskau zu fliegen, kann ich das tun – und darauf fahr‘ ich total ab. Charlie und ich waren kürzlich in Bombay, Delhi und Katmandu. Diese Möglichkeiten, das meine ich mit Ästhetik – und das hat sich eben geändert. Aber wir selbst, unsere Einstellung zu unserer Musik – da ist alles gleichgeblieben.“

ME/SOUNDS: Betrachtest du es manchmal als Nachteil, immer bekannter zu werden? Wie fühlst du dich, wenn du auf der Straße erkannt wirst?

KERR: „Manche Leute werden ziemlich rabiat und manchmal krieg‘ ich deswegen irgendwie zuviel. Die Leute haben keine Ahnung, wie sie sich in der Situation verhalten sollen – und da muß man eben versuchen, Geduld und Ruhe zu bewahren.

Aber bekannt zu sein, ist kein Nachteil. Wenn ich etwa in ein Restaurant gehe – und da sitzt jemand am anderen Tisch und starrt unaufhörlich rüber, dann wird das nach ner Weile natürlich nervig. Aber dann frag‘ ich eben: ‚Kann ich irgendwas für dich tun?‘ Es ist kein Nachteil. Ich weiß eigentlich gar nicht, ob dieser Job irgendwelche Nachteile hat.“ (Lacht)

ME/SOUNDS: Was würdest du tun, wenn du kein Musiker geworden wärst?

KERR: „Mit 16 bin ich quer durch Europa getrampt – und da hat’s bei mir gefunkt, da hab‘ ich mich losgelöst. Mir wurde plötzlich klar: Die Welt wartet auf dich! Als Weißer mit britischem Paß kannst du überallhin, grenzenlos. Das war ein umwerfender Gedanke für mich.“

ME/SOUNDS: Aber das hättest du kaum die nächsten zehn Jahre machen können…

KERR: „Nicht unbedingt, aber wer weiß, wo und wann ich aufgehört hätte; ich wäre vermutlich immer irgendwie on the road. Wenn du genug Raum läßt für die Ereignisse, die auf dich zukommen können – wer weiß, wo ich gelandet wäre…

Wenn du wissen willst, ob ich sonst Ambitionen in irgendeiner Richtung hatte, ist die Antwort nein. Ich wäre nicht in Glasgow geblieben; ich mag Glasgow, aber dort stehen einem nicht unbedingt alle Türen offen.“

ME/SOUNDS: Welche Musik hörst du?

KERR: „Ich hab‘ im Moment an die hundert Tapes dabei; das letzte, das ich gehört habe, war Bob Dylan. Außerdem hab‘ ich noch Dusty Springfield, Public Image und ’ne Menge traditioneller Sachen, ein russischer Chor, viel Keltisches, Gregorianische Choräle…“

ME/SOUNDS: Irgendwas Klassisches?

KERR: „Nein, eigentlich nicht. Mir ist selbst aufgefallen, daß ganz wenig aktuelle britische Musik dabei ist, eigentlich gar keine. Die sogenannte alternative Musikszene finde ich recht lau, ohne Soul. Am letzten Tag in England habe ich noch New Order, Miles Davis, Sting und Talking Heads gekauft.

Talking Heads sind Spitze, eine der Bands, bei denen eigentlich jedes neue Album ein ‚Wow!‘ auslöst, bis zum vorletzten Album, das war ja nicht gerade… das Gelbe vom Ei. Und dieses scheint mir auch nicht viel anders. Das ‚Road To Nowhere‘-Video ist aber fantastisch, unglaublich! Diese Band ist so verdammt clever – wahrscheinlich zu clever.“

ME/SOUNDS: Zu clever, um wirkliche Superstars zu werden.

KERR: „Oder auch zu clever, um ihre ursprünglichen Ziele weiterzuverfolgen. Dann würden sie nämlich reflektieren und folglich so beschissene Songs schreiben, wie sie schon auf ihrer neuen Platte sind. Aber „Fear Of Music“ und „Remain In Light“, besonders letzteres, ließen alles andere weit hinter sich zurück.“

ME/SOUNDS: Eine letzte Frage: Liest du viel und wenn ja, was?

KERR: „Einer meiner sieben Koffer ist voll mit Büchern – und von allen habe ich vielleicht so die ersten 30 Seiten gelesen. Soll ich ganz ehrlich sein? Die letzten sechs Monate war ich in bezug auf diese Platte schon fast neurotisch, ich hatte einfach nichts anderes mehr im Kopf. Und deshalb fiel es mir schwer, mich wirklich auf ein Buch zu konzentrieren. Ich kann im Moment tatsächlich kaum einen Film zu Ende anschauen, nicht mal den aufregendsten Reißer. Ich renne jetzt oft mitten im Film aus dem Kino und schau mir das Ende zwei Tage später an. Wenn ich weiß, daß ich eine Strophe oder irgendwas fertig machen muß, dann fällt mir alles andere sehr schwer.“

ME/SOUNDS: Kannst du noch abschalten?

KERR: „Nein, nicht bis alles vorbei ist: Die Platte gepreßt, die Videos im Kasten, die Tour durchgezogen.

Diese wird ziemlich ausgedehnt; ich möchte unterwegs viel machen, viel lesen. Ich fahre sowieso lieber mit dem Bus – da hast du ’ne Menge Zeit. Im Prinzip kannst du nur eines tun: lesen. Oder vielleicht Musik hören, zum Fenster rausschauen oder schlafen. Aber mehr nicht.“

ME/SOUNDS: Haben wir irgendein Thema nicht angeschnitten? Oder möchtest du noch irgendwas betonen oder zurücknehmen?

KERR: „Zurücknehmen? (Lacht) Ich stehe zu allem, was ich gesagt habe. Aber ich bin im Moment so energiegeladen, daß ich lieber handeln als reden will.“